Rein und unrein - Predigt zu Apostelgeschichte 10,1-2.(15b).21-35 von Thomas Bautz
10,21-35

Rein und unrein - Predigt zu Apostelgeschichte 10,1-2.(15b).21-35 von Thomas Bautz

Rein und unrein 

Liebe Gemeinde!

„In Cäsarea aber lebte ein Mann namens Kornelius, ein Hauptmann bei der sog. Italischen Kohorte; er war fromm und gottesfürchtig mit seinem ganzen Hause, tat dem (jüdischen) Volke viel Gutes durch seine Mildtätigkeit und betete (flehte) ohne Unterlass zu Gott.“

Ein römischer Hauptmann: „fromm“ und gottesfürchtig. Was aber meint „fromm“? Die lateinische Übersetzung (Vulgata) schreibt „religiosus“, hier wohl synonym mit „pius“. Diese und andere Begriffe aus der römischen Religion und Kultur bedeuten meist etwas anderes, als dies in modernen Sprachen der Fall ist.

Als exemplarisch für „pietas“ gilt der sagenhafte Stammvater Aeneas, der bei seiner Flucht aus dem brennenden Troja die Statuetten der Hausgötter und den Vater auf dem Rücken trägt und den Sohn an der Hand führt; mit ihm verbindet sich das Wort „pius“ seit Vergils Aeneis. „Frommsein“ (pius) ist bei den Römern also weniger eine Eigenschaft, sondern eher eine Grundhaltung und eine Verpflichtung zum Handeln.

Pietas deckt ein korrektes Verhältnis zu Eltern, Freunden und Mitbürgern ab, wie auch eine angemessene Haltung gegenüber den Göttern. Pietas dient als eine Form von Verteilungsgerechtigkeit, d.h. der Gerechtigkeit von Verteilungsregeln und ihren Ergebnissen; entsprechend gibt es eine Ergebnisgerechtigkeit als ein Gerechtigkeitskonzept, das solche Zustände einer Gesellschaft als gerecht definiert, in denen allen Mitgliedern der Gesellschaft der Nutzen aus der Gesellschaft („Ergebnis“) in grundsätzlich gleichem Maße zukommt.

Pietas ist Gerechtigkeit im Hinblick auf die Götter (Cicero: Über die Natur der Götter, 1.116). Dabei geht es um eine gegenseitige (reziproke) soziale Tugend, denn die Götter haben auch ihre Pflichten zu erfüllen. Pius, „Frommsein“ bedeutet also, im engeren wie auch im weiteren Umfeld der Gesellschaft - im Hinblick auf die Götter - nach Gerechtigkeit trachten.

Ich weiß nicht, inwieweit der griechisch schreibende Verfasser der „Taten der Apostel“ (Acta, Praxeis), Lukas, Religion, Kultur und Sprachgebrauch der Römer vor Augen hat. Als Arzt ist er jedenfalls gebildet genug, um diese Grundkenntnisse bei ihm voraussetzen zu dürfen.

Vom Hauptmann Kornelius erzählt Lukas, dass er in jeder Hinsicht ein frommes, gerechtes Leben führt: gesellschaftlich und religiös integer (aufrichtig, pflichtbewusst, rechtschaffen). Ich frage mich: Was fehlt diesem Menschen noch? Gibt es einen verborgenen Mangel oder gar einen Makel, der ihn vielleicht als einen unehrenhaften Mann oder gar als zwielichtige Gestalt und als Scharlatan entlarvt?

Nichts dergleichen wird von Lukas erwähnt; im Gegenteil: Kornelius ist gottesfürchtig, spendet freigiebig dem Volk Almosen und ist auch ein Mann des Gebets. Regelmäßig betet er, fleht zu „Gott“; wir wissen nicht, worum er bittet. Doch in Gestalt einer Vision wird ihm die Gewissheit zuteil, dass „Gott“ seine Gebete erhört hat; wiederum erfahren wir nicht, worin diese Erhörung besteht. Während ich noch darüber nachdenke, wie der Römer Kornelius (ein „Heide“) gebetet haben mag, lese ich eine Art Meditation über das Gebet von Yuval Lapide: „Das Herz der Kabbala“ (Sohn des leider verstorbenen Pinchas Lapide):

„Es ist aber nicht etwa so, als werde nur des Gerechten (auch des „Heiden“; Th.B.) Gebet von Gott empfangen und als sei nur dieses lieblich in seinen Augen.
 
Kein Beten ist gnadenstärker und dringt in geraderem Fluge durch alle Himmelswelten als das Beten des Einfältigen, der nichts zu sagen und nur das ungebrochene Müssen seines Herzens Gott darzubringen weiß.
 
Gott nimmt es an wie ein König das Singen der Nachtigall in der Nacht seines Gartens, das ihm süßer klingt als die Huldigung der Fürsten im Thronsaal.
 
Gott, der in die verborgenen Tiefen des Beters hinabsieht, begehrt die Einfalt und Unvoreingenommenheit des Ungeschulten und Unkundigen, weil dieser ein hohes Maß an Hingabe und anspruchsloser Echtheit, Schlichtheit und Wahrhaftigkeit demonstriert.
 
Die chassidische Legende weiß nicht genug der Beispiele für die Gunst, die dem Ungebildeten (auch dem „Heiden“; Th.B.) leuchtet, und für die Macht seines Dienstes.“

Später wird Kornelius nochmals als gerecht und gottesfürchtig vorgestellt: „ein gerechter und Gott fürchtender Mann, mit gutem Zeugnis von der ganzen Volksgemeinschaft der Juden …“. Wenn Lukas diese ehrenhafte Position vor der jüdischen Gesellschaft einfügt, führt er uns schon an die in seiner Erzählung dargestellte Problematik heran, nämlich was es einerseits damals bedeutet, wenn Juden Umgang mit „Heiden“, mit Unreinen haben, und wie absurd sich das Ganze von einer höheren Warte aus darstellt.

Nun führt Lukas Petrus als zweite Hauptperson in seine Erzählung ein. Als Jude, der Christus (Messias) als Erfüllung jüdischer Verheißungen verkündet, hält Petrus an den Speise- und Reinheitsgeboten der Tora fest. Doch in einem Traum erhält er Gottes Auftrag zur Tischgemeinschaft mit Kornelius, dem „gottesfürchtigen“ Römer.

Viele Ausleger behaupten, mit Petrus begönne die urchristliche „Heidenmission“. Sie löst zunächst Konflikte mit anderen Judenchristen aus, die von Nichtjuden das Einhalten jüdischer Gebote verlangen. Petrus verteidigt die Nichtjuden und seine Tischgemeinschaft mit ihnen damit, dass auch sie den Heiligen Geist empfangen haben. Dies müssen seine Jerusalemer Kritiker dann anerkennen.

Um die bereist erwähnte Absurdität und Unmöglichkeit vor Augen zu führen, Menschen wie Kornelius auf der einen Seite als gerecht und gottesfürchtig wertzuschätzen, auf der anderen aber Menschen wie ihn auf Grund ihrer Herkunft als „Heiden“ und Unreine auszugrenzen, wird Petrus im Traum unreines Getier gezeigt, begleitet von der Aufforderung, dieses zu schlachten und zu essen - für Petrus ein wahrer Alptraum. Doch er hört eine Stimme:

„Was Gott für rein erklärt hat, heiße du nicht gemein!“ Petrus kann sich später darauf berufen:

„Ihr wisst, wie streng es einem Juden verboten ist, Kontakt mit jemand zu haben, der zu einem anderen Volke gehört, oder gar bei ihm einzukehren. Gott hat mir aber gezeigt, keinen Menschen gemein oder unrein zu nennen.“ Seine nächste große Rede beginnt er mit dem Bekenntnis, dass er eine wichtige Lektion gelernt hat:

„Wahrhaftig, jetzt begreife ich, dass Gott keine Unterschiede macht! Er liebt alle Menschen, ganz gleich, zu welchem Volk sie gehören, wenn sie ihn nur ernst nehmen (fürchten) und tun, was vor ihm recht ist.“

Mag Petrus nach der Einschätzung des Lukas zumindest kurzfristig diese tolerante Einstellung gepflegt haben, bei Paulus lässt sich beobachten, dass er sprachlich „Heiden“ im Gegensatz zu Juden voneinander abgrenzt. Alttestamentlich bezeichnet das hebräische Äquivalent (gojim) zunächst „Völker“, „Nationen“ im neutralen Sinne. Nach dem babylonischen Exil verschiebt sich aber die Bedeutung zunehmend zu einem religiösen Verständnis; fortan versteht man aus der Sicht Israels darunter „heidnische Völker“, „die Jahwe nicht dienen, ohne die Tora leben und einen frevelhaften Lebenswandel führen“ (Ulrich Heckel).

„Schließlich fühlte man sich als das erwählte und von Jahwe geliebte Volk weit erhaben über die gojim und sah auf sie herab; es sind die Ungläubigen, die ‚Heiden‘.“ (U. Heckel)

Hinwendung („Bekehrung“) zum Judentum und zum Christentum ist zwangsläufig verbunden mit Lossagung oder Abkehr von „heidnischen“ Göttern („Götzen“), Kulten und Ritualen. Für die polytheistische römische Religion ist die Aufspaltung in „christlich“ und „heidnisch“ zum einen dennoch tragbar, zum anderen führt sie durch das separatistische Verhalten der Christen zu Irritation und Missbilligung.

Vereinfacht gesagt, kommt es im 4. Jh. durch Kaiser Konstantin d. Gr. geschicktes Taktieren zu einer Vermischung römischer („heidnischer“) religiöser Elemente und christlicher Inhalte. So dienen Konstantin die Verehrung des Sonnengottes (Helios, Sol invictus und Apollon) und der etablierte Herrscherkult zu einer Parallelisierung mit der Verehrung des unbesiegten und triumphierenden Christus.

Zunächst gibt es Christen, die an römischen, „heidnischen“ Kulthandlungen teilhaben, aber die radikale Religionspolitik Kaiser Theodosius d. Gr. verfolgt im Unterschied zu Konstantin (I.) die Zerstörung paganer („heidnischer“) Heiligtümer und Kultgegenstände. Christen wird deren Verehrung strikt untersagt. Mit der Zementierung des Christentums als Staatsreligion wächst die Intoleranz gegenüber  „Heiden“ als Andersdenkenden und Andersglaubenden.

Ich fürchte, bei dieser m.E. arroganten, ignoranten Haltung ist es (mal stärker, mal schwächer) über fünfzehnhundert Jahre hinweg bis heute geblieben. Staatsbürger, die nicht getauft, nicht konfirmiert und nicht kirchlich getraut sind, werden bis ins 20. Jh. hinein noch als Menschen zweiter Klasse, eben als „Heiden“ behandelt. Freilich bekennt sich manch ein Zeitgenosse, nicht nur ein Bürger aus den neuen Bundesländern, selbstironisch zum „Heidentum“.

Wer innerhalb der Kirchengemeinschaft sein eigenes Kind nicht taufen lässt, wird heute noch beargwöhnt. Wer in einer Kirchengemeinde seine Meinung sagt zu Gottesdienstformen, Bekenntnissätzen und Glaubensformeln, wird mit Befremden angeschaut und meist gemieden. Der „reine“ Glaube steht fest und wird kollektiv bekannt. Für individuelle oder gar kritische Anschauungen ist selten Platz.

Die Zugehörigkeit zu einer Kirche (römisch-katholisch, evangelisch, freikirchlich) wird in ihrer Bedeutung m.E. immer noch überhöht, metaphysisch übersteigert. Wenn katholische Eltern z.B. fürchten (müssen), ihr Säugling käme nicht „in den Himmel“, wenn er nicht getauft ist, walten hier dogmatische Irrlehre und magischer Aberglaube, aber auf keinen Fall die nüchterne, frohgemute Gelassenheit eines Rabbi von Nazareth:

„Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihnen ist (gehört) das Reich Gottes.“ - „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, habt ihr keinen Anteil am Reich Gottes.“

Das Königreich Gottes, das Reich der Himmel, ist (Gott sei Dank) nicht identisch mit einer der großen Kirchen, auch nicht mit allen zusammen (Alfred Loisy), auch wenn im Mittelalter das Papsttum solche Wahnvorstellungen aus Machtbesessenheit vertreten hat.

Wer in der Nachfolge Jesu steht, betet mit jedem Vaterunser: „Dein Reich komme …“; in der Kirche geschieht das sehr oft, vielleicht sogar zu häufig, weil es bei allzu viel Wiederholung an Wert verlieren könnte. Wir sollen aber auch für das Kommen des Himmelreichs arbeiten; es hört sich für mich in der Bergpredigt wie eine Lebensregel an (Mt 6,33):

„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird euch all das andere obendrein gegeben werden.“

Bergpredigt (bei Mt) und Feldpredigt (bei Lk) des Nazareners und die vielen Gleichnisse Jesu beinhalten viel Lebenspraktisches und Erbauliches, und es wundert mich, dass sie in Kirchen heutzutage eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. Das betrifft das Thema Reich Gottes insbesondere, obwohl dies beim Rabbi aus Nazareth zentral ist.

Könnte es nicht sein, dass sich dieser gottesfürchtige römische Hauptmann Kornelius, von dem Lukas erzählt, im Rahmen seiner Religion an der Gerechtigkeit orientiert hat, die auch im Judentum von entscheidendem Gewicht ist, die Jesus verkündet hat, und die das Christentum versucht zu verwirklichen?

Für das Königreich Gottes arbeiten, bedeutet auch, Menschen nicht mehr nach äußeren Kriterien, sondern nach inneren Werten zu beurteilen; das Anderssein, das Fremdsein nicht mehr als bedrohlich einzuordnen; das für mich Unverständliche nicht gleich mit Bausch und Bogen abzulehnen. Gesprächs- und Konfliktbereitschaft sind eine unverzichtbare Basis für echte, lebendige, gelebte, ungeheuchelte Gemeinschaft und größtmögliche Offenheit.

Gemeinsamkeit, vieles gemeinsam haben, gemeinsam feiern, singen, lesen, beten usw. - das ist sicher alles wunderbar, aber es könnte rein äußerlich bleiben, wenn die Grundlagen für die Gemeinschaft nicht geschaffen oder geweckt werden.

Für mich spielt auch eine große Rolle, ob eine Gemeinschaft oder besser jeder Einzelne davon wirkliches, ehrliches Interesse an einem Fremden hat, um ihm mit zweckfreiem Interesse zu begegnen. Ist mir an diesem Menschen um seiner selbst willen gelegen; bin ich für ihn so offen, dass ich ihn kennenlernen kann? Wird es zu einem echten Austausch auf Augenhöhe kommen? Bin ich bereit, etwas von ihm zu lernen oder meinen Horizont zu erweitern?

Oder möchte ich in erster Linie für die Institution Kirche werben, und alles andere ist letztlich Beiwerk, Nebensache oder gar Geplänkel? Ist dieser fremde, durchaus interessierte Mensch für mich (in bewusster Wahrnehmung oder zumindest unbewusst) ein „Heide“?!

Ich wünsche mir und allen christlichen, kirchlichen Mitarbeitern, dass die Erzählung vom Hauptmann Kornelius uns die gleiche Lektion erteilt, wie sie dem Petrus zuteil geworden ist, nämlich die Aufhebung der Unterscheidung von „reinen“ und „unreinen“ Menschen.

Ohne dass ich das näher kommentieren könnte, muss ich wiederum unwillkürlich an einen weiteren Spitzensatz aus der Bergpredigt (Mt 5,45 - im Kontext des Gebots der Feindesliebe:)  denken: „… damit ihr euch als Kinder eures himmlischen Vaters erweist. Denn er läßt seine Sonne über Böse und Gute aufgehen und läßt regnen auf Gerechte und Ungerechte.“

Im Aramäischen und Hebräischen (Jesus sprach kein Griechisch) sind solche Gegensatzpaare sprachlich sehr beliebt; so heißt es z.B. (von „Gott“): „Jakob hat er geliebt, Esau gehasst.“ Was etwa bedeutet: Den einen hat er bevorzugt, den anderen hinten anstehen lassen; Gründe zeigt der Zusammenhang. Oder (Bergpredigt) die Rede vom „guten Baum“, der gute Früchte, und vom „faulen Baum“, der faule Früchte hervorbringt; die Polarität ist natürlich nicht deckungsgleich auf Menschen anwendbar: „Niemand ist gut, außer Gott allein!“

Ergo: Kein Mensch ist weder gut noch böse, weder gerecht noch ungerecht; Menschen sind entweder mal das eine oder das andere, mal überwiegend gut oder böse, mal überwiegend gerecht oder ungerecht. In jedem Fall sollte sich jeder bemühen.

Zum Thema „unrein“ zitiere ich zum Schluss nochmals den Nazarener (Mt 15,11.17-20):

„Begreift ihr nicht, daß alles, was in den Mund hineingeht, in den Leib (Magen) gelangt und auf dem natürlichen Wege wieder ausgeschieden wird? Was dagegen aus dem Munde kommt, geht aus dem Herzen hervor, und das ist es, was den Menschen verunreinigt. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken: Mordtaten, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, Verleumdungen und Lästerungen. Das sind die Dinge, die den Menschen verunreinigen; dagegen das Essen mit ungewaschenen Händen macht den Menschen nicht unrein.“

Amen.

Literatur

Rudolf Pesch: EKK V/1. Die Apostelgeschichte (Apg 1-12) (1986), 326-342.

Wilfried Paschen: Rein und Unrein. Untersuchung zur biblischen Wortgeschichte (1970).

Ulrich Heckel: Das Bild der Heiden und die Identität der Christen bei Paulus, in: Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden, hg.v. Reinhard Feldmeier/ U. Heckel. Einl. v. Martin Hengel (1994), 269-296.

Christine Mühlenkamp: „Nicht wie die Heiden“. Studien zur Grenze zwischen christlicher Gemeinde und paganer Gesellschaft in vorkonstantinischer Zeit (2008).

John Scheid: An Introduction to Roman Religion (1998, 2003): (I) Questions of Methodology (2) Definitions, concepts, difficulties (18-29): 22ff, 26ff.

Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu (Purity and Danger, 1966; 1985, 1988).