Resilienz - Predigt zu Johannes 19,16–30 von Wilhelm v. der Recke
19,16-30

Resilienz - Predigt zu Johannes 19,16–30 von Wilhelm v. der Recke

Resilienz

I.         Zu den erstaunlichen Dingen im Neuen Testament gehört die Tatsache, dass wir es gleich mit vier Berichten über das Wirken Jesu zu tun haben. Diese Berichte unterscheiden sich deutlich voneinander, ohne dass sie sich im Kern widersprechen. Das gilt auch für die Passions- und Ostergeschichten. Wenn wir an den letzten Weg des Jesus von Nazareth denken, steht uns meistens das Bild vor Augen, das von den ersten Evangelien geprägt ist. Das Bild vom Schmerzensmann, der gequält und verprügelt, bespuckt und verspottet wird. Seine Gegner demütigen ihn nach Kräften. Die Soldaten treiben ihr Spielchen mit ihm. Seine Freunde geraten in Panik und fliehen. Selbst an seinem Vater im Himmel beginnt Jesus zu zweifeln.

Das Vierte Evangelium zeigt ein anderes Bild, und das steht im NT gleichberechtigt neben den anderen. Jesus wird auch verraten und im Stich gelassen, er wird gefangen genommen, in einem Eilprozess auf Grund von falschen Zeugenaussagen verurteilt und ans Kreuz gebracht. Aber er lässt das souverän mit sich geschehen, Jugendliche würden sagen: Er bleibt cool. Es klingt so, als ob ihn das nicht wirklich berührt, als ob es ihn nicht im Inneren erschüttern kann. Auch als Opfer bewahrt er Haltung. Johannes dramatisiert die Passionsgeschichte nicht. Sachlich, beinahe distanziert berichtet er von den einzelnen Stationen auf dem letzten Weg von Jesus.

II.        Im 19. Kapitel des Johannesevangeliums wird berichtet, wie der römische Gouverneur den angeklagten Mann aus Nazareth wider besseres Wissen zum Tode verurteilt. Dann heißt es weiter:

(Es folgt die Lesung Joh. 19, 16–30).

Die Soldaten teilen seine wenigen Kleidungsstücke unter sich auf, sie machen vier Teile daraus. Auch der Evangelist macht vier Teile aus seinem Bericht über die letzten Stunden von Jesus, und es klingt so, als habe es kaum mehr als 20 Minuten gedauert.

Der 1. Teil ist sozusagen der offizielle Akt. Das Urteil wird vollstreckt. Jesus trägt selbst sein Kreuz auf den Hügel von Golgatha, und keiner muss ihm dabei helfen. Wie bei den Römern üblich hat er den Querbalken auf der Schulter, während der senkrechte Pfahl schon an Ort und Stelle in den Boden gerammt ist. Zwischen zwei Verbrechern wird Jesus gehängt. Oberhalb seines Kopfes wird ein Zettel befestigt, auf dem steht, um wen es sich hier handelt und warum er so bestraft worden ist – angeblich ein Aufständischer, einer der behauptet, der König der Juden zu sein.

Im 2. Teil geht es um die paar Sachen, die Jesus geblieben sind. Sowenig das ist, darauf haben die Soldaten einen Anspruch.

Dabei kann Jesus nur zusehen, soweit ihn das überhaupt noch interessiert. Im 3. Teil aber ergreift er die Initiative. Es geht ihm um die wenigen Menschen, die ihm nahe stehen und die ihm hierher gefolgt sind. Das sind insbesondere seine Mutter und der sog. Lieblingsjünger. Beide weist er eindringlich aufeinander.

In der 4. Szene geht es um Jesus selbst, um seine letzten menschlichen Bedürfnisse. Er hat Durst, wahrscheinlich wahnsinnigen Durst, denn er ist seit Stunden nackt der Sonne ausge­setzt. Die Soldaten machen keine großen Umstände, sie kennen das, und deshalb steht ein Krug mit einem Essiggetränk bereit. Mit Hilfe eines Schwammes an einem langen Stock bekommt er zu trinken. Dann stirbt er bei vollem Bewusstsein. Es ist vollbracht, sagt er und lässt den Kopf zur Seite sinken.

III.      Eine erstaunlich nüchterne Beschreibung seiner letzten Lebensstationen, wenn man daran denkt, um wen es sich hier handelt. Im Gegensatz zu den religiösen Autoritäten in Jerusalem ist ja der Evangelist Johannes davon überzeugt, dass es nicht um irgendeinen übergeschnappten Wander­prediger geht, sondern um den Messias, den lange angekündigten und von vielen brennend erwarteten Retter, den Sohn Gottes. Wenn man sich diesen Bericht genauer ansieht, ist er allerdings keineswegs so sachlich und banal, wie es zunächst erscheint. Er ist geradezu doppelbödig:

Pilatus lässt einen Aushang über dem Kopf Jesu am Kreuz anbringen. Aber es ist kein reiner Verwaltungsakt. Er hat sich über die Hohenpriester geärgert, weil er das Todesurteil unter ihrem Druck gefällt hat. Nun zahlt er es ihnen heim, denn die Inschrift lautet: Jesus von Nazareth der König der Juden. Pilatus meint das ironisch, und er weiß gar nicht, wie recht er hat – Jesus ist ja tatsächlich ein König, der Messias. Er geht hervor aus dem jüdischen Volk, aber er hat einen universellen Anspruch. Der wird unfreiwillig damit dokumentiert, dass die Inschrift in der hebräischen Landessprache, in der römischen Verwaltungssprache und der griechischen Weltsprache verfasst ist.

Doppelbödig ist auch die zweite Szene. Man könnte meinen, mit dem in einem Stück gewebten Rock sei ein Umhang gemeint. Tatsächlich handelt es sich um das Untergewand. Das heißt, die Oberbekleidung kann zerschnitten und verteilt werden, was darunter ist bleibt intakt, es ist unzerstörbar. Dabei ist sicher auch an die Person, an Jesus gedacht: Äußerlich gesehen ist er geschunden und böse zugerichtet, aber innerlich ist er unantastbar. Sie können ihn nicht kaputt machen.

Auch die dritte Szene sagt zwischen den Zeilen mehr, als oberflächlich zu lesen ist. Man kann sich doch fragen, warum sich ein Jünger um Jesu Mutter kümmern soll. Er hat doch leibliche Geschwister, Brüder, die vermutlich sowieso besser für ihre Mutter sorgen können als der besitzlose Wander­prediger Jesus. Was also ist gemeint? Weder hier noch anderswo im NT wird der Lieblingsjünger mit einem bestimmten Jünger, z. B. Johannes, gleichgesetzt. Kluge Ausleger haben das so verstanden, dass mit Maria die Christen gemeint sind, die von Hause aus Juden sind, mit dem Lieblingsjünger aber die sog. Heidenchristen – also jene Christen, die aus den Völkern rings ums Mittelmeer kommen und von Paulus und anderen Missionaren vom christlichen Glauben überzeugt worden sind. Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Unmittelbar vor seiner Verhaftung spricht Jesus das sog. Hohepriesterliche Gebet. Darin bittet er Gott um die innere Einheit, um die Geschwisterlichkeit aller Christen, auch jener, die einmal durch die Mission dazu kommen werden.

Schließlich die vierte Szene. Stundenlang hat Jesus unter großen Schmerzen in der sengenden Sonne gehangen. Das Einzige, was von diesem schrecklichen langsamen Sterben berichtet wird, ist, dass er Durst hat. Das trifft sicher zu, aber ist es wirklich das Einzige von Bedeu­tung? Vermutlich handelt es sich auch hier um ein Missverständnis von denen, die dabei sind, aber nicht verstehen, was vor ihren Augen passiert. So ist es häufig bei Johannes. Wenn Jesus in diesem Moment von Durst spricht, dann betet er wahrscheinlich mit biblischen Worten, die ihm geläufig sind, wie etwa dem 42. Psalm: Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue? Ja, es geht zu ende. Es ist vollbracht, sagt Jesus. Nicht mehr lange, und er wird seinen himmlischen Vater von Ange­sicht zu Angesicht sehen.

IV.      Wenn wir uns an die Passionsgeschichte des Johannes halten, so ist Jesus die ganze Zeit über erstaunlich gefasst. Selbst in der schlimmsten Demütigung bleibt er er selbst. Äußerlich gesehen wird er zerstört, innerlich können sie ihm nichts anhaben. Nicht einmal der Tod kann ihn vertilgen. Dank seines himmlischen Vaters überwindet er auch diese letzte Barriere irdischer Macht und Gewalt. Ein starker Jesus.

Andere neutestamentliche Zeugen haben das anders gesehen. Sie haben Jesus als den Schwachen erlebt, dem nichts Menschliches fremd ist, der alle Niedertracht – zu der Menschen in der Lage sind – am eigenen Leib erfahren hat. Der daran fast zerbricht. Der nahe daran ist, auch an Gott irre zu werden. Das ist der Mitfühlende, der Mitleidende. Der uns nahe ist wie ein Freund und Bruder, der uns versteht wie kein anderer Mensch.

Johannes bestreitet das nicht, aber ihm ist wichtig, eine andere Seite an Jesus herauszustellen: Jesus, das ist der, der konsequent seinen Weg geht. Der immer in engem Kontakt zu seinem himmlischen Vater steht. Der alle Misserfolge wegstecken kann, der den Anfeindungen trotzt und die Anfech­tungen besteht; sie prallen geradezu an ihm ab. Jesus, der Standhafte, der Fels in der Brandung. Ja, das ist einer, der Halt gibt, auf den man sich verlassen kann.

Er verfügt über einen unantastbaren Kern, eine Stärke, die von Innen kommt. Diese Kraft schöpft er aus dem unbedingten Vertrauen zu seinem himmlischen Vater. Er kommt von Gott, er kehrt zurück zu Gott, und nie reißt das Band ab, das beide verbindet. Er weiß sich getragen und gehalten. Deshalb kann er seine Mission erfüllen und kompromisslos für die gute Sache eintreten, die Gott ihm anvertraut hat.

Diese unzerstörbare innere Kraft, dieses seelische Immunsystem bezeichnen Psychologen heute als Resilienz. Jesus verfügt über diese Resilienz. Er tut es, weil er Gott bedingungslos vertraut. Er weiß sich mit ihm eins. – Und er möchte, dass auch wir mit ihm eins sind. Dass wir es ihm gleichtun. Er möchte, dass auch wir Gott bedingungslos vertrauen. Das ist sein eigentliches Anliegen. Und das können und sollen wir von ihm lernen. Gott aber ist weit weg, geradezu abstrakt. Aber Jesus ist greifbar. Wir wissen von ihm, wir kennen ihn, an ihn sollen wir uns halten. Wie er es getan hat, so können wir es auch machen. Er ist seinen Weg auf Erden exemplarisch gegangen. Er hat ihn auch für uns frei gemacht, er hat ihn gangbar gemacht. Uns hat er gemeint, wenn er sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Durch ihn kommen wir zum Vater.

V.        Jesus lehrt uns – nein, er gibt uns das Urvertrauen. Normalerweise sprechen wir von Glauben. Man kann es auch Resilienz nennen, diese nahezu unerschütterliche innere Kraft, ein seelisches Immunsystem. Das macht es uns möglich, zuversichtlich unseren Weg zu gehen – in guten und in bösen Tagen, im Leben und im Sterben.

Heute am Karfreitag haben wir uns unter dem Kreuz Jesu versammelt. Es ist und bleibt ein böser Tag, der uns immer neu bewusst macht, wozu Menschen fähig sind. Was sie anderen Menschen zufügen und was sie selbst erleiden. Aber es ist und bleibt auch ein guter Tag, ein Tag der Hoffnung, einer unzerstörbaren Hoffnung.