Saure Trauben - Predigt zu Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32 von Michael Nitzke
18,1-4.21-24.30-32

Saure Trauben - Predigt zu Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32 von Michael Nitzke

Saure Trauben

Liebe Gemeinde,

"Morgenstund hat Gold im Mund." Ja, die meisten von Ihnen können sich bei diesen Worten jetzt bequem in der Kirchenbank zurücklehnen. Sie sind früh aufgestanden, haben am Sonntag, die richtige Entscheidung getroffen und sind zur Kirche gegangen, um den Gottesdienst zu erleben.

Für viele Leute ist ja der Sonntag, der einzige Tag, an dem sie meinen, mal richtig ausschlafen zu können, aber denen halten wir entgegen: "Der frühe Vogel fängt den Wurm."

Vielleicht haben sich auch manche wieder die Decke über den Kopf gezogen, während Sie das Haus Richtung Kirche verlassen haben. Das sind diejenigen, für die der frühe Vogel nur jemand ist, der ihnen mit seinem Gezwitscher am frühen Morgen den Schlaf raubt. "Lass ihn reden!", denken Sie, "Jeder Vogel zwitschert so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist."

Manch einer denkt nun vielleicht in seiner Kirchenbank: "Was ist der Pastor denn heute für ein komischer Vogel. Er predigt in Sprichwörtern! Mit dem ist bestimmt heute nicht gut Kirschen essen. Er sollte mal lieber das machen was, sich auf der Kanzel gehört, und aus der Bibel predigen. Also: Schuster, bleib bei deinem Leisten. Aber die Kirschen aus Nachbars Garten schmecken ihm wohl heute besser."

In Ordnung! Ich gelobe Besserung!

Der heutige Predigttext steht beim Propheten Hesekiel im  18. Kapitel:

1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? 3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel....

Entschuldigen Sie bitte, dass ich unterbreche, also das Sprichwort steht da wirklich drin, das war ich jetzt nicht. Aber Gott hat von diesem Sprichwort wohl auch genug. Und er macht es auch mit starken Worten deutlich: 3 (GNB) So gewiss ich, der HERR, lebe: Niemand von euch, niemand in Israel wird dieses Wort noch einmal wiederholen!

Das hat gesessen, da gab es wohl einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Niemand soll dieses Sprichwort noch mal sagen! Wie hieß es noch gleich? »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«?

Ich würde ja auch lieber süße Trauben essen, doch die hängen ja bekanntlich meistens zu hoch.

Ja, mit Sprichwörtern wurde auch damals schon mache Rede gewürzt. Aber warum ist gerade dieses damals verboten worden? Und stimmt das überhaupt? Bekommt man von sauren Trauben stumpfe Zähne? Das Stumpfsein ist sicher nur so ein Gefühl. Wahrscheinlich hat man so einen komischen Geschmack von der Säure im Mund, dass sich die Zähne pelzig anfühlen. Aber, dass das über Generationen hinweg funktioniert? Dieser Geschmack im Mund ist doch nicht erblich, so dass die Kinder immer noch ein komisches Gefühl im Mund haben.

Nun, das ist gerade das Problem, denn die Sache, die hier vom Propheten Hesekiel verhandelt wird hat einen schalen Geschmack, und zwar mehr, als das berühmte "Geschmäckle", von dem heute so gerne geredet wird.

Anders gesagt, das mit den sauren Trauben und den stumpfen Zähnen bedeutete eigentlich, dass die Kinder die Suppe auslöffeln mussten, die die Eltern ihnen eingebrockt haben. Ja, und das geht ja eigentlich nicht. Damit soll Schluss sein. Es muss doch wohl jeder einsehen, dass jeder vor seiner eigenen Türe kehren muss.  Die Strafe folgt doch normalerweise auf den Fuß! Warum muss das Kind das ausbaden, was der Vater falsch gemacht hat?

Genau damit soll ja auch Schluss sein, jeder muss für seine eigenen Fehler einstehen.

Nachdem wir das geklärt haben, könnte es nun weitergehen im Text. Also:

3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. 4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben....

Oh, jetzt wird es schwierig. Gerade dachten wir noch: 'Gut, dass man sich nicht zum Sklaven von Sprichwörtern machen muss!', und jetzt ist hier von Sterben die Rede, und wieder werden Väter und Söhne in einen Topf geworfen.

Ja, es ist nicht einfach, Texte, die 2.500 Jahre alt sind, heute einfach so zu verlesen. Manche Reizwörter, verlocken uns zum inneren Abschalten. Wieso sterben? Heute muss keiner mehr sterben, nur weil er mal was falsch macht.

Gut, jeder muss für seine eigenen Fehler gerade stehen, und das verantworten, was er tut und lässt. Und dann muss er im Extremfall auch eine Strafe auf sich nehmen.

Ja, und genau das will Hesekiel hier seinen Hören sagen: Gott will keine Sippenhaft. Niemand soll für die Sünden der Väter büßen. Jeder muss aus seinen eigenen Fehlern klug werden. Genau das sollen diese Worten ausdrücken, die sich so schlimm anhören. Heute muss bei uns jedenfalls keiner mehr für seine Vergehen sterben, wenn es nach Recht und Gesetz geht. Er muss aus seinen Fehlern lernen, und wieder in die Spur kommen, wenn er auf die schiefe Bahn geraten ist. Diese Erkenntnis lesen wir ja öfter in der Bibel, allerdings nicht an dieser Stelle. Aber spätestens bei der Geschichte vom verlorenen Sohn, die heute in der Evangeliums­lesung dran war, merken wir ja, dass keiner mehr für seine Dummheiten sterben muss, und jeder die Chance hat zurückzukommen. - Also weiter im Text:

21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. 22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat....

Na also, es geht doch. So hören wir die Worte des Propheten gerne:  22(GNB) All das Böse, das er früher getan hat, wird ihm nicht angerechnet. Weil er danach das Rechte getan hat, bleibt er am Leben. Und es geht auch noch so versöhnlich weiter:

23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? ...

Ja, unser Gott ist ein Gott der Lebenden. Der, der das Leben geschaffen hat, freut sich nicht an dem Tod. Er möchte wirklich seine Kinder lebendig sehen. Deswegen will er nicht, dass die Kinder für die Sünden ihrer Väter büßen müssen. Deshalb will er, dass jeder für sich verantwortlich lebt, und dabei sein Tun und dessen Folgen bedenkt.

Hören wir, wie es weiter geht:

24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.

Da ist es wieder dieses unschöne Wort. Droht uns Gott doch mit dem Tod? Ist die schwarze Pädagogik früherer Zeiten, denn immer noch nicht aus den Predigttexten verschwunden? Ja, auch wenn wir sagen, "Gott meint das nicht so! Er sagt es nur so, damit die Menschen auf den richtigen Weg kommen.", auch dann fragt man sich, ob das heute noch der richtige Weg ist, so mit dem Thema umzugehen. Aber man muss hier einfach noch mal an die zweitausendfünfhundert Jahre denken, die zwischen diesem Text und uns liegen. Früher war auch die Erwartungshaltung des Zuhörers eine andere. Man war ja damals bereit, die Kinder für die Sündern der Eltern verantwortlich zu machen, denken wir an die sauren Trauben der Väter und die stumpfen Zähne der Kinder. Und man wollte auch harte Strafen sehen. Vielleicht lag das auch daran, dass die Wirklichkeit oft eine andere war. Auch das spiegeln Texte aus dieser Zeit vor 2.500 Jahren wieder. In einem Psalm heißt es:

Siehe, das sind die Gottlosen; die sind glücklich in der Welt und werden reich. Soll es denn umsonst sein, dass ich mein Herz rein hielt und meine Hände in Unschuld wasche? (Ps 73, 12-13)

Es ist nicht einfach der Neid der Besitzlosen, der ein hartes Handeln an den Begüterten fordert. Es ist das Gefühl, dass es sich nicht lohnt, ein guter Mensch zu sein, wenn es den Bösen doch so gut geht. Wer sich diese Stellen über die Gottlosen in den Psalmen einmal näher anschaut, der sieht, dass Gott geradezu bedrängt wird, mit diesen Menschen ein Ende zu machen. Und auch heute gibt es viele Menschen, die sagen: "Warum bemühe ich mich ein guter Mensch zu sein, wenn es den Skrupellosen, doch so viel besser geht?" Und wir erwischen uns manchmal selbst bei solchen Gedanken. Aber es hilft nicht, heimlich zu denken: "Rübe runter!" Ich muss sehen, dass ich auch selbst ständig in Gefahr bin, den Weg der Tugendhaften zu verlassen. Und das kann schon dann geschehen, wenn ich einem Böses an den Leib wünsche, auch wenn ich selbst gar nichts Böses tue.

"Selbsterkenntnis ist der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung.", sagt der Volksmund. Deshalb muss ich auch wirklich bei mir selbst beginnen. Und da hilft mir der sprichwörtliche Ausdruck unseres Herrn Jesus Christus schon sehr. Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst. (Mt 7,5) Ich kann nicht immer nur die Schuld bei anderen suchen. Ich will nicht für die Schuld meiner Vorväter büßen müssen, aber ich will auch nicht deren Fehler selbst wiederholen. Darum schaue ich auf mich, und versuche mein Verhältnis zu Gott in Ordnung zu bringen. Und die anderen Menschen, die kann ich getrost der Obhut Gottes überlassen, der da sagt: 23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?

Wir sollten versuchen, auf Gottes Güte zu vertrauen, und aufhören, ihm Vorschriften zu machen. Er findet einen Weg, seine Geschöpfe auf den rechten Weg zu leiten. Er findet einen Weg ganz gewiss, denn Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden. (Mt 22,32) 

Und jetzt versuche ich mit der Lesung des Predigttextes einmal zu Ende zu kommen:

30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. 31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? 32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

Ja, Gott will uns nicht alle über einen Kamm scheren. Er sieht jeden einzelnen an. Und jeder hat eine Chance, und nicht nur eine. 31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Fangt neu an, Gott gibt euch die Möglichkeit dazu. Und wenn ihr selbst der Überzeugung seid, dass ihr gar nicht neu anzufangen braucht, weil ihr mit frohem Herzen auf dem richtigen Weg seid, dann reicht anderen die Hand. Und ladet sie ein, mit auf diesem Weg zu gehen. Oder helft ihnen, ihren eigenen Weg zu finden.

Erschwert ihnen nicht die Suche nach einem eigenen Weg! Sondern seht auch sie alle als Geschöpfe eures Gottes an, der will, dass sie leben, und zwar glücklich leben! So, wie ihr es auch wollt!

Nun, wer alles dies schon beherzigt, der kann sich nach dem Kirchgang zum Mittagsschlaf auf sein sanftes Ruhekissen legen, und sich an seinem guten Gewissen freuen.

Doch vielleicht wird der Schlaf, dann doch nicht ganz so ruhig, wie erhofft. Denn manches bricht sich auf diesem Kissen trotz guten Gewissens dennoch Bahn. Denn: "Alles, was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe."1 So schreibt Elias Canetti in unserer Zeit. (Und der heute oft bemühte Volksmund bestätigt es mit den Worten: "Ich will dir's vergeben - aber nicht vergessen."

Hatte nicht Gott selbst, der so manches Sprichwort nie mehr hören will, gesagt, dass er vergessen will? Er sprach doch durch den Propheten: 21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, [...] 22 [...] soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden.

An manches Schöne wollten wir immer denken, doch schnell ist es aus den Augen, aus dem Sinn. Und bei manchem gilt, was Francesco Petrarca vor fast 700 Jahren schrieb: "Keine Wunde ist in mir so vernarbt, dass ich sie ganz vergessen könnte."2

Wunden brauchen Zeit zu heilen. Und nach Jahren sieht man manche Wunde kaum noch. Ob die Zeit wirklich alle Wunden heilt, vermag ich nicht zu sagen, aber vielleicht kann man den Heilungsprozess befördern, indem man nicht allzu oft den Finger in die Wunde legt. Eine kleine Geschichte, die ich gefunden habe, mag dabei helfen:

»Zwei Freunde wanderten durch die Wüste. Während der Wanderung kam es zu einem Streit und der eine schlug dem anderen im Affekt ins Gesicht.

Der Geschlagene war gekränkt. Ohne ein Wort zu sagen, kniete er nieder und schrieb folgende Worte in den Sand: "Heute hat mich mein bester Freund ins Gesicht geschlagen."

Sie setzten ihre Wanderung fort und kamen bald darauf zu einer Oase. Dort beschlossen sie beide, ein Bad zu nehmen. Der Freund, der geschlagen worden war, blieb auf einmal im Schlamm stecken und drohte zu ertrinken. Aber sein Freund rettete ihn buchstäblich in letzter Minute.

Nachdem sich der Freund, der fast ertrunken war, wieder erholt hatte, nahm er einen Stein und ritzte folgende Worte hinein: "Heute hat mein bester Freund mir das Leben gerettet."

Der Freund, der den anderen geschlagen und auch gerettet hatte, fragte erstaunt: "Als ich dich gekränkt hatte, hast du deinen Satz nur in den Sand geschrieben, aber nun ritzt du die Worte in einen Stein. Warum?"

Der andere Freund antwortete: "Wenn uns jemand gekränkt oder beleidigt hat, sollten wir es in den Sand schreiben, damit der Wind des Verzeihens es wieder auslöschen kann. Aber wenn jemand etwas tut, was für uns gut ist, dann können wir das in einen Stein gravieren, damit kein Wind es jemals löschen kann."«3

Hoffen wir, dass ein solcher Wind des Verzeihens gemeinsam mit dem Geist Gottes weht, und uns hilft, dass uns nicht selbst jahrelang die Zähne stumpf bleiben, weil wir nicht von den sauren Trauben lassen konnten. Gott will, dass seine Geschöpfe leben. Aber wir unternehmen oft große Anstrengungen, uns das Leben schwer zu machen. Dass der Weg zurück nicht leicht ist, wusste auch schon - erlauben Sie mir ein letztes Zitat - Mahatma Gandhi: „Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.“4  Amen.

Anmerkungen:

1 Elias Canetti, Die Provinz des Menschen: Aufzeichnungen 1942–1972. München: Hanser, 1973, S. 269

2 Francesco Petrarca, Gespräche über die Weltverachtung / Franciscus, zitiert nach (abgerufen am 28.6.2014): http://de.wikiquote.org/wiki/Francesco_Petrarca

3 (Verfasser unbekannt) zitiert nach (abgerufen am 28.6.2014): http://regenbogenklang.gmxhome.de/t3o.htm

4 Mahatma Gandhi zitiert nach (abgerufen am 28.6.2014): http://zitate.net/mahatma%20gandhi.html