Sehen und Erkennen - Predigt zu Johannes 9, 35-41 von Sibylle Reh
9,35

Sehen und Erkennen - Predigt zu Johannes 9, 35-41 von Sibylle Reh

Sehen und Erkennen
Liebe Gemeinde, dieser Predigttext ist Teil einer ausführlichen Wundergeschichte im Johannesevangelium.
Jesus begegnet einem Blindgeborenen und heilt ihn. Die Heilung löst eine Debatte aus unter den Nachbarn und den Pharisäern, die die Synagogengemeinde leiten. An dieser Debatte ist Jesus nicht direkt beteiligt. Am Ende der Debatte folgt der Ausschluss des Geheilten aus der Synagogengemeinde. An dieser Stelle beginnt der Predigttext:
Johannes 9, (35) Jesus hörte, dass sie ihn hinausgeworfen hatten; und als er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an den Sohn des Menschen?(36) Er antwortete und sprach: Und wer ist es, Herr, dass ich an ihn glaube?(37) Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist es.(38) Er aber sprach: Ich glaube, Herr. Und er warf sich vor ihm nieder.(39) Und Jesus sprach: Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden.(40) Einige von den Pharisäern, die bei ihm waren, hörten dies und sprachen zu ihm: Sind denn auch wir blind?(41) Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde. Nun aber sagt ihr: Wir sehen. [Daher] bleibt eure Sünde.
Ich möchte zunächst mit einem bekannten Lied von Klaus Hoffmann beginnen:
Klaus Hoffmann – „Blinde Katharina“
„Sie trägt auf ihrem Kleide
  Phosphorfarben für die Nacht,
  für sie ist immer Schweigen,
  ob sie redet oder lacht.
  Ihre Augen sind die Hände,
  sie erkennt dich durchs Gehör,
  in ihrer Welt sind viele Wände,
  die sieht sie bloß nicht mehr.
  
  Katharina mach mir Mut und halte mich,
  gibt's morgen auch kein Wiedersehen,
  ich bin doch der Blinde darum führe mich,
  du kannst im Dunkeln gehn.
  Nur weil ich vermute, daß ich sehend bin,
  brauch' ich doch nichts erkennen.
  Komm wir schmeißen einfach alle Regeln hin,
  du zeigst mir, wie man sieht…“
  (1976 aus dem Album: „was bleibt“ von Klaus Hoffmann)
Dieses Lied von der „blinden Katharina“ von Klaus Hoffman, ist liebevoll, aber nicht frei von Vorurteilen und Klischees.
So heißt es in der letzten Strophe:
„Blinde sind wie Kinder,
  deren Herzen man zerbricht,
  sie wollen auch im Winter
  nur ans Licht, nur ans Licht.“ (ebd.)
Es gibt eine Menge Blinde und Sehbehinderte in diesem Land, auf die das überhaupt nicht zutrifft. Es gibt zum Beispiel Blinde, die sich in unserer komplizierten Berufswelt durchsetzen und sich aufgrund ihrer Leistungen Respekt verschaffen. Niemand würde auf die Idee kommen, in ihnen mehr Kindliches zu vermuten als in jedem anderen auch. Es gibt auch Blinde, die es nicht schaffen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, aber auch die sind nicht mehr wie Kinder als andere Menschen auch.  
Der Blindgeborene, dem Jesus begegnet, hatte allerdings keine Chance, sich so zu entwickeln. Es gab zu seiner Zeit keine Chance für ihn. Es gab noch keine Blindenschrift und erst recht keine Computer mit Sprachausgabe. Er konnte keinen Beruf erlernen, sondern er blieb im Haus seine Eltern wohnen und bestritt seinen Lebensunterhalt durch Betteln. Und dann war da noch das gesellschaftliche Ansehen seiner Blindheit. In der damaligen Gesellschaft war seine Blindheit für viele die Folge einer Sünde, die er oder seine Eltern begangen hatten. Das war nicht offizielle Lehre des Judentums, im Gegenteil, im Alten Testament und den Spätschriften, die in der Zeit zwischen den Testamenten entstanden, gibt es Geschichten von Menschen, die mit Unglück, Krankheit und Blindheit geschlagen wurden, obwohl sie als gerecht und gottesfürchtig galten. Hiob und Tobit sind die Bekanntesten. Aber der Glaube, dass Unglück und Behinderung ihre Ursprünge in Unreinheit und Sünde hätten, war im Volk so tief verwurzelt, das Jesus diesen Blinden heilte, um dieser Vorstellung entgegenzuwirken. Und gerade die Pharisäer, die sich ja sehr viele Gedanken darüber machten, was rein und was unrein sei, waren anscheinend zur Zeit Jesu nicht frei von der Vorstellung, Blindheit habe etwas mit Sünde und Unreinheit zu tun.
Der Blinde erfuhr nun das erste Mal in seinem Leben Aufmerksamkeit, als er seine Geschichte mit Jesus erzählte. Er durfte seine Meinung sagen. Aber diejenigen, die das Sagen hatten in der Synagoge, waren trotzdem nicht zu überzeugen. Sie verhielten sich nach dem Motto, was nicht sein darf, das kann auch nicht sein. Sie hatten sich entschieden, Jesus nicht als den erwarteten Messias anzuerkennen, und deswegen durfte auch die Wunderheilung keine sein.
 Sie befragten den Geheilten und seine Eltern ausführlich. Aber als dieser bei seiner Geschichte blieb, schlossen sie ihn aus der Gemeinschaft aus.
Dieser Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft war eine Erfahrung, die die ersten Leser des Johannesevangeliums mit dem Geheilten gemeinsam hatten. Denn das Johannesevangelium ist wahrscheinlich in seiner heutigen schriftlichen Form spät entstanden und fällt in die Zeit der für die junge christliche Gemeinde schmerzlichen Trennung des Christentums vom Judentum. Die ersten Leser des Johannesevangeliums konnten sich also sehr gut in den Geheilten und seine Auseinandersetzung mit den jüdischen Autoritäten hineinversetzen.
Der Geheilte indes hatte es erst mal schwer, kaum war er durch die Wunderheilung endlich in die Gemeinschaft aufgenommen, verlor er sie wieder durch den Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft.
Aber die Geschichte endete dort nicht. Jesus verließ ihn nicht. Nachdem Jesus gehört hatte, dass man ihn ausgeschlossen hatte, suchte und fand er ihn.
Nachdem der Geheilte Jesus als den Menschensohn bekannt hatte, war er im Sinne Jesu sehend, während diejenigen unter den Pharisäern, die ihn nicht anerkannten, als die Blinden und die Sünder dastanden.
Jesus drehte mal wieder alles um.
Die Pharisäer galten damals als frei von Sünde, weil sie sich an die Gebote hielten, und vor allem als sehend, weil sie sich in der Heiligen Schrift auskannten und sie auslegen konnten. Der Blindgeborene war nach damaligem Verständnis in Sünde geboren und im wörtlichen und übertragenen Sinne blind. Er konnte nicht sehen, und er verstand nichts von der Heiligen Schrift, da er sie ja nicht lesen konnte.
Jesus hat den Blinden geheilt und als frei von Sünden erklärt. Er machte ihn im doppelten Sinne sehend. Der Geheilte konnte sehen und er erkannte in Jesus den Erlöser.
Im Gegenzug wurden die Pharisäer im Verständnis des Johannesevangeliums blind und sündig. Blind, weil sie in Jesus den Erlöser nicht sehen konnten, und sündig, weil sie mit ihrer Kenntnis der Heiligen Schrift Jesus hätten erkennen müssen.
Es passiert nun manchmal, wenn man in der Bibel liest, im Alten wie im Neuen Testament: Gott, bzw. Jesus stellt alles auf den Kopf, bzw. was vorher auf dem Kopf stand, stellt er wieder auf die Füße.
Ehrlich gesagt, wenn Jesus heute käme, wen würde er aufnehmen, wen als blind dastehen lassen? Ab hier ist es gefährlich. Es ist so leicht, als Predigerin jetzt mit dem Finger auf irgendjemand zu zeigen, die Politik oder die Kirchenleitung, und zu sagen: „Ihr seid die Pharisäer, ihr seht die Zeichen der Zeit nicht.“ Bloß Die Sache hat einen Pferdefuß: Sobald ich den Finger hebe und auf jemand anderen zeige, bin ich selbst ein Pharisäer im Sinne des Textes, der behauptet, er sei sehend und laufe in Gefahr blind zu werden.
Wie heißt es bei Klaus Hoffmann:
„Nur weil ich vermute, daß ich sehend bin,
  brauch' ich doch nichts erkennen.
  Komm wir schmeißen einfach alle Regeln hin,
  du zeigst mir, wie man sieht.“ (ebd.)
Anmerkung: Den gesamten Songtext von Klaus Hoffmann findet man im Internet, z.B. unter: http://www.klaus-hoffmann.com/?kat=12
Das Lied, gesungen von Klaus Hoffmann finden Sie z.B. unter:
  http://www.youtube.com/watch?v=0J1K88BYq-M     oder
  http://www.youtube.com/watch?v=x9R3hVD5yTg