In seiner Hand sind die Tiefen der Erde
95,1-8a

In seiner Hand sind die Tiefen der Erde

Ich lese als Predigtwort die Verse 1 bis 8 aus dem 95. Psalm, dem Wochenpsalm für die am Sonntag beginnende Woche Rogate:

 

Kommt herzu, lasst uns dem Herrn frohlocken

und jauchzen dem Hort unseres Heils!

Lasst uns mit Danken vor sein Angesicht kommen

und mit Psalmen ihm jauchzen!

Denn der Herr ist ein großer Gott

und ein König über alle Götter.

Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde,

und die Höhen der Berge sind auch sein.

Denn sein ist das Meer, und er hat´s gemacht,

und seine Hände haben das Trockene bereitet.

Kommt, lasst uns anbeten und knien

und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat.

Denn er ist unser Gott,

und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand.

Wenn Ihr doch heute auf seine Stimme hören wolltet. Verstockt euer Herz nicht…“

(Psalm 95, 1-8a – Wochenpsalm zum Sonntag Rogate)

 

 

Liebe Gemeinde!

Heute ist ein Tag der Dankbarkeit. Denn heute vor 70 Jahren, am 8. Mai 1945, endeten – mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht – die Gewaltherrschaft der NS-Diktatur und der Zweite Weltkrieg in Europa. Die Zahl der Opfer, die dieser Krieg weltweit gefordert hat, lässt sich nur schätzen: Um die 80 Millionen Tote, ungezählte Verwundete an Leib und Seele, Vertriebene, Witwen und Waisen.

Heute ist ein Tag der Dankbarkeit. Denn heute vor 50 Jahren, zum 20. Jahrestag des Kriegsendes, wurde der Grundstein der Versöhnungskirche gelegt, in der wir heute zusammen Gottesdienst feiern. Sie ist hier, auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau, zu einem Symbol der Verbundenheit mit den Opfern, einem Ort des Erinnerns und der Umkehr geworden.

Heute ist ein Tag der Dankbarkeit. Aber ist deswegen heute auch ein Tag des Frohlockens, und des Jubelns, wie es der Wochenpsalm für die kommende Woche Rogate intoniert? "Kommt herzu, lasst uns dem Herrn frohlocken und jauchzen dem Hort unseres Heils!" – So beginnt der 95. Psalm. Können wir an einem Tag wie dem heutigen frohlocken, können wir an einem Ort wie diesem jauchzen?

Zwei Bibelworte werden hier, in der Versöhnungskirche, sichtbar. Und beides sind Psalmverse: Von der Zuflucht, die wir unter Gottes Flügeln finden, erzählt der 57. Psalm. Und Psalm 130 erinnert uns daran, dass wir auch in den tiefsten Momenten des Lebens nicht von Gott verlassen sind.

Die Psalmen – seit Jahrtausenden werden sie gesprochen und gesungen. Sie sind Teil der jüdischen und der christlichen Tradition. Die Glaubenserfahrungen des einzelnen Beters kommen in ihnen zum Ausdruck, aber auch die Gottesbegegnungen der versammelten Gemeinde. Klage und Dank, Verzweiflung und Zuversicht, sogar Wut und Rachegedanken haben Raum in den Psalmen, genauso wie die Hoffnung auf Versöhnung.

Jedes Mal, wenn ich in den Palmen lese oder aus ihnen singe – etwa im Introitus –, dann berührt es mich, wie in diesen Versen all das zur Sprache kommt, was das Leben im Glauben ausmacht. Denn vor Gott kann es, darf es sein: das Hadern wie die Gewissheit, das Lob wie die Trauer, die Höhen und die Tiefen.

Auch der 95. Psalm, der so jubelnd beginnt, verschweigt die Tiefen nicht, die wir an diesem Ort hier besonders deutlich spüren. Der Jubel mündet in die Warnung vor Verstockung. Der Jubel weiß von den Tiefen der menschlichen Existenz, von den dunklen Seiten der menschlichen Existenz, deren fürchterliche Konsequenzen an dem Ort, an dem wir heute Gottesdienst feiern, in so bedrückender Weise sichtbar geworden sind.

Die Architektur Helmut Strifflers, der leider vor kurzer Zeit verstorben ist und diesen Tag jetzt selbst nicht mehr erleben kann, hilft uns, das nicht zu vergessen, gerade dann, wenn wir jubeln. Diese Architektur ermöglicht es allen Besucherinnen und Besuchern der Versöhnungskirche, an diesem Ort Schritt für Schritt dem Gang hinab in die Tiefe zu folgen. Denn Versöhnung ist nur möglich, wo wir aufrichtig erinnern, wo wir eigene Schuld bekennen und Unrecht beim Namen nennen, wo wir die Trauer aushalten und unsere Augen und Herzen nicht verschließen vor dem unfasslichen Leid. Versöhnung ist nur möglich, wo wir den Weg in die Tiefe mitgehen. In die Tiefe menschlichen Leids. Aber auch in die Tiefe menschlicher Schuld, das solches Leid verursacht.

In einer öffentlichen Erklärung zum heutigen 8. Mai haben Kardinal Marx und ich im Namen unserer Kirchen formuliert: "Es ist sehr schmerzhaft zu erkennen, dass auch Christen und Kirchen durch ihr Tun und durch ihr Schweigen schuldig geworden sind und dass der Riss zwischen Tätern und Opfern mitten durch die Kirchen ging. Wir gedenken voller Dankbarkeit der mutigen Zeuginnen und Zeugen, die dem Unrecht und der Barbarei widerstanden. Wir bekennen aber auch, dass die Kirchen sich dem Unrecht nicht deutlich widersetzt haben und auch viele Christen sich der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus und den daraus entspringenden verbrecherischen Taten bereitwillig geöffnet haben."

Wir müssen diesen Weg in die Tiefen der eigenen Verantwortung, in die Tiefen der Schuld, die im Namen unseres Volkes geschehen ist, mitgehen, auch am heutigen Tage. Und hier – unten – hören wir nun aus dem 95. Psalm: "In seiner Hand sind die Tiefen der Erde, und die Höhen der Berge sind auch sein. Denn der Herr ist ein großer Gott und ein König über alle Götter."

Gott ist auch hier unten an unserer Seite. Und hilft uns immer wieder von dem zu reden, was jedes Mal von Neuem fassungslos macht und auch bei uns, die wir später geboren sind, Scham auslöst. Dass der Herr Gott ist und kein anderer, wurde mit Füßen getreten. Während der Nazi-Diktatur spielten sich andere auf als Herren über Leben und Tod. Setzten sich an Gottes statt. Hier an der Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers erinnern wir uns an die über sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die ermordet wurden, an die Sinti und Roma, die Homosexuellen, die geistig und körperlich Behinderten und die Menschen, die um ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen willen in den Konzentrationslagern getötet wurden. Und während Einzelne sich zu Göttern aufspielten und entschieden über Leben und Tod, schwiegen viele andere, schauten weg, versuchten zu verdrängen und zu vergessen.

Versöhnung aber ist nur möglich, wo wir – wie hier geleitet durch die Architektur des Kirchenraumes – in die Tiefe gehen und eben nicht vergessen oder verdrängen, sondern uns erinnern. Versöhnung ist nur möglich, wo wir – wie heute begleitet durch die Worte des 95. Psalms – niemals vergessen, dass allein Gott unser Gott ist, dass Leben und Tod in seiner Hand liegen, dass kein Mensch sich an Gottes statt stellen darf, und wir alle zum Widerstand gerufen sind, wo dies geschieht, auch heute.

"Kommt, lasst uns anbeten und knien und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat. Denn er ist unser Gott, und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand." – so heißt es im 95. Psalm. Dass hier vor 50 Jahren eine Kirche errichtet worden ist, dass sie "Versöhnungskirche" genannt worden ist, war die Antwort auf genau diesen so eindringlichen Ruf.

Im Bereich der KZ-Gedenkstätte eine christliche Kirche zu errichten, erschien vor über 50 Jahren vielen als unmöglich, angesichts dessen, dass der Widerstand der Kirchen gegen den Nationalsozialismus nicht grundsätzlicher, nicht mutiger war, als er es über weite Strecken gewesen ist. Doch dann waren es evangelische Christen aus den Niederlanden um Dirk de Loos, Menschen, die selber im Konzentrationslager Dachau inhaftiert waren, die die Initiative ergriffen und sich für den Bau eines evangelischen Andachtsraumes einsetzten. Dank ihres Engagements wurde vor 50 Jahren der Grundstein gelegt, damit eben doch genau hier ein Ort entstehen konnte, an dem wir gemeinsam vor Gott niederfallen, wie es der 95. Psalm sagt.

Darf man an einem solchen Ort jubeln? Ja, man darf jubeln. Vielleicht muss man sogar jubeln, sogar dann, wenn es ein verzweifeltes Jubeln ist. Auch wer selbst nicht mehr jubeln kann, weil er zu viel Leid erlebt hat, braucht andere, die stellvertretend für ihn ein Ja zum Leben sprechen. Die stellvertretend für ihn jubeln. Jubeln ist nicht herausgeplärrte gute Stimmung. Erst recht nicht ist es Triumphgeheul. Echtes Jubeln weiß auch vom Leid. Echtes Jubeln ist Ausdruck einer Dankbarkeit, die weiß, wie wenig selbstverständlich das ist, was uns geschenkt ist. Echtes Jubeln weiß um die Tiefen. Und genau deswegen ist es ein Jubeln, das aus vollstem Herzen kommt. "Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde, und die Höhen der Berge sind auch sein."

In der Hebräischen Bibel heißt das Buch der Psalmen "sefer tehillim", auf Deutsch: "Buch der Preisungen". Klage, Verzweiflung und Wut werden in den Psalmen in Worte gefasst, und genauso – und da hinein verwoben – finden Hoffnung, Dank und Lobpreis ihren Ausdruck.

In die Mauern der Versöhnungskirche sind viele solche "Preisungen" eingeschrieben. Diese Mauern haben in den 50 Jahren ihres Bestehens viel Klage und Verzweiflung gehört. Und sie haben Hoffnung und Dank gehört.

Beides bewegt uns auch heute. Klage über alles Leben, das durch Mord und Terror an diesem Ort geschändet und ausgelöscht wurde. Klage über alles Leben, das heute an unterschiedlichen Orten der Welt geschändet und ausgelöscht wird.

Und es bewegt uns Dankbarkeit. Dass vor genau 70 Jahren der Zweite Weltkrieg endete und Europa befreit wurde von der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Dass vor genau 50 Jahren der Grundstein zu diesem Kirchenraum gelegt wurde und damit ein Ort entstanden ist, der in diesen 50 Jahren das Versprechen, das in seinem Namen liegt, tatsächlich eingelöst hat. Ja, dieser Ort ist zum Ort der Versöhnung geworden. Viele Menschen – mich eingeschlossen – haben hier bewegende Gottesdienste erlebt, die alle miteinander die Grundmelodie der Versöhnung zum Ausdruck gebracht haben. Alle, die hier diese Grundmelodie im Herzen gespürt haben, gehen mit dieser Grundmelodie im Herzen wieder heraus – und werden Botschafter der Versöhnung.

Ja, es ist heute ein Tag der Dankbarkeit. "Lasst uns mit Danken vor sein Angesicht kommen und mit Psalmen ihm jauchzen! Denn der Herr ist ein großer Gott und ein König über alle Götter. Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde, und die Höhen der Berge sind auch sein!"

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.