Spiegelungen - Predigt zu 1. Korinther 13 von Klaus Pantle
13,1-13

Spiegelungen - Predigt zu 1. Korinther 13 von Klaus Pantle

Spiegelungen

12,31b Und ich will euch noch einen besseren Weg zeigen:

13,1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. 2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. 3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze.

4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, 5 sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, 6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; 7 sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.

8 Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. 9 Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.

11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.

12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. 13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

1

Péter Nádas schickt seine Romanfigur Frau Erna auf eine lange Taxifahrt durch das nächtliche Budapest. Neben ihr saß Gyöngyvér, die Geliebte ihres Sohnes. Telefonisch hatte man ihnen aus der Klinik mitgeteilt, dass ihr dementer Mann im Sterben lag. Auf dem Weg dorthin stiegen in ihr Erinnerungen auf aus wechselhaften Zeiten, die sie als Frau aus einer großbürgerlichen deutsch-ungarisch-jüdischen Familie durchlebt und durchlitten hatte. Und Gefühle wurden wieder wach. Die körperliche Nähe zu der schönen Gyöngyvér an ihrer Seite rissen sie hinein in einen wilden Strudel aus Hass und Verachtung und Erregung und Anziehung. Unversehens berührten sich beide auf intime Weise. Dabei „saßen sie sich zugewandt wie Spiegelbilder“. Durch diese Berührung fand sich Frau Erna zurückversetzt in eine Jahrzehnte zurückliegende Erfahrung, die sie überflutet hatte. In einem Hotel in Groningen war sie einer anderen blonden Frau begegnet. Die konnte sie nie mehr vergessen. Alle späteren Beziehungen, auch die Ehe mit ihrem Mann, einem Windbeutel erster Güte, der Karriere machte zuerst unter den ungarischen Nationalisten, dann unter den Nazis und schließlich unter den Kommunisten, ließen sie diese abgrundtiefe Erfahrung nie mehr einholen. All die Jahre seither schaute Frau Erna  „nach einer einzigen jungen Frau aus, einem ganz besonderen Geschöpf, in dem sie sich ein einziges Mal, aber in aller Deutlichkeit, wie in einem Spiegel, erblickt hatte. Immer stellte sie in sich jene Einzige wieder her, der sie jahrzehntelang nie mehr begegnet war, von der sie aber wusste, dass sie noch lebte, auch wenn sie sie in ihrer physischen Realität gar nicht mehr wiederzusehen wünschte, sie konnte sie ja in anderen Frauen sehen.“

Ist das Liebe, wovon hier erzählt wird? Was ist das, Liebe? Einfach auf den Begriff zu bringen ist sie nicht. Paulus sagt im Predigttext vor allem was die Liebe nicht ist. Positiv begreift er Liebe als „erkannt“ werden und sich „erkennen“ zweier Personen im direkten Gegenüber. Paulus jedenfalls lässt seine hymnische Beschreibung der Liebe in dieser – ja: urexistentiellen - Erfahrung kulminieren: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

Wer im biblischen Sprachgebrauch von Gott „erkannt“ wird ist von Gott erwählt (1. Korinther 8,3). Aber dieser Ausdruck erscheint in der Bibel auch noch in einem anderen Zusammenhang.  „Und Adam erkannte Eva...“ (Genesis 4,1) - und Eva ganz sicher auch Adam - und „sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN.“ Zwei Personen „erkannten“ sich – einander und sich selbst, und sie wurden erkannt – mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele, in allen Dimensionen ihres Seins - in der tiefsten Weise, wie sich zwei Menschen überhaupt begegnen können.

Insofern ist es konsequent, dass Paulus‘ Beschreibung der Liebe im „Erkennen von Angesicht zu Angesicht“ kulminiert. Gesichter spielen eine zentrale Rolle bei der Kommunikation und Interaktion von uns Menschen. Das gilt vor allem für Liebende. Wir schauen uns in die Augen und erkennen uns: „Dein blaues Auge hält so still,/ ich blicke bis zum Grund./ Du fragst mich, was ich sehen will./ Ich sehe mich gesund“ (Johannes Brahms). Wir blicken uns an und unsere Gesichter werden zu Spiegeln. Wer in einen Spiegel blickt, sieht darin sich selbst. Wer ins Antlitz eines geliebten Gegenübers schaut, sieht darin auch sich selbst – in der Reaktion des Gegenübers auf ihn. Aber das Bedürfnis geht tiefer.  „Das stumme Verlangen nach Spiegelung“ ist „in Wahrheit ... mein Begehren, ein einziges Mal, für einen einzigen Augenblick der Andere zu sein“ (Péter Nádas). Wir schauen uns an – von Angesicht zu Angesicht – und wir versinken ineinander. Ich bin Du – Du bist Ich – Wir sind eins. Es ist die höchste wie die tiefste Erfahrung in der Liebe und im Leben: die Vereinigung, die Auflösung der Grenzen unseres Ichs, die Verschmelzung miteinander zu einer Einheit. Es ist diese totale Erfahrung, die wir in der Liebe erstreben, aber bestenfalls nur für Momente erreichen. Dass das „jetzt“ so selten vorkommt, ja vielleicht kaum wirklich umfassend gelingt, das wissen wir. Und trotzdem sehnen wir uns danach lebenslang und darüber hinaus. Dass man die Momente, in denen das wenigstens annähernd gelingt, nicht festhalten kann, das ist das Drama unseres irdischen Lebens. Deshalb ist die Literaturgeschichte voller Erzählungen über gescheiterte und verlorene Liebe. Und trotzdem ist die Hoffnung auf „ewige“ Erfüllung unzerstörbar: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“

2

Frau Erna in Péter Nádas’ Roman ist eine traumatisierte Person. Sie ist geprägt von der Erfahrung des 2. Weltkrieges. Ihre Tochter wurde als Widerstandskämpferin von den Nazis ermordet. Im Nachkriegskommunismus zerfiel ihre großbürgerliche Lebenswelt vollends. Ihrem Mann blieb sie in einer veritablen Hassliebe verbunden. Weite Teile ihres Lebens spielten in einem Gewaltraum. Das führte zu Lücken und Brüchen in ihrer Biographie und zu Deformationen in ihrer Persönlichkeit. Aber eine gewisse Herzenswärme hat sie nie verloren. Und der Traum von der Liebe wurde in ihr nicht zerstört und auch nicht die Sehnsucht nach der Existenz in einem Liebesraum, vielleicht irgendwann für „ewig“.

Auch Paulus ist eine traumatisierte Person. „Es gibt in den Briefen des Paulus keine Gesichter“ (Christian Lehnert). Nicht ein einziger ihm nahestehender Mensch gewinnt Gestalt. Auch die Schönheit der Natur, der mediterranen Landschaften und Städte, die er bereiste, schien er nicht wahrzunehmen. Paulus, so empfängt man bei der Lektüre seiner Briefe den Eindruck, lebte als Person wie in einer Blase, eingeschlossen in sich selbst. Was diese Blase schließlich zum Platzen brachte liest man im Predigttext. Es ist die ihn überflutende Erfahrung der Liebe.

Es ist das Begreifen: Nicht wir „machen“ Liebe. Nicht der Mensch, sondern die Liebe selbst erscheint als Subjekt. Die Liebe „persönlich“ ist es, die agiert. Wie das eine Mal bei Frau Erna in einem Hotel in Groningen bricht sie ein in das Leben von Menschen und wirbelt alles durcheinander. Die Liebe ist durch und durch dynamisch. Ihr Charakter äußert sich bei Paulus in (15!) Verben. Die Liebe erscheint wie der Wind – ja wie ein Wirbelsturm. Sehen kann man sie nicht. Wie beim Wind oder beim Wirbelsturm erkennt man sie nur an den in ihrem Wirkungsfeld sichtbaren Erscheinungen. Die Liebe kommt über einen und ist da, verwirbelt einen und verschwindet wieder, jedenfalls in dieser Welt. Dabei fragt sie nicht um Erlaubnis und auch nicht nach Sitten, Gebräuchen und Konventionen und schon gar nicht nach Kosten und Nutzen. Sie folgt keinem Willen und keiner Begründung und ist auch an keine Bedingungen geknüpft: „Ich liebe dich, weil ich dich liebe!“ Die Liebe entzieht sich dem Apostel Paulus. Er kann nur feststellen, dass sie da ist und sich nicht einfangen lässt, weder durch Gefühle noch Begehren und schon gar nicht durch Moral oder religiöse Praxis. Ist sie aber da, dann überlässt sie sich dem Anderen ganz und gar, ohne „das Ihre zu suchen“.

Paulus weist seine Hörerinnen und Leser auf diesen „anderen Weg“ hin, der sich einem eröffnet, wenn man sich vom Wirbel der Liebe ergreifen und treiben lässt. Dabei ist er sich über die Konsequenzen im Klaren. Die Liebe ist „kein langer, ruhiger Fluss“. Sie kann „unseren Körper biegen“ und „ihm gewaltige Qualen bereiten“ (Alain Badiou). Die Liebe erfüllt uns mit Glück und lässt uns leiden. Zwischen beidem, so scheint es, gibt es hier in dieser Welt eine direkte und unmittelbare/untrennbare Verbindung. Liebe in dieser Welt ist nicht nur Glück sondern auch Passion. Wohin das führen kann, dass führt uns Jesus, von dem es heißt, dass er die Inkarnation der Liebe sei, mit seinem Schicksal vor.

Theologisch gesprochen ist die Liebe eine Gabe Gottes. Geistgewirkt ist sie Gottes Empfängnis. Denn „Gott IST Liebe“ (1. Johannes 4,16). Die Göttliche Liebe erscheint als unverfügbares, überwältigendes, alles in sich bergendes und alles Dunkle und Schmerzvolle, alle Traumata, alle qualvolle Zerrissenheit hinwegblasendes Geschenk. Erfahrene Liebe, tiefe Liebe zwischen Menschen in dieser Welt ist ein Abglanz dieser Liebe, vorläufig, fragmentarisch, „Stückwerk“, im besten Fall Spiegelung.

3

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Paulus sieht ein Spiegelbild. Wovon? Das sagt er nicht. Man hat Spiegel aus der Zeit des Paulus gefunden. Ihre Qualität war exzellent. Was Paulus sah, sah er scharf! Aber was er erblickte, war dunkel. Wer in den Spiegel schaut, erblickt sich selbst! Was er sah, war überschattet.

Unsere Identität und unsere Selbsterkenntnis, unser Glauben und unser Hoffen, aber auch unser Lieben und dass wir uns als geliebt erfahren – all das ist verschattet. „Jetzt“ ist es nur bruchstückhaft einholbar und erlebbar. Vollständiges Einssein mit uns selbst und Einssein mit einem geliebten Menschen ersehnen wir. Und unser Einssein mit Gott und der Welt erhoffen wir. Vom Anspruch auf die vollkommene und  ewige Liebe lassen wir nicht. Dass es möglich ist, dass „dann“ Gott „alles in allem“ (1. Korinther 15,28) sein wird und wir in ihm, das möchten wir glauben.

Paulus glaubt daran. Das Ich kann in seinen Augen ohne die Liebe keinen Bestand haben. Endlich hat er begriffen: Ich bin schon jetzt angesehen von Gott. „Ich bin der, als der ich angesehen werde, erkannt in Liebe und von der Liebe, in euren Augen und in den Augen des (gegenwärtigen und) kommenden Gottes“ (Christian Lehnert). Christus durchschaut mich durch alle Konstruktionen meines Selbstbewusstseins hindurch bis auf den Grund. Er erkennt mich, liebt mich und konstituiert meine Identität als geliebter und liebender Mensch.

Deshalb ruft Paulus uns dazu auf, dass wir der Liebe nicht ausweichen, wenn sie über uns kommt, dass wir uns von ihr bewegen und auf den Weg bringen lassen: „Dann aber werde ich erkennen wie ich erkannt bin.“ Dann werde ich lieben wie ich geliebt bin.

Literatur:

Alain Badiou, Lob der Liebe, Wien 2009, S. 71

Johanns Brahms, Dein blaues Auge, Op. 59/8

Christian Lehnert, Paulinische Brocken. Ein Essay über Paulus, Berlin 2013, S. 215; 209; 206f.

Péter Nádas, Parallelgeschichten, Reinbek 2013, S. 252 und 254

Péter Nádas, Von der Himmlischen und der irdischen Liebe, Reinbek 1999, S. 7 und 38