"Streit um Jesus" - Predigt über Johannes 8, 21-30 von Heinz Janssen
8,21

"Streit um Jesus" - Predigt über Johannes 8, 21-30 von Heinz Janssen

Streit um Jesus
  Leidenschaftliche Auseinandersetzung, die das Gespräch sucht
  
  21Da sprach Jesus abermals zu ihnen:
  Ich gehe hinweg,
  und ihr werdet mich suchen
  und in eurer Sünde sterben.
  Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen. 
  
  22 Da sprachen die Juden:
  Will er sich denn selbst töten,
  daß er sagt: Wohin ich gehe, da könnt ihr nicht hinkommen? 
  
  23 Und er sprach zu ihnen:
  Ihr seid von unten her, ich bin von oben her;
  ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. 
  24 Darum habe ich euch gesagt,
  daß ihr sterben werdet in euren Sünden;
  denn wenn ihr nicht glaubt, daß ich es bin,
  werdet ihr sterben in euren Sünden. 
  
  25 Da fragten sie ihn:
  Wer bist du denn?
  
  Und Jesus sprach zu ihnen:
  Zuerst das, was ich euch auch sage. 
  26 Ich habe viel von euch zu reden und zu richten.
  Aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig,
  und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt. 
  
  27 Sie verstanden aber nicht, daß er zu ihnen vom Vater sprach. 
  
  28 Da sprach Jesus zu ihnen:
  Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet,
  dann werdet ihr erkennen,
  daß ich es bin
  und nichts von mir selber tue,
  sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. 
  29 Und der mich gesandt hat, ist mit mir.
  Er läßt mich nicht allein;
  denn ich tue allezeit, was ihm gefällt. 
  
  30 Als er das sagte, glaubten viele an ihn.
  
  Zur Abgrenzung der Perikope „Johannes 8,(21-26a)26b-30“, Exegese, Form der Predigt und Liturgie
  
  Der Verzicht auf die Vv.21-26a ergibt zwar einen kürzeren Predigttext, ist aber wenig ratsam, da die Vv.21-30 eine inhaltliche Einheit bilden. Sie gehören in den großen Zusammenhang der Auseinandersetzung Jesu mit seinen jüdischen Schwestern und Brüdern in Jerusalem, die seine Berufung in Frage stellen und seine Messianität bestreiten (Joh 7,1-8,59; 9,1-11,54). Ob V.30 die Vv.21-29 abschließt oder die Szenen Vv.21-29 und Vv.31-59 verbindet, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden.  
  
  Zur Frage „Wer bist du denn?“ und zur Antwort Jesu: „Zuerst das, was ich euch auch sage“ (V.25, vgl. andere Übersetzungen und den griechischen Urtext!) s. Predigt.
  
  Die Dynamik des Predigttextes führte mich überraschend in die Homilie als Predigtform. Darum sind in der Predigt stets die entsprechenden Verse angegeben, auch um der Leserin / dem Leser das gedankliche Nachvollziehen zu erleichtern.
  
  Zur Liturgie: Ich werde den Predigttext an Stelle der Schriftlesung lesen lassen und ihn nicht nocheinmal auf der Kanzel lesen. Damit die Gottesdienstteilnehmenden den Predigttext vor sich haben, erhalten sie ihn in der oben dargestellten syntaktisch gegliederten Form.   
  
  Lieder:
  
  „Gott liebt diese Welt“ (EG 409) - „Bei Gott bin ich geborgen wie ein Kind“ (in: Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder, Strube Verlag, München 2005, www.strube.de) - „Wenn wir in höchsten Nöten“ (EG 366, Wochenlied) - „Christus, dein Licht, verklärt unsre Schatten“ (in: Wo wir dich loben…, s.o.) -„Bewahre uns Gott“ (EG 171).
   
  Literatur:
  
  Kommentare: Hermann Strathmann, NTD 4, Göttingen 1963. – J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL.NT 4,1-3, 1977-1981. - S. Schulz, NTD 4, 5. Aufl., Göttingen 1987. – J. Schneider, ThHK (Sb), 4. Aufl., 1989. – J. Becker, ÖTK 4,1-2, 3. Aufl., 1991. – D. A. Carson, The Gospel according to John, Leicester-Grand Rapids, 1992. – Monographie: M. Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993.
  
  Liebe Gemeinde!
   
  „Da sprach Jesus abermals zu ihnen“ - so beginnt unser Predigttext. Diese Worte leiten nicht eine der vielen Reden und Predigten Jesu ein, sondern eine Phase der leidenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und seinen jüdischen Schwestern und Brüdern. Jesus, der selbst dem jüdischen Volk angehört und in dessen Religion verwurzelt ist, fühlt sich ihnen verbunden. Schmerzlich ist für ihn, dass viele ihn ablehnen und seinen Anspruch bestreiten, im Namen und Auftrag ihres Gottes zu handeln. Jesus geht auf seine Kritiker ein, und er geht auf sie zu, indem er „abermals“, immer wieder, zu ihnen spricht, mit ihnen diskutiert, sich ihren Fragen stellt. Aus dem unserem Predigttext vorangehenden Zusammenhang erfahren wir, wie die Einen sagen, er sei gut, und die Anderen, er verführe das Volk (Joh 7,12), wieder Andere halten ihn für einen Propheten, andere für den Messias/Christus (7,40f.). Im Tempel in Jerusalem lehrt Jesus: „Wenn jemand Gottes Wille tun will, wird er inne werden, ob meine Lehre von Gott ist oder ob ich von mir selbst aus rede“ (7,17). Nicht wenige, die seine Worte berühren, sagen: „Noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser“ (7,46). Jesus betont, dass er nicht die eigene Ehre suche, sondern die Ehre Gottes, von dem er sich gesandt weiß (7,18). Er weiß, dass nicht wenige ihn beseitigen, töten, wollen. Aber er weiß auch, dass sein Leben nicht in ihrer Hand, sondern in Gottes Hand ist (7,30). Seine Gegner, die vor seinen Augen eine Frau, angeblich wegen Ehebruchs, töten wollen, brüskiert er mit den Worten: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ (8,7).
  
  Streit um Jesus. Was für eine Auseinandersetzung, in die uns der Evangelist Johannes hinein nimmt! Der Evangelist Johannes stellt von Anfang an diese Seite im Wirken Jesu uns vor Augen: Jesus, Menschen- und Gottessohn, ist ein Fremder in dieser Welt: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (1,11). Aber Jesus zieht sich nicht zurück, er begibt sich gleichsam in die Höhle des Löwen, steht Rede und Antwort – weil er seine Kritiker und Gegner für Gott gewinnen will. „Da sprach Jesus abermals zu ihnen…“ Jesus will mit ihnen im Gespräch bleiben. Denn sie können seinen Weg von sich aus nicht verstehen, schon gar nicht, dass ihn dieser Weg ins Leiden führt. Ihre Reaktion auf sein „Ich gehe (hin)weg“ (8,21) zeigt es deutlich, und sie ist menschlich verständlich: „Will er sich denn selbst töten?“ 8,22) Jesus erklärt sich ihnen, indem er zwischen einem „von unten her“ und einem „von oben her“, einem „von dieser Welt“ und einem „nicht von dieser Welt“ unterscheidet  (8,23). Seine Worte „Ihr seid von unter her, ich bin von oben her“, können leicht missverstanden werden: Ihr unten, ich oben – Ihr klein, ich groß – ihr Gott fern, ich Gott nah. Aber wer könnte ihm nur den Hauch einer Überheblichkeit unterstellen, als ob er über jede kritische Infragestellung erhaben wäre. Sein üblicher liebevoller und heilsamer Umgang mit den Menschen spricht eine andere Sprache. Jesus spricht von der irdischen und der himmlischen Welt, von der Welt, die von Gott getrennt ist – dies bedeutet das Wort „Sünde“ –, und der Welt, in der der Mensch mit Gott verbunden ist. Jesus wirbt um Glauben, Vertrauen, Anerkennung – „dass ich es bin“, sagt Jesus (8,24). In diesen Worten klingt ein Gotteswort aus der Hebräischen Bibel, der Bibel Jesu, an: „…damit ihr wisst und mir glaubt, dass ich es bin“ (Jesaja 43,10). In Jesu Mund weist das „es“ seit Jesu Begegnung mit der Samariterin auf den erhofften Messias/Christus hin – „Ich bin es“, sagt Jesus zu ihr (4,26).  Jesus will die innige Gemeinschaft der Menschen mit Gott. 
   
  „Wer bist du denn“, fragen sie ihn (8,25). Man könnte die Frage abweisend, auch etwas höhnisch verstehen: ‚Wer bist du denn schon, doch nur der Zimmermannsohn aus Nazareth!’  Da aber eine wörtliche Übersetzung des griechischen Urtextes nur die Frage „Wer bist du“ ergibt, kann sie als ernsthaft verstanden werden. Muss diese Frage nicht immer wieder gestellt werden, auch heute? Müssen wir sie nicht immer wieder selbst, persönlich und als Gemeinde/Kirche stellen? Die Antwort Jesu in der Übersetzung Martin Luthers lautet: „Zuerst das, was ich euch auch sage“ (8,25). Sie muss nicht so verstanden werden, dass Jesus es für sinnlos hält, überhaupt noch mit seinen Gegnern zu diskutieren, etwa (so übersetzt die Zürcher Bibel): „Was rede ich überhaupt noch zu euch?“ Wörtlich übersetzt heißt es nach dem Urtext: „Was ich zu Anfang sagte, sage ich auch (jetzt) zu euch“. Jesus erinnert sie an das, was er anderen und ihnen über sich bereits gesagt hatte. Es geht ihm dabei nur um das Eine, ihnen Gott  nahe zu bringen, den sie eigentlich aus ihrer Bibel kennen müssten. Dies betonen seine nächste Worte: „ich habe noch viel mit euch zu reden und zu richten“ (8,26). „Richten“ kann auch einfach „erklären“ bedeuten, es geht dabei um die richtige Entscheidung, dies meint eigentlich das dafür im ursprünglich griechischen Bibeltext stehende Wort. Jesus bekräftigt seinen Kontrahenten gegenüber, nicht im eigenen Namen zu reden, sondern nur im Namen dessen, der ihn gesandt hat. Jedoch auch dieses Bekräftigen führt nicht zur wirklichen Verständigung, wie wir im Bibeltext weiter erfahren:  
  
  „Sie verstanden aber nicht, dass er zu ihnen von Gott, vom „Vater“, sprach“ (8,27). Aber Jesus bleibt weiterhin mit ihnen im Gespräch. Er stellt ihnen in Aussicht, dass sie noch erkennen werden, wer er wirklich ist – dann nämlich, „wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet“ (8,28-29). Es ist eine eigenartig verhüllende Redeweise, wenn der Evangelist Johannes – anders als die anderen drei Evangelisten – vom „Erhöhen“ spricht und damit die Kreuzigung Jesu umschreibt: Das schreckliche Hochziehen des unschuldig Verurteilten am Querbalken des Kreuzes, dieses furchtbaren Hinrichtungspfahls, sieht er als ein „Erhöhtwerden“ des „Menschensohns“. „Seht, welch ein Mensch / „Seht den Menschen“, wird Pilatus sprechen, als er den gegeißelten und mit einer Dornenkrone verhöhnten Jesus zu dem Volk heraus führt (Joh 19,1-5). „Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin…“, sagt Jesus. Er weiß sich dem verbunden, der ihn gesandt hat und ihn nicht allein lässt, ihm allein möchte er in all seinem Tun gefallen (8,28-29). „Ihr werdet erkennen…“ Nachdem Jesus im Meinungs- und Glaubensstreit um ihn ein tieferes Erkennen angekündigt hatte, „glaubten viele an ihn“ (8,30). Was unten ist, ist in Jesu Augen auf einmal oben, und was oben ist, unten. Er stellt unser Denken heilsam auf den Kopf.
  
  Die Frage der jüdischen Schwestern und Brüder Jesu damals bleibt eine wichtige Frage auch für uns heute, eine ganz entscheidende Frage, wie uns der Evangelist Johannes nahelegen möchte: Wer ist dieser Jesus von Nazareth? „Wer bist Du?“ / „Wer bist du, Jesus, für mich, für uns, für diese Gesellschaft, diese Welt?“ – Im vorangehenden Zusammenhang unseres Predigttextes sagt Jesus: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (8,12). Diese Licht erstrahlt, wo wir
  
  lieben anstatt hassen,
  verzeihen anstatt zurückschlagen/Rache üben,
  verbinden anstatt zerreißen,
  die Wahrheit sagen anstatt zu lügen,
  zum Glauben ermutigen anstatt den Zweifel pflegen,
  die Hoffnung wecken anstatt der Resignation das Wort reden,
  ein Licht anzünden anstatt das Dunkel herrschen lassen,
  Freude bereiten anstatt im Trüben fischen. (H.Ja./2013 nach dem früher Franz v. Assisi zugeschriebenen Gebet, EG 416)
  
  Der heutige Sonntag „Reminiscere“ erinnert an den Psalm, der Jesus wie seinen Gegnern vertraut war: „Gedenke, GOTT, an deine Barmherzigkeit!“ (Psalm 25,6) In Namen dieses barmherzigen Gottes „sprach Jesus abermals zu ihnen“, und er sucht auch heute mit uns das Gespräch.
  Amen.