"Tausend Gramm Kleinstlebewesen", Predigt zu Lukas 11, 14-23 von Wolfgang Vögele
11,14

"Tausend Gramm Kleinstlebewesen", Predigt zu Lukas 11, 14-23 von Wolfgang Vögele

Der Predigttext für diesen drittletzten Sonntag des Kirchenjahres steht Lk 11,14-23:
  „Und er trieb einen bösen Geist aus, der war stumm. Und es geschah, als der Geist ausfuhr, da redete der Stumme. Und die Menge verwunderte sich. Einige aber unter ihnen sprachen: Er treibt die bösen Geister aus durch Beelzebul, ihren Obersten. Andere aber versuchten ihn und forderten von ihm ein Zeichen vom Himmel.
Er aber erkannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet und ein Haus fällt über das andre. Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die bösen Geister aus durch Beelzebul. Wenn aber ich die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Wenn ein Starker gewappnet seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute. Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“
Liebe Gemeinde,
wer in diesen Novembertagen früh am Morgen vor die Haustür tritt, der sieht in der abnehmenden Dunkelheit noch die leichten Nebelschwaden und spürt die ungewohnte Kälte der ersten Nachtfröste. Und er denkt: Ich müßte den Wintermantel auspacken und die Handschuhe aus dem Schrank holen. Und er holt dann am Abend den Wintermantel vom Speicher, zieht ihn am nächsten Morgen an und tritt wieder aus der Tür heraus. Und er fängt an zu schwitzen, weil er in der mild und lau gewordenen Luft viel zu warm angezogen ist. Er denkt: Hoffentlich erkälte ich mich nicht. Und am Abend dann spürt er beim Schlucken den leichten Schmerz im Hals. Am nächsten Morgen wacht er mit triefender Nase und erhöhter Temperatur auf. Die Frage nach dem Wintermantel kann er sich sparen, er behält sein Nachthemd an und bleibt krank im Bett liegen, um sich auszukurieren.
Erkältungen gehören ja zum Herbst wie Zwiebelkuchen mit neuem Wein, Eßkastanien oder das Erntedankfest. Man kann nichts dagegen tun. Eine Erkältung dauert sieben Tage oder eine Woche.
Erkältungen verlangen nach Erklärungen: Sie werden durch Viren verursacht, die über die bei Kälte empfindlichen Schleimhäute in den Körper eindringen. Gesundheit ist kein dauerhafter Zustand, sondern ein kompliziertes Auf und Ab, das von vielen Faktoren abhängig ist: Ernährung, körperliche Fitness, Kontakt mit anderen Menschen, Stress. Der Körper verteidigt sich in jeder Minute gegen alle Arten von Eindringlingen. Gesundheit ist ein Kampf zwischen dem abwehrbereiten Immunsystem und fremden Erregern, Bakterien, Pilzen und Viren, die sich im und auf dem  Körper breitmachen wollen. Schnupfenviren gewinnen durchschnittlich zweimal im Jahr den Kampf gegen das Immunsystem. Im Frühjahr und Herbst schaffen sie es, die biologischen Schranken des Körpers zu überwinden, trotz heißer Zitrone, Aufgüssen in der Sauna und kühlenden Wadenwickeln. Gesundheit im Herbst ist abhängig von der Qualität des körpereigenen Abwehrsystems. Aber das Abwehrsystem kann auch nicht alle Eindringlinge abwehren. Manche von ihnen braucht der Mensch für Überleben und Wohlbefinden.
Es denke niemand, er sei in seinem Körper allein zuhause. Jeder Mensch beherbergt Gäste, willkommene und unwillkommene, kleinere und größere. Die meisten Viren und Bakterien vernichtet das Immunsystem, ohne daß der Körper Symptome einer Krankheit entwickeln würde.
Andere Besucher haben sich dauerhaft im Menschen eingenistet. In den Windungen jedes menschlichen Darms leben Billionen von Bakterien, die dabei helfen, aus der Nahrung die für den Körper notwendigen Nährstoffe herauszuziehen. Würde man all diese wimmelnden Bakterien in einem Gefäß auf eine Haushaltswaage legen, sie würde ein Gewicht von tausend Gramm Kleinstlebewesen anzeigen. Wer darüber Bescheid weiß und ein Mikroskop besitzt, kann zwei bis dreihundert Arten und bis zu 1800 Gattungen unterscheiden.
Jesus von Nazareth, der ein Prediger, aber auch ein Wunderheiler war, kannte noch keine Bakterien, ihm fehlte dieses biochemische Wissen. Er kannte Eindringlinge in den Körper, und diese nannte er Dämonen. Er war darin modern, daß er Gesundheit als Kampf oder Auseinandersetzung verstand. Bei Jesus kämpfen die guten Abwehrkräfte Gottes gegen das infektiöse Reich der Dämonen. Die Heilung des Stummen präsentiert den Lesern und Hörern eine Momentaufnahme davon. Lukas gibt das in nüchternen Sätzen wieder, wie in einer Krankenakte.  Der Stumme wird erfolgreich geheilt, er spricht wieder, und der Dämon ist ausgetrieben.
Jesus war vertraut mit dem damaligen Wissensstand der Dämonenmedizin: Dämonen können von einem Menschen Besitz ergreifen und in ihm Veränderungen hervorrufen, welche die Persönlichkeit zerstören. Menschen, die von Dämonen besessen sind, werden stumm, blind, taub oder psychisch krank. Dämonen übernehmen erbarmungslos die Herrschaft über Körper und Seele. Sie führen eine Schmarotzerexistenz.
Die Bibel kennt eine Art Zwischenwesen, die zum Guten oder Schlechten auf die Menschen einwirken. Die Engel überbringen zum Guten die Botschaften Gottes, und die Dämonen nagen mit bösen Hintergedanken an der leiblichen und seelischen Gesundheit eines Menschen. Gesundheit ist ein Kampf. Körper und Seele wehren sich zusammen gegen unerwünschte Eindringlinge von außen. Damals hießen sie Dämonen und böse Geister, heute heißen sie Bakterien, Viren und Pilze.
Wir pflegen heute Krankheit als individuelles Schicksal zu verstehen. Wer von einem Virus befallen wird, der hat einen Fehler gemacht, der falschen Person die Hand gegeben. Für die Menschen damals war Dämonie eine verbreitete Kraft, die sich überall ihre Opfer suchte. Den Dämonen lag nicht so sehr an der Vernichtung eines einzelnen Menschen, sie trachteten nach der kosmischen Weltherrschaft. Deswegen herrschte unter den Dämonen eine genau abgestimmte Hierarchie, mit einem Diktator an der Spitze. Der Diktator gab die Strategie vor im endzeitlichen Kampf gegen die gute Kraft Gottes. Der Diktator hieß Beelzebub. Dieses Wort verballhornt das eigentliche Wort „Baal Zebul“, der erhabene Fürst (des Bösen). Aus ihm wird der „Baal Zebub“, der Herr der Fliegen. Und aus dem „Baal Zebub“ wird schließlich der Beelzebub, gegen den Jesus seine heilenden Kräfte einsetzte.
Wenn ein Wunderheiler auftritt, muß er sich fragen lassen, von welcher Macht er seine Kraft nimmt. Schwarze oder weiße Magie, Engel oder Dämonen, Gott oder Beelzebub. Heute könnte man an Schulmedizin oder Naturheilverfahren denken. Zwischen beiden Richtungen herrscht ja auch gelegentlich so etwas wie ein Glaubenskrieg. Aber diese letzte Alternative greift dann doch weit über den Wunderheiler aus Nazareth hinaus. Im Grunde war er gar kein Mediziner, denn – so merkwürdig es klingt – es ging ihm gar nicht zuerst um die Gesundheit des Menschen. Er ist das Gegenteil des skrupellosen Sportarztes, der den Stürmer für das entscheidende Pokalspiel wieder fitspritzt oder dem Radsportler eine Blutwäsche verpaßt, damit er in der Bergetappe angreifen kann.
Jesus machte Menschen gesund, um die Botschaft des Reiches Gottes zu verbreiten. Ihm ging es nicht um die Wiederherstellung körperlicher Funktionsfähigkeit für diese Welt. Er war sich sicher, daß diese mit Schrecken und Leiden kontaminierte Welt untergehen wird. Er war überzeugt, daß etwas besseres, Gottes Reich, an ihre Stelle treten wird.
Was Lukas erzählt, bleibt nur am Anfang eine nüchterne Krankenakte. Wenige Sätze später weitet sich die Errzählung zur Diagnose des heilsgeschichtlichen Dramas. Das plötzliche Gesundwerden des vormals Kranken, das plötzliche Sprechen des Stummen – beides sind Zeichen des hereinbrechenden Gottesreiches. Und dieses ist das Ergebnis eines globalen und apokalyptischen Kampfes. Die guten Kräften des Glaubens verkörpern sich in dem Heiland aus Nazareth. Die bösen Kräfte des Dämonischen werden vom Diktator Beelzebub angeführt. Beide Kräfte stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Wer heilt, der setzt ein unübersehbares Zeichen in dieser Auseinandersetzung. Wer heilt, der muß sich auch erklären, von welcher Seite er seine Kräfte bezieht. Faule Kompromisse sind da ausgeschlossen. Man heilt entweder mit dem Finger Gottes oder mit dem Schwanz des Teufels. Der aus Glauben wieder gesund gewordene Stumme ist ein kleiner Triumph über das Böse, ein Vorzeichen des großen endgültigen Triumphes Gottes, der noch aussteht. Alle warten darauf.
Das Böse ist in sich zerstritten, deswegen kann der Wunderheiler mit dem „Finger Gottes“ dazwischen fahren und den Dämon in dem stummen Menschen besiegen. Für solch einen kleinen, untergeordneten Dämon benötigt Jesus nicht mehr als den kleinen Finger Gottes, das ist sozusagen ohne Kernspin, Röntgengerät und Chemotherapie möglich. Gott muß sich gar nicht anstrengen oder Mühe geben, um diese schwache Kraft des Bösen aus dem Körper des leidenden Kranken zu vertreiben. Es genügt der kleine Finger. Wohlgemerkt: Jesus sagt nicht, daß er mit dem (moralischen) Zeigefinger Gottes heilt. Jesus nimmt  den allmächtigen Gott sozusagen an der Hand und weist ihn auf die Menschen hin, in denen das Dämonische tobt. Gottes Finger schnipst das Böse aus dem Menschen heraus.
Und nachdem der böse Dämon sich ruckartig zurückgezogen hat, kann der vormals Stumme plötzlich wieder sprechen. Sprachlosigkeit verwandelt sich in Mitteilungsbedürfnis, Schweigen in Zuwendung und Empathie, die an das Sprechen gebunden sind. Nur wer sprechen kann, kann Glaube, Vertrauen und Liebe auch zum Ausdruck bringen.
Liebe Gemeinde, man muß nicht an Dämonen glauben, um dieser Geschichte des Lukas Trost und Vertrauen abzugewinnen. Menschliches Leben ist davon bestimmt, daß es in mannigfache größere Zusammenhänge eingebunden ist. Die Menschen zur Zeit Jesu sprachen von den Mächten des Guten und des Bösen, die um jede einzelne Seele kämpfen. Heute wissen wir, daß der Körper nicht mit sich selbst allein lebt. Er hängt davon ab, daß es seinem Immunsystem gelingt, nur diejenigen Kleinstlebewesen zuzulassen, die der Gesundheit dienlich und nützlich sind, und diejenigen zu bekämpfen, die der Gesundheit schaden werden. Um gesund und lebensfähig zu bleiben, ist der Körper, ohne daß es dem Ich bewußt ist, mit komplizierten Abwehr- und Förderungsprozessen beschäftigt, die für Störungen sehr anfällig sind: Allergien, Unverträglichkeiten, Überreaktionen, Autoimmunerkrankungen usw. Und was für den Körper gilt, gilt noch mehr für die Seele. Gottesglauben und Vertrauen sind das Immunsystem gegen das Dämonische. Das sind komplizierte, gegen Zweifel und Ungewißheit anfällige Prozesse, die niemand aus sich selbst und für sich selbst steuern kann. Wir brauchen für Glauben und Vertrauen die Hilfe Gottes, und sei es nur sein Finger. Er führt uns und zeigt uns den Weg hin zu seinem Reich, das längst angebrochen ist, auf dessen Vollendung wir aber noch warten. Auch für den Glauben gilt: Wir sind umgeben von Kraftfeldern, die unserem Vertrauen wie unserer Gesundheit förderlich oder schädlich sind. Die einen Kraftfelder ziehen uns in das Reich Gottes hinein, die anderen ziehen davon weg, in die dunklere, verschlagenere Ecke, dorthin, wo man das Böse vermutet, wo es in Dämonen und Teufeln Gestalt annimmt, oder in den moderneren Gestalten des Bösen.
Gesundheit ist nicht nur eine Sache dessen, daß ich mich gesund ernähre, mich in Bewegung halte, Sport treibe und, wenn es nötig ist, eine Tablette Aspirin nehme. Und auch Glauben ist nicht nur eine Sache dessen, daß ich bete, den Gottesdienst besuche und in der Bibel lese. Zum Glauben gehört: Ich bin mir bewußt, daß ich mein Leben nicht selbst steuern kann. Ich weiß, daß ich immer wieder scheitere und Fehler begehe, dem verhaftet bin, was die Bibel Sünde nennt. Diese Sünde ist innerhalb und außerhalb meiner selbst. Ich kann ihr nicht entkommen. Aber wenn ich mich schon nicht selbst befreien kann, dann kann ich mich befreien lassen. Darin liegt die größte Gesundheit des Glaubens. Ich helfe mir nicht selbst. Sondern mir wird geholfen. Der kleine Finger Gottes schubst mich in die richtige Richtung. Amen.