Umgang mit dem Sinnlosen - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Christoph Dinkel
19,16-30

Umgang mit dem Sinnlosen - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Christoph Dinkel

Umgang mit dem Sinnlosen

Da überantwortete Pilatus ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.

Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.

Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.

Liebe Gemeinde!

1. Sinnlosigkeit erleben. So viele sinnlose Tode. 150 Menschen zerschellen mit einem Airbus in den französischen Alpen. Der Amoklauf eines Piloten reißt entsetzlich viele Menschen ins Unglück. So viele Leben sind abgebrochen, so viel Schmerz, so viel Schrecken, so unaushaltbar viel Leid. Auch gut eine Woche nach dem Unglück ist der Schrecken groß. Es ist klar: Es hätte auch uns selbst treffen können. Aber das ist es nicht allein. Es ist auch der Schrecken darüber, in was für einer Welt wir leben, in der Menschen zu solch entsetzlichen Taten in der Lage sind. Und der Amoklauf des Piloten ist ja nicht der einzige Schrecken, den wir in den letzten Monaten erleben mussten. Eine neue Art von Terrorismus überzieht den Nahen Osten. Perverse Mörderbanden präsentieren sich mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Opfer der Öffentlichkeit. Gestern sterben weit über 100 Studenten bei einem Massaker an einer kenianischen Universität. So mancher traut sich nicht mehr, die Nachrichten einzuschalten aus Angst, wieder mit neuen unfassbaren Gräueln konfrontiert zu werden. All diese Tode sind so brutal, so unnötig, so sinnlos. Sie trüben unseren Blick auf das Leben, sie erschüttern unser Weltbild. Gibt es denn keinen, der solch einem Treiben Einhalt gebietet? Will ich in einer solchen Welt wirklich leben? Der Lebensmut gerät ins Wanken. So viele sinnlose Tode!

Am Karfreitag gedenken wir eines sinnlosen Todes. Am Kreuz auf Golgatha wird Jesus von Nazareth bestialisch zu Tode gefoltert. Die Kreuzigung war die perverseste Todesstrafe, die sich die Römer ausgedacht haben: äußerste Qual und finale Schändung für das Opfer, maximale Abschreckung für alle potentiellen Sympathisanten. Aus Sicht des frommen Juden stirbt Jesus in absoluter Gottesferne. Jesus selbst wird das so erlebt haben. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – nach dem Markusevangelium stirbt Jesus mit einem Wort der Gottverlassenheit. Für seine Anhänger, seine Familie geht die Welt unter. Alles, woran sie glaubten, ist zerstört. Die Hoffnung auf Gottes neue Welt wird mit ans Kreuz genagelt und stirbt. Zurück bleibt die dröhnende Leere des Todes, die Stille der Verwesung, das Dunkel der Verzweiflung.

Ein sinnloser Tod einst auf Golgatha, sinnlose Tode in den französischen Alpen, beim Amoklauf in Winnenden vor sechs Jahren. Oder: weniger spektakulär, dafür viel häufiger: Sinnloses Sterben im Straßenverkehr, Sterben durch Suizid, Sterben durch Krankheit. So viele Menschen sterben einen zu frühen, einen sinnlosen Tod – und mancher von uns hat solch einen sinnlosen Tod im nächsten Umfeld erlebt. Der Schrecken darüber, der Schmerz und der Verlust gehört zu Ihrem Leben. Der Tod des Kindes, des Ehepartners, des geliebten Menschen, mit dem man das Leben und alles Glück und Leid geteilt hat, begleitet das Leben als dunkler Schatten.

2. Sinnlosigkeit aushalten. Es ist die große Stärke und die große Wahrhaftigkeit des Christentums, dass es sich dem sinnlosen Tod stellt. Von Anfang an sind Christen dem Schrecken des Todes nicht ausgewichen, sie haben die Schrecklichkeit des Sterbens Jesu nicht geleugnet und nicht verdrängt. Das Folterinstrument von Golgatha ist sogar zum zentralen Symbol des Christentums geworden. Im Mittelpunkt unseres Glaubens steht das Wort vom Kreuz. Die Gottverlassenheit Jesu ist nicht das Ende, sondern der Anfang unseres Glaubens. Kein Christ kann sich darüber hinwegtäuschen: Dass auch das Schlimmste, Bitterste, Sinnloseste möglich ist – diese furchtbare Erkenntnis ist der Ausgangspunkt des Christentums.

Das Christentum flüchtet sich nicht in Vertröstungen. Wir predigen nicht die Rückkehr der Toten in einem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt. Wir werten nicht das irdische Leben zugunsten irgendeines jenseitigen Lebens ab. Wir predigen auch nicht die geistige Existenz, die nach Ansicht mancher der irdischen Existenz überlegen ist. Nein, das Christentum nimmt das irdische Leben ganz und gar ernst. Deshalb hat Jesus die Kranken gesund gemacht und die Besessenen geheilt. Deshalb wendete sich Jesus den Ausgegrenzten zu und verkündete das Reich Gottes als eine neue Welt, die hier auf Erden dem göttlichen Willen Geltung verschafft. Gott liebt diese Welt, deshalb sendet er seinen Sohn – so sagt es das Johannesevangelium (Johannes 3,16).

Für das Leid in der Welt liefert der christliche Glaube keine Ermäßigung. Alles Leid, das geschieht, ist so schlimm wie es scheint. Das Christentum lehrt eine maximale Sensibilität für die Welt und allen Kummer in ihr. Eine umfassende Erinnerungskultur gehört deshalb zu Christentum – und der Karfreitag ist dabei der Höhepunkt. Mit Liedern und Passionsmusik, mit Bildern und Skulpturen gedenken wir des Leidens Jesu und erinnern damit zugleich an alles Leid, das in der Welt geschieht. Die Opfer werden nicht vergessen. In der Erinnerung an Jesu Sterben ist das Sterben all jener aufbewahrt, die wir vermissen und die uns so schmerzlich fehlen: alle Opfer von Gewalt und Willkür, alle Opfer von Katastrophen und Terrorakten, alle Opfer eines zu frühen Todes. Das Christentum hält die Sinnlosigkeit ihres Todes aus. Das ist seine große Wahrhaftigkeit und Stärke.

3. Dem Sinnlosen einen Sinn geben. Doch die Sinnlosigkeit des Todes behält nicht das letzte Wort. Ermutigt durch die Erscheinungen nach Ostern beginnt die Christenheit die Ereignisse des Karfreitags neu zu deuten. Die Deutungsmacht der Mörder Jesu, so überwältigend sie am Karfreitag noch erschienen ist, zerfällt. Die Anhänger Jesu lernen, das Leiden und Sterben Jesu mit anderen Augen zu sehen. Sie üben sich darin, die Perspektive Gottes einzunehmen, sie wagen es, den Weg Jesu als Weg der vollendeten Liebe zu begreifen. Das geschieht vorsichtig und in der Sprache des Mythos mit den Bildern der Auferstehung und des neuen Lebens. Doch mit den Jahren wird diese Umdeutung immer kühner.

Am kühnsten ist der Evangelist Johannes, dessen Karfreitagsbericht uns heute vorliegt. Trägt bei den übrigen Evangelisten Jesus die Züge eines Opfers, das hilflos der Gewalt seiner Mörder ausgeliefert ist, so ist bei Johannes Jesus der eigentliche Souverän der Handlung. Schon beim Verhör vor Pilatus inszeniert Johannes die Geißelung als versteckte Krönung. Jesus trägt Dornenkrone und Purpurmantel. Die Soldaten grüßen ihn als König der Juden und meinen ihn zu verspotten (Johannes 19,2-4). Sie meinen eine Parodie einer Kröning zu inszenieren. Doch hinter dieser Parodie wird erkennbar, dass aus göttlicher Perspektive tatsächlich ein König gekrönt wird, nämlich der wahre König, der von Gott selbst gesandt ist. Und folgerichtig fragt Pilatus das Volk: Soll ich euren König kreuzigen? (Johannes 19,15)

Die Umdeutung geht weiter: Bei Johannes trägt Jesus den Kreuzesbalken selbst nach Golgatha, er braucht keine Hilfe. Simon von Kyrene fehlt im Bericht. Jesu Kreuz steht im Zentrum der Hingerichteten, es ist der Mittelplatz des Herrschers. Über seinem Haupt steht die Aufschrift: „Jesus von Nazareth, der König der Juden.“ Sie ist gleich dreisprachig abgefasst wie manchmal auf öffentlichen Dokumenten der Antike. Und als sich die Hohepriester bei Pilatus über diese Aufschrift beschwert, da sagt Pilatus: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.“ Auf Lateinisch denkbar klar und knapp: Quod scripsi scripsi. So wird die Kreuzigung Jesu zur endgültigen Proklamation des von Gott gesandten Königs in allen Sprachen und vor aller Welt.

Und in seiner Kühnheit treibt der Evangelist Johannes die Umdeutung noch weiter: Bei der Kleiderverteilung entscheidet das Los – doch was die Soldaten aus Habgier tun, erscheint für den Evangelisten als Erfüllung einer Schriftprophezeihung. Dann wendet sich Jesus denen unter dem Kreuz zu, die ihn begleitet haben. Mit einer letzten Geste der Liebe befiehlt er seine Mutter Maria der Obhut des Lieblingsjüngers an: „Das ist dein Sohn. Das ist deine Mutter“. So schafft Jesus noch am Kreuz neue Familienbeziehungen, denn zur Familie Jesu gehören alle, die den Willen Gottes tun. Schließlich fehlt bei Johannes der Schrei der Gottverlassenheit beim Sterben Jesu. Vielmehr vollendet der souverän handelnde Gottesgesandte seine Mission. „Es ist vollbracht“, sagt Jesus. Griechisch: Tetelestai. Ein stolzes Wort. Der Wille Gottes ist ausgeführt. Die Sendung ist an ihr Ziel gekommen. Die Liebe hat sich vollkommen hingegeben und aufgezehrt. Sie hat sich auch durch Gewalt und Tod nicht schrecken und nicht vom Weg abbringen lassen.

Tetelestai. Es ist vollbracht. Der Evangelist Johannes wagt eine radikale und kühne Umdeutung des Todes Jesu. Dem scheinbar sinnlosen Sterben misst er höchste Bedeutung zu. Die Deutung der Mörder Jesu wird hinweggefegt. Neu installiert und zur Geltung gebracht wird die Perspektive Gottes: Der zu Tode Gefolterte hat die Mission der Liebe bis zuletzt durchgehalten. Keine Macht konnte diese Sendung aufhalten. Gott liebt diese Welt, Gott liebt seine Geschöpfe, daran ändert keine Gewalt etwas, daran ändert auch der sinnlose Tod nichts.

Die Umdeutung des Evangelisten Johannes ist kühn, aber sie ist nicht unwahrhaftig. Der Tod Jesu wird nicht geleugnet. Selbst der Auferstandene trägt bei den österlichen Erscheinungen die Wundmale des Gekreuzigten. Jesus kommt nicht zurück in sein altes Leben. Es ist nach Ostern nicht alles wieder wie früher. Der Schrecken des Todes bleibt Schrecken. Die Sinnlosigkeit des Sterbens Jesu bleibt ein Skandal. Die Mörder bleiben Mörder, es wird nichts ermäßigt, der Schmerz bleibt.

Aber das eine ändert sich doch: Der Mut zum Leben kehrt zurück. Den Mördern wir die Deutungshoheit über die Sendung Jesu entrissen. Der Evangelist führt die Perspektive Gottes, die Perspektive der Liebe ein. In diese Perspektive, das lehrt der Karfreitag, sollten wir alle Menschen rücken, die einen sinnlosen, einen zu frühen Tod gestorben sind. Denn Gott liebt seine Geschöpfe und hält zu ihnen, im Leben und auch im Tod. Das ist die Botschaft des Karfreitag: Gott liebt diese Welt. –Amen.