Umsonst und ohne Geld – Predigt zu Jesaja 55, 1-5 von Martin Weeber
55,1-5

Umsonst und ohne Geld – Predigt zu Jesaja 55, 1-5 von Martin Weeber

„There is no such thing as a free lunch“ – auf deutsch: Niemand spendiert Dir einfach so ein Mittagessen. In dieser sprichwortartigen Sentenz verdichtet sich die Lebenseinstellung des Misstrauens: Niemand gibt Dir etwas umsonst. Oder: Wer Dir etwas anscheinend umsonst gibt, der will in Wirklichkeit doch etwas dafür.

Diese Erfahrung findet vielfache Bestätigung. So haben wir inzwischen ja doch gemerkt, dass wir für viele der so praktischen Dienstleistungen des Internets zwar nicht mit Geld, aber eben doch mit unseren Daten bezahlen.

Wenn uns jemand etwas „einfach so“ anbietet, „umsonst und ohne Geld“, dann werden wir schnell misstrauisch: Die Sache muss doch einen Haken haben.

 

Umsonst und ohne Geld bietet uns im heutigen Predigttext einer etwas an, ein Marktschreier, der Aufmerksamkeit erwecken will. Stellen wir uns vor, wir seien auf einem Markt im Alten Orient.

Da kommt einer daher, bepackt mit seinen Waren, und er schreit mit lauter Stimme:

 

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter. Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des HERRN willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.

 

Wasser, Wein und Milch bietet er an, der Mann auf dem Markt. Ein Getränkehändler offensichtlich. Er geht davon aus, dass wir durstig sind. Und durstig sind wir Menschen ja alle. Vielleicht nicht in jedem einzelnen Moment, aber dem Grunde nach sind wir alle durstig. Ohne Wasser halten wir es nicht lange aus. Das wird besonders deutlich in einem heißen und trockenen Land, aber man kann es auch eindrücklich erfahren an einem heißen Sommertag bei uns, zumal wenn man körperlich arbeitet oder auf einer Wanderung unterwegs ist und die Wasservorräte erschöpft sind. Wie wunderbar, wie erfrischend, wenn man dann einen kühlen Schluck Wasser bekommt.

Dass wir durstig sind, das ist zunächst ein elementarer biologischer Sachverhalt, der uns übrigens mit den Tieren und auch mit den Pflanzen verbindet. Wie schnell gehen in Zeiten der Trockenheit die meisten Pflanzen zugrunde, wie sehr leiden Tiere, wenn sie nicht genügend zu trinken haben. Wie schlimm war für viele Landwirte der trockene Sommer des vorigen Jahres.

Wir brauchen Wasser. Und es ist schrecklich, dass Menschen in vielen Ländern unserer Erde keinen sicheren oder gar bequemen Zugang zu frischem und sauberem Wasser haben.

Aber dass wir Wasser brauchen – das ist auch ein Symbol dafür, dass wir Menschen überhaupt bedürftige Lebewesen sind: Wir haben Durst, wir haben Hunger, wir haben Bedürfnisse von vielerlei Art.

Wasser bietet der Getränkehändler an, aber auch Milch und Wein. Und jetzt müssen wir, wenn wir sein Angebot würdigen und verstehen wollen, ausnahmsweise mal nicht auf Ärzte oder Ernährungsberater hören, sondern uns klarmachen, worin nach biblischem Verständnis die Bedeutung von Milch und Wein liegen: Milch und Wein sind der Inbegriff von Überfluss und Freude. Wenn man Milch und Wein zu trinken hat, dann sind nicht nur die Grundbedürfnisse gestillt, sondern dann geht es einem richtig gut.

Wir Menschen brauchen mehr als nur das Notwendige: Wir brauchen auch das, was mehr ist als notwendig: Genuss, Geschmack, Fülle und Fest, Schönheit und Glanz. Die weiße Milch und der funkelnde Wein stehen in der Bibel für all das, was hinübergeht über das bloß Notwendige.

All das, was uns die Kultur bietet an Schönem und vordergründig Nutzlosem – all das brauchen wir auch. Und wir brauchen nicht nur die Zweckmäßigkeit der Schöpfung, sondern auch deren oft so überwältigende Schönheit. Furchtbar traurig wäre sonst das Leben. Und wo man Menschen die Schönheit nicht gönnt, da gönnt man ihnen im Grunde das Leben nicht.

Wir streben danach, uns das Leben schön zu machen. Aber ob wir dabei immer nach den richtigen Gütern streben – diese Frage stellt uns der orientalische Getränkeverkäufer auch: „Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?“

Wir wenden Geld und Mühe auf für Dinge, die uns doch nicht wirklich satt machen. Dass man zeigen kann, was man sich leisten kann: Das ist für viele Menschen offensichtlich ungeheuer wichtig. Demonstrativer Konsum. Ich will das gar nicht verächtlich machen; ich freue mich ja auch, wenn ich etwas Schönes besitze. Aber der merkwürdige Getränkeverkäufer, der gar kein Geld will für Wasser, Milch und Honig, der weist schon auf ein wichtiges Problem hin: Manches Mal sind die Mühen wirklich gar zu groß, die Menschen sich auferlegen, um an Dinge zu gelangen, die begehrt und teuer sind. Anderes wird dann oft vernachlässigt. Etwa, wenn jemand unglaublich viel Zeit und Kraft in seine Karriere steckt, aber dann gar keine Zeit mehr findet für Familie und Freunde oder für sich selber. Gute Frage deshalb: „Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?“

Irgendwann offenbart der merkwürdige Getränkehändler sein Geheimnis: Er verschenkt gar nicht nur Getränke, er verschenkt Worte, Worte des Lebens: „Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!“

Auch das brauchen wir zum Leben und im Leben: Gute Worte, die zu uns gesagt werden. Für den Getränkehändler sind diese guten Worte die Zusagen, die Gott einst dem David und durch ihn dem Volk Israel und schließlich allen Völkern gemacht hat. Er spricht nun gewissermaßen mit Gottes eigener Stimme, wenn er sagt: „Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter. Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des HERRN willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.“

Wir Menschen sind bedürftige Lebewesen. Wir brauchen das Notwendige und das Mehr-als-Notwendige. Und wir brauchen gute Worte: Wasser, Milch, Wein, Schönheit, Fülle, Überfluss – und Worte, die für uns sind, als redete Gott selber direkt zu uns.

Solche Worte finden wir mit großer Zuverlässigkeit in der Bibel – und darum lohnt sich deren Lektüre immer wieder. Wir finden da auch manches, was uns fremd bleibt und manches, was uns verstört. Aber eben doch immer wieder können wir es erleben, dass biblische Geschichten und Worte und sprachliche Bilder so zu uns zu sprechen beginnen, dass wir merken: Hier spricht mich Gott ganz passend und persönlich an, so als sei diese oder jene Passage geradewegs für mich geschrieben. Wenn wir das erleben, dann können wir den Sinn der alten Formeln nachvollziehen, die in prägnanter Kürze sagen, die Bibel sei nichts anderes als Gottes Wort. Solche Formeln verlieren für uns dann den Charakter bloßer Behauptungen. Sie werden dann zum verdichteten Ausdruck von Erfahrungen, die wir selber auch machen können: Ja, hier spricht Gott mich an.

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!

 

Das Notwendige und auch das Schöne – wir bekommen es umsonst und ohne Geld.

Ganz so allgemein und ohne Einschränkungen kann man das freilich doch nicht sagen: Wie unglaublich müssen sich viel zu viele Menschen in viel zu vielen Ländern immer noch abmühen und anstrengen, um ihr nacktes Überleben zu sichern. Wie mühsam müssen sie ihr weniges Geld verdienen. Das dürfen wir nicht ausblenden. Nicht überall geht es den Menschen so gut wie uns in unseren Breiten und Zeiten. Wie nachvollziehbar ist es deshalb, dass Menschen sich auf den Weg zu uns machen.

Aber auch wenn wir die blanke Not, die anderswo herrscht, nicht ausblenden, so tut es doch gut, wenn wir daran erinnert werden, wie gut es uns tatsächlich geht. Denn die Dankbarkeit für unser Wohlergehen bringt uns doch dazu, Menschen zu unterstützen, denen es nicht so gut geht, wie uns. Und es ist ja wirklich immer wieder beeindruckend, wie sehr Menschen bereit sind, sich für andere Menschen einzusetzen, die der Unterstützung bedürfen. Da wird ganz viel getan und gegeben.

Das Notwendige und auch das Schöne – wir bekommen es umsonst und ohne Geld.

 

Ein amerikanischer Philosoph, Michael J. Sandel, hat ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel: „Was man für Geld nicht kaufen kann.“ Er geht aus von der Beobachtung, dass in unseren modernen Gesellschaften sehr vieles käuflich geworden ist. So kaufen sich zum Beispiel Konzerne die Namensrechte an großen Stadien: Aus dem Frankfurter Waldstadion wurde so die „Commerzbank-Arena“ und aus dem Stuttgarter Neckarstadion die „Mercedes-Benz-Arena“. Auf diese Art und Weise geht aber leicht das Gefühl dafür verloren, dass es Dinge oder Einrichtungen gibt, die uns allen gehören. Sandel beschreibt, wie zerstörerisch es für unser Zusammenleben ist, wenn der Eindruck erweckt wird, alles sei käuflich. Das Problem freilich ist kein modernes. Seit ältesten Zeiten gibt es etwa die sogenannte „käufliche Liebe“ – und es war schon immer klar, dass diese gekaufte Liebe keine wahre Liebe ist, sondern höchstens ein vorgespieltes Begehren. Was mit einem Preis versehen wird, verliert sehr schnell seinen Wert. Es muss Dinge geben, die wir für Geld nicht kaufen können.

Ein Leben, in dem wir für alles bezahlen müssten, wäre ein furchtbares Leben. Es muss im Leben immer auch noch vieles geben, was wir „umsonst und ohne Geld“ bekommen. Und es ist wichtig, dass wir den Sinn dafür nicht verlieren, was uns alles geschenkt wird: Das Licht der Sonne, die Liebe der Menschen, der Klang der Musik, die Schönheit der Sprache, der Glanz in den Augen eines Kindes, das sich freut. Es ist so unendlich viel, was Gott uns da gibt und gönnt.

 

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!

 

Noch einmal zurück zu dem Angebot des Getränkeverkäufers und zu seiner Werbeparole: „Das Wesentliche umsonst.“ Hat es nicht doch einen Haken?

Wir haben vorhin, als wir gedanklich dem Text entlanggegangen sind, gemerkt, dass es Gott ist, der sich in die Gestalt des Getränkeverkäufers verkleidet.

Gott selber sagt das zu uns: Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!

Hat Gottes Angebot einen Haken? Ist es im Blick auf Gott doch auch so, dass man sagen muss: „There is no such thing as a free lunch“ – auf deutsch: „Niemand spendiert Dir einfach so ein Mittagessen.“

Ich muss gestehen: Ich tue mich hier schwer mit einer Antwort.

Eigentlich bin ich es gewohnt, so zu denken, dass Gott uns zwar viel gibt, dass er aber auch etwas dafür von uns will: Vertrauen, Gehorsam, Anbetung, Lob.

„Gebt unserm Gott die Ehre!“ Mit dieser Aufforderung endet jede Strophe eines alten Gesangbuchliedes („Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“, EG 326).

Also doch ein Angebot mit Haken? Berechtigtes Misstrauen?

Versuch einer Antwort: Wenn wir merken, wie viel Gutes Gott an uns tut, dann schenken wir ihm Vertrauen, Gehorsam, Anbetung, Lob und Ehre.

Aber wir schenken ihm das alles aus freien Stücken – nicht, weil wir es müssten. Nicht, weil wir im Kleingedruckten etwas übersehen hätten. Gottes Güte öffnet uns Herz und Hände. Umsonst und ohne Geld geben wir, was wir geben können – Gott und den Menschen. Gottes gutes, sein gütiges Wort lässt uns herzlich sein und großzügig und gütig. Und genau darin erweist es sich uns als göttliches Wort. Amen