Vom Singen und vom Zagen - Predigt zu Apostelgeschichte 16,23-34 von Sören Schwesig
16,23-34

Vom Singen und vom Zagen - Predigt zu Apostelgeschichte 16,23-34 von Sören Schwesig

Liebe Brüder und Schwestern,

der Sonntag Kantate ist geprägt von Gotteslob und frohen Liedern. So haben wir heute Morgen schon miteinander gesungen: „Die beste Zeit im Jahr ist mein“ und „Lob Gott getrost mit Singen“. Es singt sich ja auch gut an so einem schönen frühsommerlichen Tag, in dieser hellen und freundlichen Kirche mit schöner Orgelbegleitung.

Ganz anders unsere heutige Predigtgeschichte. Sie erzählt von Paulus und Silas. Beide sind als Missionare für die Sache Gottes unterwegs. In unserer Geschichte singen auch die beiden. Aber sie sitzen dabei nicht auf bequemen Bänken, sondern im Gefängnis, in das man sie mit dem Vorwurf, sie würden Menschen aufwiegeln, geworfen hat. Alles andere als komfortabel damals in der Stadt Philippi. Ich lese Acta 16, 23-43:

Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen. Der (…) warf sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Gott Loblieder. Und die Gefangenen hörten sie. Plötzlich aber kam ein großes Erdbeben. Die Grundmauern des Gefängnisses wankten, alle Türen öffneten sich und von allen fielen die Fesseln ab. Als der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Gefängnistüren offen, wollte er sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief: Tu dir nichts an; wir sind alle hier! Da forderte der Aufseher ein Licht, stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Und sie erzählten ihm und seinem ganzen Haus von Jesus Christus. Da nahm er sie zu sich in sein Haus und wusch ihre Wunden. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, daß er zum Glauben an Gott gekommen war. Als es aber Tag geworden war, sandten die Stadtrichter die Amtsdiener und ließen sagen: Laß diese Männer frei!

Es fällt schwer von dieser Geschichte einen Bezug herzustellen zu unserer Situation und unserem Singen heute Morgen. Denn das, was in dieser Geschichte zunächst passiert, ist düster, lässt einen eher verstummen, schnürt einem eher die Kehle zu, als dass man singen möchte. Was ist passiert?

Paulus und Silas erzählen den Menschen von Jesus Christus. Sie kommen dabei in viele Städte, finden hier und dort Anhänger und erleben hier und dort Gastfreundschaft von wohlwollenden Menschen. Aber nicht nur. In Philippi etwa begegnet man ihnen feindlich. Nicht deshalb, weil sie das Evangelium von Jesus Christus öffentlich verkündigen, sondern weil sie einem Menschen sein Geschäft verhagelt haben. Und das kam so:

Eine Sklavin hatte die Gabe wahrzusagen. Sehr lukrativ für ihren Besitzer. Wer über seine Zukunft erfahren wollte, konnte das – aber nur gegen einen gesalzenen Geldbetrag. Die Sklavin musste jederzeit ihre Gabe einsetzen, ob sie wollte oder nicht. Ein lukratives Geschäft.Als sie aber Paulus und Silas begegnete, spürte sie wohl den Geist, der von beiden ausging und folgte ihnen. Wahrscheinlich wünschte sie sich nichts inständiger, als das Ende ihrer Versklavung. Sie heftete sich an die Fersen der beiden, bis es Paulus zu viel wurde. Er drehte sich um „und sprach zu dem Geist in ihr: Ich gebiete dir im Namen Jesu Christi, dass du von ihr ausfährst.“ Ab diesem Augenblick war ihre Gabe zu Weissagen verschüttet. Sie war frei. Befreit von ihrer menschenverachtenden Vermarktung. Aber damit war auch das einträgliche Geschäft ihres Herrn dahin.

Der war so empört über Paulus und Silas, dass er, um ihnen zu schaden, ein altes Klischee auspackte: „Diese bringen unsere Stadt in Aufruhr; und sie sind Juden.“ Ein interessantes Phänomen: Gibt es wirtschaftliche Einbußen, sucht man nach einem Schuldigen. Und da kommen einem die Juden als Sündenböcke gerade recht. Das Philippi des Jahres 50 nach Christus unterscheidet sich gar nicht so sehr vom Deutschland beispielsweise des Jahres 1938: „Die Juden sind unser Unglück.

Paulus und Silas werden misshandelt und ins Gefängnis geworfen, an Leib und Seele zutiefst verletzt, die Füße im Block. Sie haben keine Ahnung, ob sie je wieder diesem Kerker entkommen werden.

Ihre Situation erinnert mich an eine Geiselnahme von Europäern auf einer philippinischen Insel vor einigen Jahren. Ihre Lage war entsetzlich. Das Schlimmste, so berichtete nach der Befreiung eine Geisel – das schlimmste war zu erleben, wie allmählich Lebensmut und Lebenswillen schwinden.

In einem alttestamentlichen Psalm betet einer: „Gott, hilf mir, das Wasser geht mir bis zur Kehle. Ich habe mich müde geschrieen, mein Hals ist heiser. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du, Gott, legst mich in des Todes Staub.“ Vielleicht beten Paulus und Silas diese Worte um Mitternacht. Dann, wenn die Nacht am dunkelsten ist und der neue Tag noch in unendlicher Ferne liegt. Es ist eine Klage aus der Tiefe. Es spricht Verzweiflung aus diesem Singen, Schreien und Beten. Aber dieses Singen ist ein Beten. Da wendet sich jemand einer anderen Macht zu. Da klagt einer Gott an, der möge doch eingreifen.

Die Psalmen Israels bringen dieses Singen, Schreien, Beten auch aus tiefster Verzweiflung zum Ausdruck. Die Psalmen Israels haben Menschen durch die Jahrhunderte hindurch gebetet, weil die Angst ihnen nicht die Kehle zuschnüren und die Verzweiflung sie nicht zum Verstummen bringen sollte.Wenn ein Mensch aus der tiefsten Tiefe nach Gott ruft, ist das ein Aufbegehren gegen den Tod. Das Rufen nach Gott aus der Tiefe ist das „Dennoch“ des Glaubens. „Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand.“

Wer so klagt, spricht keinen Lobgesang. Das kann auch nicht sein. Es gibt eine Zeit der Klage und eine Zeit des Lobens. In unserer Erzählung aber wird aus dem Klagen sehr schnell ein Loben. Schauen wir den Ablauf der Ereignisse an: die Klage um Mitternacht, dann das plötzliche Erdbeben, die wundersame Befreiung aus dem Gefängnis und die Bekehrung des Gefängniswärters.

Auf engstem Raum beschreibt die Erzählung, wie das Singen und Beten in der Nacht der Verzweiflung eine Wende im Leben der beteiligten Menschen bewirkt hat. Durch das Singen haben Menschen Befreiung erfahren. Ganz unterschiedlich: Paulus und Silas werden ihre Ketten los und können das Gefängnis verlassen. Die anderen Gefangenen hören ihr Singen und schöpfen neuen Mut, der vielleicht schon erstorbene Lebenswille kam wieder.

Wie später bei Paul Schneider. Paul Schneider, der von den Nazis im KZ Buchenwald eingesperrte Pfarrer. Jede Nacht betete und sang er in seinem Bunker lauthals Lieder. Die anderen Mitgefangenen hörten das. Paul Schneider überlebte das KZ nicht. Aber viele der Mithäftlinge berichteten, das Schreien, Singen und Beten dieses mutigen Pfarrers habe sie damals am Leben erhalten. Auch das war ein Schreien, Singen und Beten gegen die Verzweiflung, ein Aufbegehren gegen den Tod.

Auch der Gefängniswärter in unserer Geschichte erlebt durch dieses Singen der Gefangenen um Mitternacht Befreiung - im übertragenen Sinne. Denn die singenden Gefangenen sind nicht geflohen, sondern blieben wo sie waren. „Tu dir nichts an“, sagt Paulus dem zu Tode erschrockenen Gefängnisaufseher. Bleib am Leben und komm zum Leben. Und Paulus erzählt ihm von Jesus Christus, der Menschen freimacht, so dass sich der Wärter taufen lässt.

Singen befreit – das ist die Botschaft dieser Geschichte von Paulus und Silas. Singen befreit, wenn es eine andere Macht ins Spiel bringt. Singen befreit, wenn es beides ist: Kyrie und Gloria, Ausdruck der Verzweiflung und Ausdruck der Errettung.

Keiner von uns hat wohl eine ähnliche Situation der Einkerkerung wie Paulus und Silas schon erlebt. Gott sei Dank sitzen wir auch nicht in einer Bambushütte im Urwald und sind einer Bande von Terroristen ausgeliefert. Aber jeder von uns kennt seine eigenen Gefängnisse und kann benennen, was uns manchmal die Kehle zuschnürt: Die Sorge um die Gesundheit und das Leben eines geliebten Menschen; die Trauer, die einfach nicht weichen mag; die Belastungen im Berufsleben, die nicht zu überblicken sind. Wir kennen unsere eigenen Gefängnisse: Angst, Sorge, Trauer.

Durch Paulus und Silas sollen wir heute zum Singen ermutigt werden. Mag es auch ein klagender Gesang sein. Wichtig ist: Gott hört uns. Das allein ist wichtig. Gott hört uns. Und was uns Christen versprochen ist, ist dieses: Dass unser Schreien, Singen und Beten aus der Verzweiflung heraus einmal aufgehoben sein wird in einem Lobgesang, der Gott besingt als den, der uns von allen Gefängnissen und Qualen befreit hat.

Möge Gott alle Klage dieser Welt hören. Und möge er unsere Klage in einen Lobgesang wandeln, vielleicht nicht heute und auch noch nicht morgen. Aber einmal wollen wir den Lobgesang anstimmen und unserem Gott danken dafür, dass er uns befreit hat. Dann wird es hoffentlich auch einmal von uns heißen: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihre Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“

Amen.