Vom Vergehen des Lebens und den Worten, die bleiben - Predigt zu Markus 13, 31-37 von Dieter Splinter
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Vom Vergehen des Lebens und den Worten, die bleiben - Predigt zu Markus 13, 31-37 von Dieter Splinter

Vom Vergehen des Lebens und den Worten, die bleiben

Christus spricht: Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.

Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit und gebot dem Türhüter, er solle wachen: so nun wachsam; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!

I.

Liebe Gemeinde!

Da ist auf der einen Seite das, was unser Leben bestimmt. Auf der anderen Seite steht die gute Nachricht, das Evangelium. Und dazwischen gibt es ein  Geheimnis, das sich nicht ergründen lässt..

II.

„Seht euch vor, wachet! … Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!“ Am letzten Sonntag des Kirchenjahres, am Toten- und Ewigkeitssonntag, mahnt uns Christus, wachsam zu sein.

An diesem Sonntag gibt es nämlich etwas zu entdecken, was nur schwer zu ertragen ist: Wir werden vergehen. Der Tod nagt mit der Zeit an uns. Jedes Haar, das uns ausfällt, jeder Zahn, der uns gezogen wird, jeder Krankheit, die wir mehr oder weniger gut überstehen, erinnert uns daran, dass unser Leben ein Ziel hat und wir davon müssen. Ja, nicht nur wir selber werden vergehen. Auch „Himmel und Erde werden vergehen“.  Darum die Mahnung Jesu, die an alle ergeht: „Seht euch vor, wachet!“

Ob wir diese Mahnung nötig haben? Ich meine: ja! Ich jedenfalls habe lange gebraucht, um die Frage nach dem eigenen Tod wirklich an mich heran zu lassen. Es sterben ja immer nur die anderen.

Die Vorstellung nicht mehr zu sein, hat in der Tat etwas erschreckendes. Darum haben die meisten von uns Wege gefunden, dieser Vorstellung zu entgehen. Verdrängen nennen das die Psychologen. Manche von ihnen sagen uns, dass das Verdrängen durchaus etwas Gutes habe. Lebenskräfte würden gesteigert, schließlich halte es keiner lange bei dem Gedanken an den eigenen Tod aus. Zudem setze das Verdrängen Energie frei: Energie zur Erforschung und Beseitigung von Krankheiten; Energie, um Hilfen zur  Lebenserleichterung jedweder Art zu schaffen; Energie, um Spuren zu hinterlassen, die lange bleiben.

Wir aber werden von Christus heute am Toten- und Ewigkeitssonntag daran erinnert, was unser Leben unweigerlich bestimmt – und was im Grunde alle wissen, aber nur zu gern nicht wahrhaben wollen: „Himmel und Erde werden vergehen.“  Das geschieht nicht erst in ferner Zukunft. Das geschieht schon jetzt. Der Tod nagt mit der Zeit an uns. „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“ So sagt es ein altes Kirchenlied.

Am heutigen Toten- und Ewigkeitssonntag wird das deutlich. Viele trauern um Menschen, die im nun zu Ende gehenden Kirchenjahr von ihnen gegangen sind. Für immer. Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Pläne konnten nicht mehr verwirklicht werden. Eine Lücke bleibt zurück. Je größer die Nähe zum Verstorbenen war, desto größer ist diese Lücke. So wie wir um die Verstorbenen trauern, die ganz nah an unserem Herzen waren, so wird man auch einmal um uns trauern. Wir sind selber in das Vergehen des Lebens einbezogen. Der Tod nagt mit der Zeit an uns. Mit der Zeit vergehen auch wir. Dieses Gesetz bestimmt unser Leben.

„Manchen Menschen geht so schlecht, dass dieses Gesetz im Augenblick ihre einzige Hoffnung ist. Mit allen Fasern ihres gequälten Leibes wünschen sie das Ende ihres Lebens herbei. Für viele andere hingegen ist dieses Gesetz hart, unerträglich herzzerreißend – weil es erbarmungslos unsere Endlichkeit feststellt.“ (Manfred Josuttis: Offene Geheimnisse. Predigten, Gütersloh 1999, S. 137.)

III.

Was sagt Jesus Christus dazu? „Meine Worte aber werden nicht vergehen.“ Offenbar gibt es Worte, die bleiben. Sie gehen mit einem. Sie tragen einen. Sie machen Mut. Herta Müller berichtet in ihrem Roman „Atemschaukel“ von solch einem Wort.

Darin schildert sie den Lebensweg des jungen Leopold Auberg aus Hermannstadt in Siebenbürgen, Rumänien. Rumänien war im Zweiten Weltkrieg mit Deutschland verbündet. Kurz vor Kriegsende wechselt die rumänische Regierung die Fronten und schlägt sich auf die Seite der Sowjetunion. Im Januar 1945 verlangt Stalin von der rumänischen Regierung alle Deutsche aus Siebenbürgen zwischen 17 und 45 Jahren an die Sowjetunion auszuliefern. Sie sollen dort in Arbeitslagern zum Wiederaufbau beitragen.  Patrouillen ziehen von Haus zu Haus, um jene abzuholen, die deportiert werden sollen. Leopold Auberg berichtet es im Roman von Herta Müller so:

„Ich setzte mich an den Tisch und wartete auf Mitternacht. Und Mitternacht kam, aber die Patrouille hatte Verspätung. Drei Stunden mussten vergehen, das hielt man fast nicht aus. Dann waren sie da. Die Mutter hielt mir den Mantel mit dem schwarzen Samtbündchen hin. Ich schlüpfte hinein. Sie weinte. Ich zog die grünen Handschuhe an. Auf dem Holzgang, genau dort, wo die Gasuhr ist, sagte die Großmutter: ICH WEISS DU KOMMST WIEDER. Ich habe mir diesen Satz nicht absichtlich gemerkt. Ich habe ihn unachtsam mit ins Lager genommen. Ich hatte keine Ahnung, dass er mich begleitet. Aber so ein Satz ist selbständig. Er hat in mir gearbeitet … ICH WEISS DU KOMMST WIEDER … Weil ich wiedergekommen bin, darf ich das sagen: So ein Satz hält einen am Leben.“ (Herta Müller: Atemschaukel.Roman, München 2009, S. 14.)

Es gibt Worte, die bleiben. Sie gehen mit einem. Sie tragen einen. Sie machen Mut. Es sind Worte, die nicht vergehen. ICH WEISS DU KOMMST WIEDER. Manchmal finden Menschen Worte, die übersetzen die mutmachenden Worte Jesu ins Hier und Heute. Jesus Christus spricht: „In der Welt habt ihr Angst, doch siehe, ich habe die Welt überwunden.“ Die Übersetzung: ICH WEISS DU KOMMST WIEDER. Jesus Christus spricht: „Meine Worte werden nicht vergehen.“

Seine Worte ergreifen uns bis heute. Sie machen Mut zum Leben und zum Sterben. Mit ihnen kann man das Zeitliche segnen, weil sie der vergehenden Zeit entzogen sind. Jesu Worte werden noch da sein, wenn wir längst vergangen sind. Doch heute gelten sie ganz und gar uns. Denn das die gute Nachricht, das Evangelium: Inmitten der vergehenden Welt ergreifen uns die Worte Jesu. Sie bleiben und vergehen nicht – Worte wie: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden!“

IV.

Da ist also auf der einen Seite das, was unser Leben bestimmt: Es vergeht. Der Tod nagt mit der Zeit an uns. „Himmel und Erde werden vergehen.“ Das ist das Gesetz unseres Lebens.  Auf der anderen Seite steht das Evangelium, die gute Nachricht: Jesu Worte vergehen nicht. Sie ergreifen uns inmitten der vergehenden Welt. Sie machen Mut. Sie geben  Kraft. Und sie lassen  uns etwas von der Ewigkeit ahnen. Im letzten Buch der Bibel hat der Seher Johannes diese Ahnung so ausgedrückt: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen … und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein...“. (Offenbarung 21, 1 und 4)

Zwischen beidem aber – dem Leben, das vergeht, und den Worten Jesu, die nicht vergehen  - gibt es ein Geheimnis, das sich nicht ergründen lässt. Jesus beschreibt es so: „Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.“

Das ist ein merkwürdiger Satz. Jesus hat zwar etwas zu offenbaren – „Himmel  und Erde werden vergehen“ - aber weder er noch die Engel im Himmel wissen, wann das endgültig der Fall sein wird. Nur Gott, der Vater, allein weiß es.

Das hat die Endzeitpropheten aller Zeiten nicht davon abgehalten zu berechnen, wann dieser Tag eintritt. Doch ist es zwecklos nach den „Zeichen der Zeit“ Ausschau zu halten und sie deuten zu wollen: Kriege, Seuchen, Klimawandel, Erdbeben, Taifune, Hungersnöte, Zerrüttung der öffentlichen Moral. All das ist nur Teil der oftmals verstörenden und empörenden, aber alles in allem sich doch häufig wiederholenden Menschheitsgeschichte. Ein Hinweis auf das unmittelbar bevorstehende  Ende der Welt ist es nicht.

Wann das sein wird, können wir nicht wissen. Es ist und bleibt das Geheimnis Gottes. Das ist bei ihm gut aufgehoben. Darauf  gilt es wachsam zu reagieren, nicht aber ängstlich. Zwar gilt: „Himmel und Erde werden vergehen“. Doch dem steht der Satz Jesu entgegen: „Meine Worte aber werden nicht vergehen.“  Seinen Worten lasst uns trauen. Sie sind ja noch da, wenn wir nicht mehr da sind. Mit ihnen will er uns ergreifen, wenn wir zu fallen drohen und  ängstlich, niedergeschlagen und voller Trauer sind: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Und so bewahre der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

(Wesentliche Impulse verdankt diese Predigt der schon zitierten Predigt von Manfred Josuttis „Vergehen“, in:  Offene Geheimnisse. Predigten, Gütersloh 1999, S.136-138; weitere Literatur: Martin Hauff/Kristin Merle: Von Worten, die nicht vergehen, Markus 13, 31-37, Ewigkeitssonntag, in: Predigtstudien für das Kirchenjahr 2012/2013, Perikopenreihe V – Zweiter Halbband, Hg. Von Wilhelm Gräb et al., Freiburg im Breisgau 2013, S. 249-256)