"Vom Verstummen befreit", Predigtmeditation zu Lukas 11,14 -23 von Esther Kuhn-Luz
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"Vom Verstummen befreit", Predigtmeditation zu Lukas 11,14 -23 von Esther Kuhn-Luz

 Vom Verstummen befreit
  
  „ Aus diesem Grund ist es bemerkenswert, dass im Neuen Testament das Dämonische sich gerade erst zeigt, wenn Christus an es herantritt und die Erscheinung ist die gleiche, ist Angst vor dem Guten; denn die Angst kann sich ebenso gut ausdrücken im Verstummen wie im Schrei.“ (S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, GW 11/12, S.122f)
  
  
  Verstummen- das ist etwas anderes als von Geburt an stumm auf zu wachsen.
  Traumatische Ereignisse – Missbrauch, Kriegserlebnisse, physische und psychische Gewalterfahrungen – lassen Menschen verstummen. Dazu gehören auch Mikrotraumatisierungen von ständigen Kränkungen oder einer Missachtung der Leistung.
  In vielen Arbeitsbeziehungen ist das Realität. Diese Menschen erleben das durchaus so, dass sie „besetzt“ sind mit diesen Erfahrungen. Traumatisierte Menschen leiden schwer darunter, dass sie keine Worte haben für das, was sie fühlen – auch keine inneren Worte mehr. Deswegen besteht ja einer der wichtigsten Aufgaben in der Therapie darin, den erlittenen und verdrängten Schmerz  ausdrücken zu können – mit Worten oder in Bildern – um von dieser traumatischen „ Besetzung“ befreit zu werden – um wieder eine eigene Stimme, ein eigenes Leben zu bekommen.
  Eines der eindrücklichsten Bilder ist für mich in diesem Zusammenhang das Bild von Edward Munch  „ Der stumme Schrei“.
  Das tut körperlich weh, diesem geplagten Menschen zu zuschauen, das Gesicht von Erschrecken gezeichnet – der Mund weit zum Schrei aufgerissen – aber der Schrei bleibt stumm. Das erlösende laute Klagen oder Schreien kommt nicht – alles Entsetzen bleibt in ihm wohnen.
  „ Und Jesus trieb einen bösen Geist, eine dämonische Macht aus. Die war stumm.
  Und es geschah, als sie ausgefahren war, da redete der Stumme.
  Und die Menge verwunderte sich.“
  
  Als „ böser Geist“, „ dämonische Macht“ wird das im Evangelium beschrieben, wenn Menschen innerlich so bedrängt sind, dass sie keinen Zugang mehr haben zu ihrer eigenen Persönlichkeit – keinen Zugang mehr zu ihrer Lebenskraft und ihrer Hoffnungskraft.
  Man kann eine Weile lang so leben, nach außen noch funktionieren- aber der innere Schmerz wird immer größer: sich selber nicht mehr zu spüren. Und die Angst wächst, den Anforderungen von außen nicht mehr gewachsen zu sein.
  Die Angst macht eng – schnürt die Kehle zu und lässt Menschen verstummen.
  In dieser Heilungsgeschichte wird zunächst nur von der dämonischen Macht gesprochen , die stumm macht. Erst nach der Heilung kommt der Mensch in den Blick: da redete der Stumme, der Verstummte. Christus ist gekommen, den Bedrängten, den Stumm gemachten, wieder ihre  eigene Stimme zu geben. So erleben Menschen, dass sie wieder über ihre Menschlichkeit verfügen. Das sind existentielle Erfahrungen, die eigene Würde, das eigene Selbstbewusstsein zu erleben, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle in eigener Sprache ausdrücken zu können.
  
  Eigentlich genügen diese 2 Verse . Sie geben genügend Stoff für eine Predigt. Wir erleben in unserer Zeit viele Menschen, denen die Hoffnung, die Würde, das Selbstvertrauen genommen, die stumm gemacht wurden. Durch eine immer härtere Konkurrenzwelt, durch Mobbing, durch diese rasende Gesellschaft, in der scheinbar die Zeit zum Nachdenken nicht mehr vorkommen kann. Wer dafür aber keine Zeit mehr hat wird immer mehr zur Getriebenen – und verliert nach und nach das gute Bewusstsein dafür, was die eigenen Positionen, die eigenen Fähigkeiten, die eignen Grenzen ausmachen. ( „ Alles hat seine Zeit – nur ich habe keine“ heißt zu dieser Thematik das neue Buch von Karlheinz A. Geißler, dem Mitbegründer der „ Ökologie der Zeit“.)
  Wir erleben in unserer Zeit aber auch, wie stumm Gemachte ihre eignen Worte, ihre eigene Sprache finden: Menschen in den verschiedenen arabischen Ländern haben ihre Wut über ihre jahrzehntelange Erniedrigung , aber auch ihre politischen Visionen von einem befreiten, würdevollen Leben in deutlichen Worten, an öffentlichen Orten, mit unwahrscheinlich viel Mut und Begeisterung zur Sprache gebracht – und vieles hat sich geändert. In Tunesien wählen die Menschen ihre eigene Verfassung – in Libyen ist endlich die vierzigjährige Diktatur von Gaddafi zu Ende gegangen.
  
  Auch die occupy-Bewegung von zumeist jungen Menschen, die vor ein paar Wochen an der Wallstreet in New York begonnen hat und jetzt in vielen europ. auch deutschen Großstädten zu Demonstrationen gegen die Übermacht des Finanzkapitalismus aufruft, ist so ein ermutigendes Beispiel, wie Menschen befähigt werden, ihre eigene Stimme zu nutzen, um dagegen zu protestieren, wie undemokratische, unregulierte  „ Mächte“ der Finanzwelt (dazu gehören auch die Spekulationen auf Nahrungsmittel) das alltägliche Leben von immer mehr Menschen auf diesem Globus zerstören.
  
   Aber der Text im Lukasevangelium nimmt die Heilung, die Befreiung von der dämonischen Macht nicht zum Anlass, über die weitere Lebensgeschichte  dessen zu erzählen, der wieder die eigene Stimme bekommen hat – „ zum Lobe Gottes“.
  Nein – erzählt wird eher, wie diese Heilung auf die Umwelt wirkt.
  Man könnte sich vorstellen, dass von großer Freude erzählt wird, wie alle mitjubeln…. Aber wenn die Heilung nicht auf das eigene Konto geht, dann sind oft Gefühle wie Neid, Konkurrenz, Missgunst, Ärger viel stärker als die Mitfreude mit dem Befreiten.
  Dann geht es um Macht.
  Und um falsche Vorwürfe.
  „ Mit Hilfe von Beelzebub, dem Obersten der dämonischen Mächte, treibt er die Dämonen aus.“
  Dieser kleine Vers ist ja in unserem Kontext mit einer gewissen Verschiebung zu einem Sprichwort geworden: mit dem Beelzebub den Teufel austreiben.
  Das bedeutet: mit der einen schlimmen Macht die andere schlimme Macht austreiben.
  Auf einer Tagung für Schwerbehindertenvertretungen ging es um die Unterscheidung von angeborenen und erworbenen Behinderungen – und um die Bedeutung der Medikamente.
  Ein Teilnehmer klagte: „ Die Medikamente, die ich nehmen muss, haben so starke Nebenwirkungen – da treibe ich ja mit dem Beelzebub den Teufel aus.“ Worauf der Referent, der stark unter Parkinson litt erwiderte: „ Aber der Beelzebub ist manchmal besser als der Teufel – meine Medikamente ermöglichen mir immerhin, noch einiger maßen selbstständig zu leben!“
  
  Jesus nimmt diesen Vorwurf ganz anders auf.
  Er hat direkt vor unsrem Text im Lukasevangelium mit der Geschichte um den bittenden Freund die Menschen aufgefordert, Gott um den heiligen Geist zu bitten, denn diese Kraft Gottes wirkt befreiend. Und die Geschichte mit der Befreiung von der stummmachenden  inneren „Besetzung“ ist für Jesus ein Beispiel dafür, dass die Geisteskraft Gottes spürbar befreiend wirkt. Eine eigene Stimme zu finden heißt ja, den Zugang zur eigenen  Persönlichkeit zu haben, sich mit eigener Meinung  in vielfältiger Weise äußern zu können  -  und das ist unabhängig davon, ob Menschen von Geburt an, quasi als erworbene Behinderung, nicht sprechen können.
  Die  heilende Kraft Jesu besteht darin, sich mit „ zerstörerischen Kräften“ auseinander zusetzen, die es verhindern, zu einer „eigenen Stimme“ zu kommen.
  In diesem Zusammenhang ist mir das Morgenlied „ Wach auf mein Herz und singe“ von Paul Gerhardt sehr wichtig geworden. Da wird die nächtliche Auseinandersetzung zwischen dem bedrängenden quälenden Geist - die „ dunklen Schatten“ -   und der befreienden Geisteskraft Gottes für mich sehr berührend beschrieben. „ Heut, als die dunklen Schatten mich ganz umgeben hatten, hat Satan mein begehret. Gott aber hat’s gewehret. Er sprach: Mein Kind, nun liege, trotze dem, der dich betrüge, schlaf wohl, lass dir nicht grauen, du sollst die Sonne schauen.“
  Und dann als Antwort auf die befreiende Erfahrung durch den Geist Gottes: „ Dein Wort, das ist geschehen, ich kann das Licht noch sehen, von Not bin ich befreit, dein Schutz hat mich erneut.“
  
  Der Vorwurf, Jesu nutze die Macht des „ Obersten“ der Dämonen, um die unterdrückenden Mächte zu unterwerfen, zeigt vor allem etwas vom Denken derjenigen, die ihm das vorwerfen.
  Jesus lässt sich auf die Denkstruktur seiner Gesprächspartner ein.
  „ Mal angenommen, ich würde wirklich die bösen Geister mit dem Beelzebub austreiben – das wäre ja auch schon eine Bankrotterklärung der „ dämonischen Mächte“: denn es ist keine eigenständige Kraft mehr. Sie haben ihre Macht verloren!“
  
  Das Lied von Johann Ludwig Konrad Altendorf „Jesus ist kommen Grund ewiger Freude“ ist wie ein Kommentar zu unserem Text. Vor allem der zweite Vers nimmt diese umfassende, besser noch überwältigende und umwälzende befreiende Erfahrung auf – und ich kann das mitsingen  – mit lauter Stimme – mit eigener Stimme – auch wenn ich gerade selber eher mit „ Belastungen“ zu kämpfen habe  -aber schon das Mitsingen von der Erfahrung anderer kann befreiend wirken.
  
  „Jesus ist kommen, nun springen die Bande,
  Stricke des Todes, die reißen entzwei.
  Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden.
  Er, der Sohn Gottes, der machet recht frei,
  bringet zu Ehren aus Sünde und Schande;
  Jesus ist kommen, nun springen die Bande!“
  
  
  „ Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“
  
  Jesus verändert die Streitdiskussion um die Macht – wer gibt dir die Macht, Geister aus zu treiben – in eine Verheißung. Immer, wenn es gelingt, dass Menschen von inneren oder äußeren Zwängen befreit werden, wenn sie nicht mehr zerstörerischen Mächten und Gewalten ausgeliefert sind, wenn sie wieder in ihren eigenen „ Sprachen“ mit ihrer eigenen Stimme sprechen können, dann ist das eine Erfahrung des Reich Gottes.
  Menschen, die Jesus begegnet sind, haben später von diesen befreienden Erfahrungen erzählt – in ihrem persönlichen und politischen Kontext.. So wie es Ernst Käsemann in seinem Kommentar ( 1955!)  über den Predigttext schreibt: „ Wer es mit Jesus zu tun bekommt, bekommt es nach seinem eigenen Anspruch mit der praesentia Dei auf Erden und bis in die Leiblichkeit zu tun. In Jesu Tun streckt Gott seinen Finder der Welt entgegen wie auf dem Deckengemälde Michelangelos, freilich diesmal, um die neue Schöpfung ans Licht zu führen.“ ( Käsemann, S. 244)
  
  
  Es bleibt also die Frage, wem ich mein inneres Haus öffne – von welcher Macht ich mich besetzen oder besser: erfüllen  lasse . Das ist nicht mit einer Verstandesentscheidung getan, sondern  bleibt als beständige Bitte an Gott, mich der befreienden Geisteskraft Gottes öffnen zu können.
  „ Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und mit allem Frieden im Glauben, damit ihr reich werdet an Hoffnung in der Kraft des Heiligen Geistes.“!
  
  Amen