„Von all unseren Schuldzuweisungen ablassen…“ - Predigt zu 1. Korinther 4,1-5 von Karin Latour
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„Von all unseren Schuldzuweisungen ablassen…“ - Predigt zu 1. Korinther 4,1-5 von Karin Latour

„Von all unseren Schuldzuweisungen ablassen…“

An einem eiskalten Wintermorgen kommt Vianne Rocher mit ihrer Tochter in einem kleinen Provinzstädtchen irgendwo zwischen Bordeaux und Toulouse an.
Ruhelos zieht sie lange schon umher- seit Jahren. Sie mietet ein leerstehendes Haus und eröffnet- dazu auch noch in der Fastenzeit - eine Chocolaterie.
Der bigotte Bürgermeister, der selbst dem jungen Pfarrer die Predigttexte sichtet und in seinem Sinne abändert, sieht in ihr, der zudem alleinerziehenden Frau die Verkörperung des Bösen.
Und als sie sich auch noch auf ein Verhältnis mit einem - wie man sagte-  Zigeuner einlässt, der am Fluss kampiert,  ruft der Bürgermeister zu einem Boykott auf, die „Flussratten“ müssen weg.
Boykott gegen die Unmoral!
Schließlich kommt es zur Zerstörung ihres kleinen Ladens und beinahe zu einem noch größeren Unglück- aber wie das in Märchen so ist- selbst in den ganz modernen- hat diese Geschichte am Ende ein Happy- End.

Liebe Gemeinde,
die meisten von Ihnen haben ihn längst erkannt,  den Film „Chocolat“ aus dem Jahr 2000,  ein modernes Märchen für Erwachsene und gleichzeitig ein Appell zur Toleranz.

Solche Geschichten gehen nicht immer gut aus und klar ist, in jedem Fall:  sie beinhalten viel Schmerz, viele Auseinandersetzungen, viel Kraft, viel Leid - ja und wie gesagt- sie haben nicht immer ein Happy-  End.

Und die Menschen, die darin vorkommen, heißen auch nicht unbedingt Vianne, sondern haben durchaus andere Namen- Namen wie damals Friedrich, heute vielleicht Amanda oder Agim. Sie heißen Marc oder Klaus und sind homosexuell oder sind Menschen, die einer bestimmten Religion angehören oder einer bestimmter Volksgruppe, ja, Menschen eben,  die anders leben, ihre Sexualität, ihren Glauben, ihren Alltag und ihre Feste, irgendwo anders geboren sind, eine andere Sprache sprechen.
Und die dadurch scheinbar den Frieden stören oder Menschen mit ihrer Art zu glauben oder zu leben oder zu reden oder zu sein in Frage stellen, tiefste Ängste hervorkommen lassen, verunsichern.
Und es könnte  sein, liebe Gemeinde, dass auch Menschen wie Sie und ich oder auch wie Paulus in dieser Geschichte vorkommen, einer Geschichte, in der gerichtet wird:

Am Anfang eines jeden Gottesdienstes beten wir in unserer Gemeinde:
Lass uns nicht meinen wir wüssten schon alles, was Du uns zu sagen hast.
Was hast Du uns zu sagen, Gott, heute an diesem 3. Sonntag im Advent?

Predigttext: 1. Kor 4, 1-5

Ja, es hatte Streit gegeben in Korinth. Es gab verschiedene Lehrer, Apostel, die aufgetreten waren, die gepredigt und gelehrt hatten, auf die sich die einen und die anderen beriefen.
Paulus ist einer, den Namen Apollos erfahren wir auch.
Diese Worte unseres Predigttextes sind ein Teil einer längeren Rede, in der Paulus, der von den Korinthern angegriffen wurde, vielleicht sogar vor ein Gemeindetribunal gezerrt werden sollte, sich verteidigt.
Er verteidigt sich gegen  - nein, eigentlich nicht direkt gegen die Vorwürfe, sondern gegen das Gerichtet- Werden.
Waren es also andere Prediger, waren es andere Lehren, war es seine Art, die ihn zum Objekt der Kritik machte oder die Selbstsicherheit einiger  Gemeindemitglieder in Korinth, die scheinbar genau wussten, was Gott zu sagen hat und was richtig und falsch ist- so hält Paulus entgegen:
Niemand hat zu urteilen und zu richten als Christus allein.
Er ist der, der kommt.
Er ist der, auf den wir warten.
Er ist der, der ans Licht bringen wird, auch was im Finstern verborgen ist.
Ihm gegenüber sind wir verantwortlich, seine Beurteilung können wir nicht vorwegnehmen. Wir sind nicht kompetent über andere zu urteilen und zu richten, ja nicht einmal über uns selbst.

Mag sein, dass damals innergemeindliche Querelen im Blick gewesen sind, Unsicherheit- oder zu viel Sicherheit, was die richtige Lebensweise und Glaubensweise der Christen betraf- Paulus Wort vom Richten ist aber doch nicht nur gültig im Blick auf Meinungsverschiedenheiten in einer frühen christlichen Gemeinde.
Es ist doch so, auch heute:
Wir werden beurteilt und wir beurteilen.
Wir werden verurteilt und wir verurteilen.
Nicht nur bei der Eröffnung einer Chocolaterie in der strengen Fastenzeit.
„Guck dir die an, und die wollen Christen sein.“

Es wird gelästert über den Kollegen, der heute nicht da ist.
Es wird geschimpft über die Mitarbeiterin, der man alles dreimal sagen muss, und die immer noch nichts versteht.
Wir regen uns über Lehrer auf, die nichts mehr von den Schülern verlangen oder zu viel.
Wie schimpfen über Ärzte und Pfarrer,
oder es wird über Asylbewerber hergezogen, die sich hier ein schönes Leben machen wollen, und über die Arbeitslosen, die gar nicht wirklich arbeiten wollen oder über die Jugend, die keine Werte mehr hat und die Politiker, die erst mal anfangen sollen bei sich selbst zu sparen…
Und wenn man ganz verdreht ist möchte man allen Muslimen die Einreise ins Land verbieten. Und wieder am liebsten auch bei uns meterhohe Mauern bauen, damit keiner mehr, der nicht hier geboren ist, in dieses Land hinein  kommt.

In dem Roman: Der Fall von Albert Camus sagt ein Anwalt:
Sie sprachen vom Jüngsten Gericht? Gestatten Sie mir ein respektvolles Lachen.
Ich erwarte es furchtlos. Ich habe das Schlimmste erfahren und das ist das Gericht der Menschen.
Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, mein Lieber.
Warten Sie nicht auf das Jüngste Gericht. Es findet alle Tage statt.


Es findet alle Tage statt.

Wenn es so ist- warum ist es dann so?
Dass wir Menschen- und ich kann mich auch nicht frei sprechen , dass wir es nötig haben miteinander ins Gericht zu gehen.
Menschen zu verurteilen, manchmal ohne, dass es uns bewusst ist, ohne dass wir es noch merken?
Aus Angst? Aus Neid? Oder weil uns der andere mit seinem Anderssein in Frage stellt ?
Oder weil wir wirklich glauben, wir wüssten schon alles?
„Es gibt nur einen einzigen Weg“, schreibt Drewermann, „aus diesem erbarmungslosen Richten und der Rivalität herauszukommen.
Statt, dass wir einander messen wie die Raubtiere im Rivalitätskampf, sollten wir die Augen richten auf Gott, dem wir uns verdanken und von dem alles, was wir sind, empfangen wurde.
Dies allein befreit uns von den Minderwertigkeitsgefühlen, von den Neidkomplexen, von den Frustrationen, den Hassreaktionen.
Solange wir fragen: Bin ich besser oder schlechter als andere?  werden wir immer jemanden treffen, der geringer ist, um ihn zu verachten…
Aber wenn wir einmal denken könnten, es komme in unserem Leben wesentlich überhaupt nicht darauf an, wie wir in Bezug zu anderen abschneiden, die einzig wesentlich sei die Frage sei,  was Gott uns gegeben hat- dann zöge, auf der Stelle und zum ersten mal,  Frieden in unser Herz ein.“

Was hat er uns gegeben?
Liebe Gemeinde, was hat er uns gegeben und zugetraut:
 Haushalterschaft, sagt Paulus, dass wir seine Diener sind und Haushalter.
In seinem Sinne treu zu verwalten, was uns anvertraut ist.
Das heißt sorgsam umgehen mit unserem Leben, mit unserem Gut, mit der Welt, in der wir leben und auch den Menschen, die uns anvertraut sind.
Das heißt nicht, dass wir schweigen sollen über das Tun unseres Nächsten.
Mit jemandem über sein Tun ins Gespräch kommen ist nicht ihn richten.
Mit jemandem um die Wahrheit streiten ist nicht verachten.
Mit jemandem um die Wahrheit ringen heißt nicht den anderen abschreiben.
Die Gleichgültigkeit und das Schweigen sind vielleicht der größte Feind der Gerechtigkeit und des Friedens.
So sollen wir Gemeinden wohl dran bleiben an den Auseinandersetzungen um Energie, um Schonung der Umwelt, um Arbeitsplätze und menschliche Arbeitsbedingungen etwas in der 3. Welt.
Wir sollen und werden uns weiter einmischen in gesellschaftliche Fragen der Integration und des Umgangs mit Flüchtlingen, der sozialen Lage hier ebenso wie in anderen Ländern der Welt- wir tun es im Moment vielleicht sogar viel zu wenig.
Wir wollen Unrecht beim Namen nennen, uns sachkundig machen um mitreden zu können, weil der, der gekommen ist und kommt uns einlädt seiner Solidarität mit den Schwachen und Leidenden nach zu gehen.
Das alles sollen wir. Und zwar nicht, weil wir die Besserwisser sind. Sondern Haushalter und Diener Christi.
Diener, das ist ein demütiges Wort. Ein sehr demütiges Wort.

All das sollen und dürfen wir tun.
Aber eines sollen wir nicht tun. Das ist uns verwehrt:
Das Richten über andere. Das Verurteilen des Anderen.
Das Abschreiben eines anderen- wie anders sein Weg auch ist zu glauben, zu reden, zu leben.
Überlassen wir Gott das Urteil über andere und auch uns. Und hoffen wir, dass er uns dann alle gnädiger ansieht als wir es oft vermögen.

Das moderne Märchen von Vianne und Annouk Rocher und Roux geht am Ende gut aus, ein Happy - End. Es wird sogar zu einer Liebesgeschichte.
Passt es in unsere zerrissene und zerstritten Welt. In unsere so zerrissene und geschüttelte und verfeindete Welt? In der wir voller Angst auf die Entwicklungen und Geschehnisse sehen!

Ja. Ja!
Denn in diese Welt, genau in diese ist unser Herr und Richter und Erlöser geboren. Damit unser aller Geschichte im ganz realen Leben ein gutes Ende nimmt. Nicht ein Happy –End, aber ein gutes Ende.
Ich möchte schließen mit einem Segen von Hanns Dieter Hüsch- nicht nur, aber auch zur Adventszeit zu sprechen:


Im Übrigen meine ich
Dass Gott uns das Geleit geben möge immerdar.
Auf unserem langen Weg zu unserer Menschwerdung
Auf dem endlos schmalen Pfad zwischen Gut und Böse
Herzenswünschen und niedrigen Spekulationen.
Er möge uns ganz nah sein in unserer Not
Wenn wir uns im dornigen Gestrüpp der Wirklichkeit verlieren
Er möge uns in den großen anonymen Städten wieder an die Hand nehmen
Damit wir seiner Fantasie folgen können
Und auf dem weiten flachen Land
Wollen wir ihn auf unseren Wegen erkennen
Er möge uns vor falschen Abgründen bewahren.
Und all die Vorwürfe, die wir uns machen
Möge er in herzhaftes Gelächter verwandeln
Und unsere Bosheiten in viele kleine Witze auflösen.
Wir bitten ihn Zeichen zu setzen und Wunder zu tun.

Dass wir von all unseren Schuldzuweisungen ablassen
Und jedwedem Gegner ein freier Gastgeber sind.
Er möge uns von seiner Freiheit ein Lied singen
Auf dass wir alle gestrigen Vorurteile außer Kraft setzen
Er möge sich zu uns allen an den Tisch setzen und erkennen
Wie sehr wir ihn alle brauchen
Überall auf der ganzen Welt
Er möge sich unser erbarmen
Am Tage und in der Nacht.
In der großen Welt und in der kleinen des Alltags.
In den Parlamenten, in den Chefetagen der Industrie, auf den Schulhöfen und in unseren Küchen.
Er möge uns unsere Krankheiten überstehen lassen
und uns in der Jugend und im Alter seine Schulter geben,
damit wir uns von Zeit zu Zeit
von Gegenwart zu Gegenwart an ihn anlehnen können
getröstet, gestärkt und ermutigt.


Amen.

Quellen:
Drewermann, Eugen, aus Wenn der Himmel die Erde berührt, S. 106f
Hüsch, Hanns Dieter, aus Das Schwere leicht gesagt, S. 151f
EKK VII/1, Wolfgang Schrage, Der erste Korintherbrief,1991,S.318ff