Von der Ferne in die Nähe - Predigt zu Lk 23,32-49 von Ralph Hochschild
23,32-49

Von der Ferne in die Nähe - Predigt zu Lk 23,32-49 von Ralph Hochschild

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext für den Karfreitag steht im Evangelium nach Lukas im 23. Kapitel, die Verse 32-49.

32 Es wurden aber auch andere hingeführt, zwei Übeltäter, dass sie mit ihm hingerichtet würden. 33 Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. 34 Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. 35 Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. 36 Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig 37 und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! 38 Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König. 39 Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! 40 Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach: Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? 41 Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. 42 Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! 43 Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. 44 Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, 45 und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. 46 Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er. 47 Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen! 48 Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. 49 Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.

 

Liebe Gemeinde,

“von ferne” müssen seine Freunde, die Frauen und Bekannten, das alles mit ansehen. Hilflos, sprachlos, mit Tränen in den Augen, abseits des wirklichen Geschehens. Wir kennen ihren Schmerz. Wir erinnern uns an den Anfang der Pandemie. Wie Menschen ihren schwer erkrankten Lieben nicht mehr nahekommen durften. Wie sie beim Abschied nur ihr Bild auf einem Tablet vor sich hatten. Hilflos, um Worte ringend, von ferne. Wie gern hätten sie ihre Lieben noch einmal berührt, gehalten, geherzt, gestärkt. Keiner in jenen Tagen, der nicht gefürchtet hätte, dasselbe zu erleiden.
Liebste Menschen zurücklassen und fliehen zu müssen, von ferne hilflos zuschauen müssen, wirft einen untröstlich zu Boden. Von ferne Bangen und Hoffen, wenn jemand hilf- und wehrlos unterworfen ist, einer militärischen Maschinerie, der Brutalität des Krieges, dem Kalkül der Mächtigen, es bricht das Herz.

Nur von Weitem lässt Lukas in seiner Erzählung vom Sterben Jesu die Jünger dabei sein. Die Frauen und Männer, die ihm gefolgt waren, die ihr Leben mit ihm geteilt hatten, die ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt hatten. Bei ihm stehen, nicht gehen, im Erblassen, sein Haupt fassen (EG 85,6) - es bleibt ihnen versagt. Erstarrt, verstummt, in schmerzvollem Schweigen, so stelle ich mir sie vor.
Von Weitem nähern wir uns nach fast 2000 Jahren seiner Geschichte und doch ist es, als stünden wir an der Seite der Jünger, ja es kommt mir vor, als seien wir ihnen in den letzten Wochen mit unserer Fassungslosigkeit, unserem Entsetzen, mit unserem Ringen um die richtigen Worte ganz nahe gerückt. Was trägt uns jetzt? Wer gibt unsrem Leben Kraft? Wo finde ich einen festen Grund?

Nur von Weitem und vor allem stumm lässt Lukas Jesu Jünger zu Zeugen seines Sterbens werden. Ausgerechnet Lukas lässt sie alle in der Ferne stehen, dem so viel an den Augen- und Ohrenzeugen der Geschichte Jesu, dem so viel an ihrer Nähe zu Jesus, dem so viel an der Zuverlässigkeit ihrer Überlieferungen liegt. Er hält sie auf Distanz.
Mit der Distanz der Augenzeugen schafft Lukas einen Raum für sich. Zum Nachdenken, zum Deuten, zum eigenen Erzählen. Aus unserer Erfahrung wissen wir: Von ferne zusehen müssen - das ist quälend. Wir wissen aber auch: Distanz tut manchmal gut und ist erhellend. Der Blick vom Mond hat unser Bild der Erde verändert. Wenn sie im Weltall so herrlich in blauen, grünen und weißen Farben leuchtet, spüren wir: Die Menschen haben keinen anderen Ort in diesem Universum, um friedvoll miteinander zu leben. Wenn ich dieses Dorf mit seiner kleinen Kirche, oben vom Südhang des Belchen so unendlich schön und friedlich in diesem Tale liegen sehe, dann ahne ich, was für ein besserer Ort unsere Welt doch sein könnte und eigentlich sein müsste. Und ich höre nicht auf zu glauben, dass sie das auch werden kann.

Mit der Distanz der Augenzeugen eröffnet Lukas einen Horizont für sich, um Sinn in diesem grausamen Geschehen zu finden. Und jetzt kann er seine Geschichte vom Sterben Jesu erzählen, seine Deutung der Geschichte kann er nun weitergeben, uns und alle, die von ferne stehen, will er auf festen Grund stellen, zu festen Schritten ermutigen, wo doch die Augenzeugen schweigen.

Einen Moment ist es noch still auf Golgatha. Das Sirren der Seile, mit denen die Verurteilten aufs Kreuz gezogen wurden, es ist verklungen. Die Hammerschläge, die die Querbalken am Kreuzesstamm verankerten, sie sind verhallt. Drei Übeltäter, drei Kreuze, das Publikum schaut schweigend zu. Was ist es, das Lukas uns jetzt hören lässt?

Wir hören erste Stimmen. Die Stimmen der Mächtigen. Grell gellen sie in unseren Ohren. Stimmen, die keine Rettung suchen. Stimmen, die sich rechtfertigen müssen vor ihrem Volk. Für den Rechtsbruch und das rücksichtslose Durchpeitschen ihrer Interessen. Und wir haben sie so satt: “Rettet er sich nicht selbst, dann wird er niemand helfen können.” Es ist die billige Logik des “Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott”, mit der sie sich aus ihrer Verantwortung schleichen.
Wir hören die Stimmen der Soldaten, spottend wie sorglose Kinder. Sie verstehen nicht, wie ihre Worte verletzen und verwunden: “Bist du der König der Juden, so rette dich selbst!”
Wir hören eine verbitterte, verzweifelte Stimme. Ein verpfuschtes Leben, das nichts mehr zu erwarten hat und nichts mehr hoffen mag. Ein verlöschendes Leben, das sich nur noch zynisch die Witze der eigenen Peiniger zu eigen machen kann. “Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns!”

“Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.” Sie wissen es nicht. Sie verstehen Jesus nicht.

Eine andere Stimme drängt sich uns ans Ohr. Eine beeindruckende Stimme spricht mit Ernst und Würde. Ich spüre ihre Kraft, wie sie den unschuldigen Gerechten jetzt verteidigt: “Dieser hat nichts Unrechtes getan.” Ich höre die große innere Stärke dieser Stimme. Ihre ehrliche Bilanz eines verpfuschten Lebens. Ich höre eine Stimme, die genau weiß, auf wen sie ihre Hoffnung richten wird. “Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!”. Und ich höre die Stimme, die entlastet: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Eigentlich ein Wunder. Der sein Leben fern von Gott gelebt hat, kommt ganz in seine Nähe. Der sich so unfromm durch sein Leben geschlagen und geprügelt hat, er lernt die Sprache des Gebets. Der als Ausgestoßener gelebt hat, stellt sich zu den Vielen, denen Jesus schon geholfen hat. Sein kaputtes Leben, am Ende wird es doch noch heil.

Sie laden uns ein, diese beiden letzten Stimmen, die Lukas zu uns sprechen lässt. Zu den Unschuldigen zu stehen, zu uns zu stehen, auch mit unserem Scheitern, zuletzt: unsere Hoffnung ganz auf Gott zu setzen und auf sein Wort zu vertrauen.

Die Todesstunde naht. Finsternis zieht auf und der Vorhang des Tempels reißt. Zwei dramatische Zeichen. Was an diesem Ort geschieht, es wird für alle Welt bedeutsam werden: Noch einmal bäumt sich der Leib des Sterbenden und ruft: “Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!”

Unwillkürlich denke ich an jenes “Es ist vollbracht” aus dem Evangelium nach Johannes. Ja, jetzt hat Jesus sein Werk vollbracht. Er hat dem Spott und dem Leiden widerstanden. Er hat für die, die ihm unrecht tun, gebetet. Er hat dem Hilfesuchenden am Kreuz geholfen. Jetzt kann er loslassen. Jetzt kann er gehen. Mit einem Wort aus dem 31. Psalm auf den Lippen birgt er sich in Gottes Hände und weiß: “Du hast mich erlöst, du treuer Gott”. “Meine Zeit steht in deinen Händen.” (Ps 31, 6.16)

Jeder spürt die Kraft in diesen Worten. Wer Jesus ist, es wird hier für alle Menschen offenbar. “Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!”. Das sagt keiner, der ihm menschlich nahesteht. “Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!” - das erkennt der römische Zenturio, der Chef des Hinrichtungskommandos, der Vorgesetzte der spottenden Soldaten. Selbst er spürt: “Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!” - Gottes Kraft bleibt und wirkt in Jesus. Weil er für die bittet, die ihm Unrecht tun. Weil er duldend und wartend dem hilft, der ihn um seine Hilfe bittet. Weil er sich nicht auf seine Kraft verlässt, sondern alles seinem Vater anvertraut.

Keinen lässt dies unberührt. „Als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten um.“ Der Schlag an die Brust. Er gibt dem Hauptmann recht: “Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!”. Die Menschen brechen auf mit dieser Geste und Lukas' Geschichte geht mit ihnen auf den Weg. Aus der Nähe des Kreuzes zu denen, die von ferne stehen und weiter bis zu uns. Dass sich auch jetzt Menschen Jesus anvertrauen können. Gottes Kraft in ihm jetzt spüren können. Und von ihr gestärkt durchs Leben gehen und vertrauen: Er macht es gut. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Ralph Hochschild: 

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich denke zunächst an die Menschen einer kleinen Gemeinde im südlichen Schwarzwald, wo ich am Karfreitag predigen werde. Wer die Landschaft, in der das Dorf und seine Kirche liegen, sowohl „aus der Nähe“ [im Tal] und „aus der Ferne“ [von den Höhen] auf sich wirken lässt, wird Unterschiedliches wahrnehmen. Die Gottesdienstbesucher, die ich mir vorstelle, teilen in diesen Tagen mit vielen meiner Schülerinnen und Schülern Entsetzen, Trauer und Ratlosigkeit über den Krieg in der Ukraine, der „in der Ferne“ stattfindet, ihnen aber doch so nahekommt und -geht.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Wie wir heute stehen „alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren“. Mich hat beschäftigt: Welche Chancen bietet die Distanz, um das Geschehen zu deuten? Und: Wie kommt das, was in der Distanz ist, seien es um die 2000 Meter oder ca. 2000 Jahre, Menschen nahe?

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Beim ersten (Wieder-)Lesen der Geschichte bin ich an dem kleinen Epilog der Kreuzigungserzählung hängengeblieben. Bei Lukas sehen „alle seine Bekannten“ (und nicht nur die Frauen) „von ferne“ zu. Das fand ich bemerkenswert, weil Lukas eigentlich viel an den Augenzeugen, ihrer Nähe zu Jesus und an ihrer Überlieferung liegt. Wie kommt das, was man „von ferne“ wahrnimmt, einem „nahe“?

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Präzisierung des Verhältnisses von Nähe und Distanz. „Aus der Ferne“ zusehen zu müssen kann quälend sein, Distanz bietet aber auch die Chance, Dinge und Geschehnisse anders wahrzunehmen und zu deuten. M.E. geschieht dies in der lukanischen Erzählung, vor allem in den Wortwechseln der Kreuzigungserzählung.

Perikope
Datum 15.04.2022
Bibelbuch: Lukas
Kapitel / Verse: 23,32-49