"Was im Leben trägt" - Predigt über Johannes 6,47-51 von Thomas Volk
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"Was im Leben trägt" - Predigt über Johannes 6,47-51 von Thomas Volk

Was im Leben trägt:
Liebe Gemeinde,
es ist immer ein schlimmer Moment, wenn man auf einmal merkt, dass zwei Seiten, die ein Ganzes ergeben haben, nicht mehr zusammenpassen. Wenn Politiker einer Regierungskoalition merken, dass eine gemeinsame Politik einfach nicht mehr möglich ist. Wenn die Kosten für ein großes Projekt immer mehr in die Höhe schnellen, so dass ein Baubeginn in weite Ferne rückt. Wenn der Streit so nachhaltig gewesen ist, dass der Bruch in der Beziehung einfach nicht mehr wiederhergestellt werden kann.
Das kann auch passieren, wenn man merkt, dass zwischen den eigenen Lebenszielen und der tatsächlichen Wirklichkeit ein himmelweiter Unterschied besteht. Wenn man fühlt, dass das, woran man sich bislang festhalten konnte, immer weiter von einem wegrückt, wie ein Schiff, das vom Hafen ablegt. Wenn plötzlich das, wofür man jahrelang gespart und gearbeitet hat, weg ist, zerstört und kaputt. Jahrelange Mühe umsonst. Vielleicht hat man vertraut, dass Gott seinen Segen dazugibt. Aber jetzt ist alles dahin. Oder wenn man immer gebetet hat, dass die Kinder einen guten Weg in ihre eigene Zukunft finden, aber jetzt Kummer machen, man überhaupt nicht mehr an sie herankommt.
Es ist auch ein gefährlicher Augenblick für unseren Glauben, wenn auf einmal das Bild, das wir von Gott haben, nicht mehr stimmt, weil das Leben nicht mehr stimmt.
Das Schriftwort für den heutigen Sonntag möchte uns dennoch unser Vertrauen stärken: Das Vertrauen, dass unser Leben dennoch gehalten ist, auch wenn die beiden Seiten immer weiter auseinandergehen. Es möchte das Grundvertrauen zu Gott auf festen Boden stellen, gerade wenn wir noch nicht ausmachen können, wohin die Lebensreise steuert.
Wir hören aus dem Johannesevangelium, aus dem 6.Kapitel:
  „Jesus sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens.
  Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben.
  Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe.
  Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist.
  Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.
  Und dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt.“
Im gesamten 6.Kapitel des Johannesevangeliums geht es um das Grundvertrauen zu Gott. Johannes beginnt mit der Geschichte, in der 5.000 Menschen satt werden, weil sie im Namen Jesu zusammengekommen sind und geteilt haben. Er erzählt weiter, wie Jesus seinen Jüngern nachts auf dem Wasser eines stürmischen Sees erscheint und ihnen allen die Angst nimmt. Dann folgt eine für das Johannesevangelium typisch lange Rede Jesu, in der es darum geht, worin man bei Gott gewiss sein darf.
Ich verstehe es so: Alles, was du zum Leben nötig hast - alles, was du für diesen einen Tag brauchst, um über die Runden zu kommen - auch alles, was hält und trägt in allen Stürmen des Lebens, das darfst du Gott erwarten.
Der Evangelist, der das Johannesevangelium zwei Generationen nach Jesus geschrieben hat, muss in seinem Leben wiederholt erfahren haben, dass dieses Grundvertrauen trägt, gerade an den Tagen, die man sich nicht ausgesucht hat.
Der Evangelist schreibt ja keine Geschichte über den Menschen Jesus, wie es die anderen drei tun. Er schreibt ein Stück seiner Wirkungsgeschichte (Jörg Zink). Und dieses 6.Kapitel, wie das gesamte Evangelium, ist das Ergebnis eines langen Nachdenkens und gleichzeitig eines tiefen Bekenntnis zu Christus, von dem er sagt: „Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe“ (V.48).
Dieses Brot, das vom Himmel kommt, macht tagtäglich Mut. Egal, was der Tag bringt, es lässt uns einen langen Atem zukommen. Den brauchen wir, wenn wir spüren, dass das Leben zurzeit einfach kein rundes Ganzes ist, sondern nur noch aus Fragmenten und Bruchstücken besteht.
Dieses Brot trägt in unserem Leben, wenn sich von heute auf morgen manches ändert und wir uns trotzdem unter veränderten Vorzeichen neu aufmachen müssen: Wenn man zum Beispiel merkt, dass dieses Studium einfach nicht das richtige ist oder wenn die Kinder aus dem Haus gehen und die Wohnung zu groß, auch zu leer geworden ist. Und auch wenn der Arzt sagt: „Ab sofort dürfen Sie ohne Stock nicht mehr aus dem Haus gehen.“
Der Evangelist geht auch davon aus, dass dieses „Brot des Lebens“ noch mehr bei uns erreichen kann, als nur das eigene Grundvertrauen zu stärken. Gerade Johannes legt großen Wert darauf, dass der „Geist Gottes die Menschen in alle Wahrheit leiten“ wird (Johannes  16,13). Er geht auch davon, dass dieses Brot Menschen zusammenführt, eine Gemeinschaft stärkt und sie so tragfähig macht, dass man über das eigene Leben hinaus einander selbst zum Brot werden kann. Und das natürlich in einer Welt, in der sich vieles ändert und in der es auch nicht mehr die großen Lösungen für alle gibt.
Das ist doch gerade bei der kommenden Papstwahl auch für uns Evangelische spannend: Wer soll die römisch-katholische Weltkirche führen? Und wie soll sie geleitet werden, wo es doch in Lateinamerika andere Fragen gibt als in Europa oder in Afrika?
Oder wenn wir auf uns schauen: Es gibt nicht mehr unbedingt nur die eine Gottesdienstform für alle! Jugendliche brauchen andere Möglichkeiten, ihren Glauben zu leben und darin Erfahrungen zu machen. Und die, die mittendrin im Leben sind, wollen beteiligt werden und vielleicht mit einer Osternacht oder mit Abendgottesdiensten neue Formen ausprobieren.
Überhaupt müssen wir uns klarmachen, dass wir nicht mehr nur auf die eigene Sicht von dem, wie man den Glauben lebt, fixiert sein können. Der, der das „Brot des Lebens“ ist, fragt uns: Wo habt ihr Brot geteilt? Oder habt ihr den Menschen schwere Steine gegeben? Sind eure Maßstäbe die allein gültige Sichtweise? Oder seid ihr offen gewesen, andere Meinungen zu hören und aufzunehmen?
Wer am vergangenen Montag im ZDF den Film: "Und alle haben geschwiegen" gesehen hat, hat eine Ahnung bekommen, wie viele Kinder und Jugendliche gerade in der Nachkriegszeit in westdeutschen Kinderheimen körperlich und seelisch misshandelt worden sind. Und das im Namen Jesu, denn es sind überwiegend christliche Einrichtungen gewesen. Das Trauma ist noch heute - Jahrzehnte später - bei vielen groß.
Im Mittelpunkt dieses Films steht die junge Luisa, die Anfang der 60er Jahre wegen der Erkrankung ihrer alleinerziehenden Mutter von den Behörden in die Obhut eines Kinderheims geschickt wird. Hier erfährt sie die ganze Härte des Systems und soll dann noch fröhlich Martin Luthers Morgensegen und Abendsegen mitbeten.
Man fragt sich in diesem Film, wie Diakonissen, Kirchenleitungen und Jugendämter so handeln konnten und welches Gottes- und Menschenbild die damals Verantwortlichen hatten? Jedenfalls nicht das, was uns im Johannesevangelium begegnet: Das Brot des Lebens, das uns mit Vertrauen ins Leben beschenken und uns geben möchte, was wir zum Leben brauchen, gerade dann, wenn wir uns eine ganz andere Zeit wünschen.
Kirche ist und bleibt immer dann glaubwürdig, wenn Menschen einander zum Brot werden. Wenn Besuchsdienste und Nachbarschaftshilfen nicht nur Brot beim Bäcker besorgen, sondern auch Zeit mitbringen, damit die Sorgen für kurze Zeit etwas leichter werden. Wenn die fast 900 „Tafeln“ in Deutschland Woche für Woche „Essen, wo es hingehört" verteilen. Oder wenn Kirchengemeinden in sozialen Netzwerken rasch Hilfe anbieten und anbahnen können.
(eventuell Beispiele aus der eigenen Kirchengemeinde hinzufügen)
Möge Gott unser Grundvertrauen in die Worte vom „Brot des Lebens“ wachsen lassen, dass wir gehalten durch das Leben gehen - dass wir eine Sache, die uns entglitten ist, so stehen lassen können - dass wir das Leben neu angehen können - oder das Zutrauen bekommen, wieder neugierig in die Zukunft zu schauen.
Der heutige Sonntag Lätare sagt: „Freue dich.“ Er ist mitten in der Passionszeit wie ein kleines Ostern. Es ist wie eine Auferstehung, wenn das Grundvertrauen da ist oder wieder neu kommt, wenn man Gott fest an seiner Seite spürt und weiß, dass dieses Brot für das Leben da sein wird.
Und die Möglichkeiten Gottes, die immer größer und weiter ist, als die Aussichten, die wir gerade vor uns haben, mögen uns auf unserem Lebensweg wieder ein Stück weitertragen. Amen
 
Anmerkung:
Das Zitat von Jörg Zink habe ich dem Buch „Vom Geist des frühen Christentums“, S.259, entnommen.