Was macht einen Märtyrer aus?

Liebe Gemeinde,

was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie das Wort „Märtyrer“ hören?

Männer oder Frauen in einer antiken Arena vor hungrigen Löwen?

Oder Terroristen mit Sprengstoffgürteln?

Der Duden stellt klar: „Märtyrer“ sind Menschen, die für ihren Glauben leiden und im Extremfall sogar sterben.

Gerade im Christentum hat das Leiden für den Glauben viele Gesichter. Auch wenn Ashkan uns sein Gesicht nicht einmal zeigen konnte.

Es beginnt mit der Steinigung des Stephanus und führt zu Menschen unserer Zeit.

Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie nicht töten, sondern im schlimmsten Fall getötet werden. Dass sie ihren Weg oft zitternd gehen und viele von ihnen zugleich von einer Kraft beseelt sind, mit der sie ertragen, standhalten und „über sich hinauswachsen“.

Wenn wir hier auf dem Schönblick Menschen fragen, die eine Verfolgung erlebt haben: Woher hattet Ihr diesen Mut? dann antworten manche sinngemäß: Ich bin gar nicht über „mich hinaus“, sondern „in mich hinein“ gewachsen. Ich habe zu Christus gebetet und erlebt, dass in mir plötzlich Kräfte waren, die ich mir nicht zugetraut hätte. Unvermutet, fast wie aus heiterem Himmel.“

Ihre Worte erinnern mich an ein Bild: Die Kraft der zwei Herzen. In meiner Jugendzeit warb mal ein Pharmaunternehmen mit diesem Slogan. Die Kraft der zwei Herzen. Doppelte Power!

Die kann jeder gut brauchen, der sein Leben gerade als Martyrium empfindet. Sei es, weil die Seele gerade tiefe Trauer trägt oder weil der Körper sich immer wieder vor Schmerzen krümmt.

Oder weil jede Lebensfreude angesichts der fürchterlichen Attentate der vergangenen Wochen in Angst oder Wut zu versinken droht. Da werden große Zweifel wach und wir fühlen uns so verletzlich und im Stich gelassen? Ist da überhaupt noch jemand bei mir?

Gut, wenn dann nicht nur mein Herz in mir klopft, verzagt und leise. Sondern Christus ein „zweites Herz“ in mir schlagen lässt. Ruhig und gewiss. Vielleicht getragen von dem Rhythmus eines Liedes, das wir einem der bekanntesten neuzeitlichen Märtyrer verdanken: Dietrich Bonhoeffer. Selbst in größter Gottesfinsternis konnte er noch mit Gott rechnen und dichten: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag“.

Dietrich Bonhoeffer schrieb diese Worte im KZ Flossenbürg im Dezember 1944, wenige Monate bevor er von den Nazis hingerichtet wurde. Ich nehme ihm seine Worte ab, seine Lebensgeschichte bürgt dafür.

So lassen Sie uns nun einen Moment innehalten und miteinander singen. Für alle Menschen, die diese guten Mächte heute besonders dringend brauchen.

Gottes gute Mächte wirken. Im Leben und im Sterben. Sie machen mutig und zuversichtlich.

Ashkan und seine Gemeinde bitten für die politischen Führer ihres Landes. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ betete Jesus am Kreuz.

„Herr rechne ihnen diese Sünde nicht an“, so flehte Stephanus für seine Henker, erfüllt von Gottes Geist, ganz bei sich und zugleich ganz bei Gott.

Die Kraft der zwei Herzen, Christi Geist in uns, macht es sogar möglich, auf Unrecht und Gewalt mit Vergebung und Fürbitte zu antworten. Fürbitte und Liebe für die Verfolger und Fürbitte und Liebe für die Verfolgten.

Wie dringend verfolgte Christen Liebe und Fürbitte brauchen, habe ich besonders durch Navid Kermani begriffen. Der deutsch-iranische Schriftsteller erinnerte in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Pater Jacques Mourad. Dieser leitete die christliche Gemeinschaft Mar Musa, nahe der syrischen Stadt Qaryatain. Seine Gemeinschaft hatte sich der Begegnung mit dem Islam und der Liebe zu den Muslimen verschrieben. Kurz bevor er gemeinsam mit etwa 200 Gläubigen seiner christlichen Gemeinde von den Schergen des IS entführt wurde, schrieb er an eine französische Freundin: „Einzusehen, dass wir verlassen sind, ist fürchterlich - verlassen zumal von der christlichen Welt, die beschlossen hat, auf Distanz zu gehen, um die Gefahr von sich fern zu halten. Wir bedeuten ihnen nichts.“

Ein bitterer Satz. Jacques Mourad spricht ihn für viele Leidensgenossen aus.

In den vergangenen Jahren hat die Vertreibung und Verfolgung von Christen im Nahen Osten massiv zugenommen. Ein internationaler Aufschrei bleibt jedoch aus. Auch wir Christen nehmen eher stillschweigend, bestenfalls hilflos zur Kenntnis, welche Verbrechen in dieser Region geschehen.

Unter dem Terror des IS leiden ebenso Millionen von Muslimen. Darum eignet sich das leidvolle Thema der Christenverfolgung ganz und gar nicht, um allgemein Stimmung gegen „den Islam“ oder „muslimisch Gläubige“ zu machen. Pater Jacques wurde zum Beispiel auch mit Hilfe seiner muslimischen Freunde aus der Gewalt des IS befreit und in Sicherheit gebracht.

Meist erntet Verfolgung jedoch keine Hilfe, sondern betretenes Schweigen, im schlimmsten Fall sogar Applaus. Als der Märtyrer Stephanus von der wütenden Menge gesteinigt wurde, beobachtete ihn ein gewisser Saulus. Voller Genugtuung sieht er zu. Und bricht bald darauf zu einem Feldzug gegen die verhassten Christen nach Damaskus auf. Unterwegs trifft Saulus der Schlag. Christus selbst tritt ihm in den Weg und fragt: „Warum verfolgst Du mich?“

So erfährt Saulus, dass Christenverfolgung Christusverfolgung ist. Christus, der lebendige Herr, identifiziert sich besonders mit unterdrückten Menschen. Ihr Leid schmerzt ihn wie eine Wunde am eigenen Körper.

Diese Begegnung verändert für Saulus alles. Er wandelt sich vom Verfolger zum Apostel. Und mahnt Jahre später die Gemeinde in Korinth: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit“.

Denn um die geschwisterliche Hilfe war es damals wohl nicht so gut bestellt. Und heute?

Mich rüttelt es auf, wenn Pater Jacques auch über mich sagt „wir bedeuten ihnen nichts“. Ja, der Leib Christi ist verletzt, er blutet. In vielen Krisenregionen und Staaten dieser Welt. Und auch hier in Deutschland.

Das darf nicht sein. Das Leiden von Christinnen und Christen, die um ihres Glaubens willen aus ihren Ursprungsländern geflohen sind, darf hier bei uns nicht weitergehen – in keiner Flüchtlingsunterkunft und in keinem zugewiesenen Wohnort.

Die Kraft der „zwei Herzen“, die in der Not nicht aufgeben lässt, die Kraft der Liebe, die uns so bestimmt, dass wir Gleiches nicht mit Gleichem vergelten, diese Kraft schenkt uns Christus nicht nur für uns selbst. Sie kann uns auch helfen, engagiert für unsere verfolgten Glaubensgeschwister einzustehen. Es gibt Vieles, was wir tun können: Für sie beten. International politisch agieren und Verantwortliche zum Handeln auffordern. Betroffene über Hilfswerke konkret unterstützen und wir können uns in unserer Nachbarschaft informieren und einsetzen.

Wenn wir mit ihnen Kontakt aufnehmen, erleben wir, dass unsere verfolgten Glaubensgeschwister auch uns etwas geben: Das tiefe Vertrauen in Gottes Kraft. Und die Einsicht, dass es nicht selbstverständlich sind, offen und frei den eigenen Glauben bekennen zu können. Diese Freiheit braucht Schutz und Pflege.

So verkündigen wir gemeinsam mit ihnen den lebendigen Gott, handeln aus seiner Liebe und Vergebung, setzen uns ein für Unterdrückte und Benachteiligte und machen uns stark für das friedliche Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen in unserem Land.

Mit Herz und Hand an der Seite unserer verfolgten Brüder und Schwestern.

Und der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.