Was richtest Du Deine Schwester, Deinen Bruder? – Predigt zu Römer 14,10-13 von Paul Geiß
14,10-13

Was richtest Du Deine Schwester, Deinen Bruder? – Predigt zu Römer 14,10-13 von Paul Geiß

10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
11 Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.

Liebe Gemeinde,
die ersten Christen hatten es nicht leicht. Sie bekannten sich aus eigenem Erleben oder weil die Apostel so feurig gepredigt haben, zu Jesus, dem Sohn Gottes, der Mensch geworden war, gestorben und wieder von Gott zum Leben erweckt wurde. Sie feierten diesen Christus in Liedern, Gebeten, im Verlesen von Briefen der Apostel und im gemeinsamen Mahl, auch im Abendmahl, wie es Jesus begründet hatte.
Aber schon in der frühen Kirche kamen Divergenzen auf. Die jüdischen Christen hatten ganz selbstverständlich gewohnte Speisegebote; koscher zu essen war Pflicht. Die Nichtjuden, die früher den römischen und griechischen Gottheiten huldigten, waren es gewohnt an den Festmahlen der heidnischen Gottheiten teilzunehmen. Es gab dabei schmackhaft zubereitete Fleischmahlzeiten von Tieren, die den Göttern geopfert waren. In der abwertenden Sprache des Neuen Testaments war das Götzenopferfleisch, und daran entzündet sich der Streit. Dürfen Christen das essen? Müssen sie wie die Judenchristen koscher leben und die jüdischen Gebote auch noch halten - 632 Gebote – so wie sie im 3. Buch Mose aufgeschrieben sind?

Diese Frage bewegt auch heute in abgewandelter Form unsere Gesellschaft:
Was können wir essen?
Wie wollen wir leben, in den traditionellen Ehe- und Familienstrukturen oder in unterschiedlichen Lebensformen? Können zwei Männer ihre Lebenspartnerschaft auch als Ehe leben, können das zwei Frauen auch? Dürfen sie Kinder bekommen, können sie Kinder adoptieren?
Werden wir nicht überfremdet durch die vielen ausländischen Menschen, die den Weg zu uns finden? Können wir unter uns unterschiedliche Kulturen akzeptieren, mit ihnen leben und voneinander lernen?

1. An diesem Sonntag geht es um wichtige Fragen für uns als Christengemeinde, denn wir leben in einer Gesellschaft, in der viele Lebensformen möglich sind.

2. An diesem Sonntag geht es darum, dass wir uns mit unserem Glauben und mit unseren Überzeugungen nicht zum Richter, zur Richterin über andere aufschwingen).

3. An diesem Sonntag geht es darum, dass wir alle fehlbare Menschen sind. Wir bedürfen der Beurteilung vor Gott am Ende der Zeit und vor allem: wir alle bedürfen seiner Barmherzigkeit.

1) Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele Lebensformen möglich sind
Es hat großes Aufsehen erregt in den letzten Wochen, das Bild, das in allen Zeitungen abgedruckt war: Der Spieler der deutschen Nationalmannschaft in der Fußball-Europameisterschaft Mesut Özil steht im Pilgergewand vor der Kaaba in Mekka und zeigt sich so als frommer Muslim, der sich zu den fünf Säulen des Islam bekennt: Glaubensbekenntnis, fünf Mal am Tag das Gebet in Richtung Mekka, Armenfürsorge, Fasten im Monat Ramadan, Pilgerfahrt nach Mekka. Ein ungewohntes Bild von einem schussgewaltigen Fußballspieler, der als Prominenter immer in den letzten Jahren mit Lob und Tadel entsprechend seinen sportlichen Leistungen in der Öffentlichkeit präsent ist. Und der ist religiös? Bekennender Muslim?

Das sind wir nicht gewohnt, dass man sich als Prominenter in der Öffentlichkeit zu seinem Glauben bekennt. Die Zeitungen waren voll von zum Teil heftigen und kritischen Kommentaren, je nach Stellung zur Religion überhaupt.
Manche wollen die Religion aus der Öffentlichkeit verbannen und sind strikt dafür: Religion ist Privatsache, das gehört nicht in die Öffentlichkeit.
Andere freuen sich, dass sie mit ihrer Religion auch öffentlich wahrgenommen werden. Glaube und Religion begegnen in der veröffentlichten Meinung vielen kritischen Kommentaren, über die man sich manchmal einfach nur ärgern kann, so viel Unkenntnis verraten sie.
Sicher, die offiziellen Mitgliederzahlen der Kirchen gehen zurück, weil Großinstitutionen je nach der Lage bestimmter Skandale oder öffentlicher Vorwürfe sowieso in der Kritik stehen. Dabei müssen wir schon unterscheiden zwischen juristischen Mitgliedern der christlichen Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit der Möglichkeit Steuern als Mitgliedsbeitrag einzuziehen und den Gliedern der christlichen Kirchen, die mit dem Siegel der Taufe als einem unveränderbaren Merkmal gesegnet sind und Glieder der Kirche bleiben, auch wenn sie als juristisches Mitglied aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr den Großinstitutionen angehören wollen.
Paulus redet seine Gemeindeglieder als Glieder am Leib Christi an, die in einer sehr bunten Gesellschaft leben. Da gibt es auch Menschen, die aus vielerlei Gründen anderen Speisegeboten folgen, andere Überzeugungen haben, andere Prioritäten setzen. All das mag den Widerspruch engstirniger Christen hervorrufen. Das kann zu erregten Auseinandersetzungen führen. Paulus will das nicht. Er ist zwar in vielem seiner Zeit verhaftet, die patriarchalisch, autoritativ, ja feudal und autoritär strukturiert war. Was er zur Aufgabe von Frauen sagt, zur Liebe unter Männern – Liebe unter Frauen erwähnt er erst gar nicht – das vertreten heute nur noch sehr engstirnige Christen, das kann man wirklich nicht mehr so annehmen. Aber was er zum Verhältnis der unterschiedlichen Kulturen sagt, aus denen sich die jungen Christengemeinden zusammensetzen, das ist auch heute wegweisend in den vielen Fragen, die sich in unserer Gemeinschaft auftun. Tiefe Gräben scheinen aufgeworfen zwischen den Religionen, Kulturen, Lebens- und Essgewohnheiten, Lebenskonzepten und Grundüberzeugungen. Das tut weh, wenn man merkt, wie sich die unterschiedlichen Überzeugungen aneinander reiben bis hin zu verstörender Gewalt, mit der man versucht, seine Überzeugungen durchzusetzen.
In der Frage der Lebens- und Essgewohnheiten ist Paulus Pragmatiker und ökumenisch orientiert. Er passt sich der jeweiligen Gesellschaft, in der er predigt, an, den Griechen ein Grieche, den Juden ein Jude, sagt er. Wichtig, und das müssen wir heute auch auf die unterschiedlichen Prägungen in Liebe und Ehe, in Lebensstil und Grundüberzeugung ausdehnen, ist sein Bekenntnis zur Einheit in Christus. In Christus sein, eine seiner Lieblingsforderungen im Glauben, lässt viele Lebensstile zu, wenn nur der Wille da ist, sich gemeinsam zu Christus zu bekennen, ihn zu verehren, sich von ihm befreien zu lassen.

2) Was geschieht, wenn ich meine Grundüberzeugungen zur Norm für andere mache?
Klassentreffen: Die Abiturienten eines Jahrgangs und einer Klasse treffen sich nach 25 Jahren wieder. Schnell redet man über die alte Schule, über die Lehrer, über die Probleme in der Pubertät. Was verbindet, ist die gemeinsame Vergangenheit. Und da geschieht etwas Merkwürdiges: Der erfolgreiche Jurist, der ein Unternehmen führt, wird plötzlich in den Augen der ehemaligen Klasse zu dem schwachen Schüler, der mit Englisch und Französisch nicht zurechtkam. Die Internistin in einer großen Landarztpraxis wird zum Mauerblümchen, mit der niemand einen Abend verbringen wollte, weil sie so langweilig war. Der redegewandte Pfarrer einer Großstadtgemeinde wird wieder zur lahmen Ente, die niemand in seiner Basketballmannschaft haben wollte und der am Schluss immer übrig blieb. Die gewohnten Vorurteile tauchen wieder auf, die aus der Schulzeit. Was aus den Menschen in 25 Jahren geworden ist, wie sie sich in Familie und Beruf entwickelt haben, das interessiert keinen aus der alten Klasse, oder es ruft bei manchen nur Neid hervor. Sie nutzen dann die alten Vorurteile, um die alten Strukturen wieder aufleben zu lassen.
Der Apostel lehnt ein solches Verhalten ab, Vorurteile, Urteile, richten über andere, das hält er für grundverkehrt. Neugierig, warmherzig und wohlwollend aufeinander zugehen und sich erst einmal kundig machen, bevor man urteilt, das sind seine Grundeinstellungen. In aller Deutlichkeit spricht er dieses Fehlverhalten genauso an wie Jesus mit seinem berühmten Gleichnis vom Splitter im Auge des anderen, den man kritisiert, aber dabei den Balken im eigenen Auge nicht wahrhaben will. Nach den Gemeinsamkeiten Ausschau halten, die auch in Zukunft das Interesse an den Mitmenschen wach halten können, das sind seine Visionen mit dem Ziel für ihn: Eins in Christus, aus seiner Barmherzigkeit leben, einander mit Liebe und Wohlwollen begegnen.
Das ist schwer, aber es hilft, alte Vorurteile gegenstandslos werden zu lassen. Ich muss deshalb die Überzeugung meiner Mitmenschen nicht übernehmen, aber ich kann sie zunächst wahrnehmen und respektieren, auch einen, der sich in der Öffentlichkeit zu seiner Religion bekennt, die mir fremd ist und in vieler Hinsicht auch fremd bleibt, wie Mesut Özil.

Richten, urteilen, verurteilen, wie schnell ist man da bei der Hand. Kaum ein Politiker kann zu irgendeiner Frage Stellung beziehen, ohne sofort in der Öffentlichkeit kritisch kommentiert zu werden. Mag man Gauck nicht, wird wieder auf dem Ost-Pfarrer aus der ehemaligen DDR herumgehackt. Mag man Merkel nicht, ist sie die Pastorentochter aus dem Osten, die es sich viel zu leicht macht. Solch vorschnelle Urteile dienen dazu, sich mit der Sache, um die es geht, gar nicht erst auseinandersetzen zu müssen.

Also noch einmal: Paulus möchte, dass seine Christengemeinde warmherzig und wohlwollend mit den eigenen Gemeindegliedern und mit der Gesellschaft insgesamt umgeht und sich erst einmal um Verständnis bemüht, bevor man sich eine fundierte Einschätzung oder gar Kritik erlaubt.

3) „Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“
Das ist der entscheidende letzte Satz aus dem Predigttext.
Warum?
Weil wir alle für unser Tun vor Gott Rechenschaft ablegen werden am Ende aller Zeit und der Welt. Wir werden eine endgültige Beurteilung von dem bekommen, dem das allein zusteht, von Gott.
Ist damit nicht auch klar, dass wir eine ungeheure Freiheit haben, eine Freiheit vor Gott und unseren Mitmenschen, das zu tun, was nach unserer Einschätzung Gottes Willen entspricht? Keine Vorgesetzte, kein Chef kann uns unsere persönlichen Entscheidungen abnehmen, sie wirklich beurteilen oder verurteilen.
In den Organisationen und Betrieben hat sich in den letzten Jahren eine Form des Personalgesprächs entwickelt, die Auskunft geben soll über die Art, wie man seine Arbeit verrichtet. Ob sie mit den Betriebs- und Organisationszielen übereinstimmt. Was man verbessern kann mit welchen Mitteln, mit welcher Weiterbildung, mit welchen Zielen.
Das sind heikle Gespräche und ein unbedarfter Vorgesetzter ist manchmal zu rasch geneigt, endgültige Urteile zu fällen, manchmal auch um ungeliebte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter loszuwerden. Und dann richtet man mehr Schaden als Nutzen an.
Man muss sich dabei klarmachen: Rückmeldungen in Personalgesprächen sind eigentlich nur auf den Arbeitsvollzug in den Augen des Vorgesetzten gerichtet, sie sind kein Urteil über die Person, über die privaten Beziehungen und über die persönlichen Einstellungen.
Wenn man so vorsichtig in solche Gespräche geht, können sie wirklich motivieren, Lust auf Änderungen und Verbesserungen machen und das Interesse an der Organisation, an dem Betrieb wieder beleben. Das kann die Arbeitsmoral und das Betriebsklima deutlich verändern.
Und die Vorgesetzte macht sich nicht zur Richterin über die Arbeitsvollzüge des Mitarbeiters, der Mitarbeiterin.
In solchem Klima gedeihen dann auch plötzliche Entdeckungen, der Mitarbeiter entwickelt überraschend neue Vorschläge zur Verbesserung der Betriebsabläufe, kann auch der Vorgesetzten ein hilfreiches Feedback über ihre Arbeit geben, wenn sie dafür offen ist.
Plötzlich wird Paulus mit seinen hilfreichen Hinweisen brennend aktuell. Ich kann ermuntern, aufrichten, motivieren, helfen, nicht Anstoß geben, verärgern, herumkritteln und niedermachen.
So schnell kann es geschehen, dass man die Linie überschreitet, die zum Ärger und zum Anstoß führt.

Noch einmal zusammenfassend:
Wir leben in einer Gesellschaft in der viele Lebensformen möglich sind, die zu beurteilen von uns viel Toleranz und Akzeptanz fordert.
Sich zum Richter, zur Richterin über andere aufzuschwingen, steht uns nicht zu, das ist Gott vorbehalten.
Ermuntern und fördern, motivieren und aufrichten, das soll Aufgabe für uns Christen in dieser Zeit und aller Zeit sein. Das helfe Gott.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn.

AMEN.