"Was wirklich trägt": ZDF-Predigt im Dom zu Brandenburg am 17. Mai 2015
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"Was wirklich trägt": ZDF-Predigt im Dom zu Brandenburg am 17. Mai 2015

"Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde!

"Die Zeit läuft mir davon!" So kommt es einem vor, der in begrenzter Zeit viel vorhat. Ein anderer langweilt sich und findet: "Die Zeit geht gar nicht vorbei." Im einen wie im andern Fall erlebt man: Die Zeit ist begrenzt. Das gilt auch für unser Leben im Ganzen: Es währt siebzig Jahre, wenn es hoch kommt, sind es achtzig Jahre. So steht es im 90. Psalm. Er erinnert uns daran, wie federleicht unsere Zeit wiegt, vergleicht man sie mit Gottes Ewigkeit: Tausend Jahre wie ein Tag.

Doch heute denken viele anders als der Psalmist. Ein neues Wort zeigt das überdeutlich. Es heißt "Echtzeit". Was heute in der Wirtschaft zählen soll, muss in "Echtzeit" geliefert werden. Ob Brot oder Autoteile, Medikamente oder Computer: der verabredete Termin ist exakt einzuhalten. Zu früh ist genauso verkehrt wie zu spät. Im Computerzeitalter wird "Echtzeit" vor allem von Rechensystemen verlangt. Sie müssen zu jedem Zeitpunkt anfallende Daten zuverlässig verarbeiten und punktgenau weiterleiten. Dabei entstehen unvorstellbar kurze Zeitanforderungen, vor allem natürlich auf den Finanzmärkten.

Die Echtzeit bemisst sich nicht nach Tagen, Stunden oder Minuten. Sekunden reichen nicht; auf Millisekunden, ja sogar Mikrosekunden kommt es an. Nicht in einer Tausendstelsekunde, sondern in einer Millionstelsekunde wird reagiert. Das ist für uns Menschen gar nicht möglich, nur Computer können das.

Echtzeit fasziniert. Dieses Zauberwort zieht Jugendliche an, Jungunternehmer lieben es, in der zeitgenössischen Musikszene breitet es sich aus. Echtzeit ist Jetztzeit. Die Botschaft heißt: Ergreife Deine Chancen jetzt. Wage Neues. Nutze den Augenblick; und genieße den Tag. Schau nicht zurück; und warte nicht auf das, was kommt. Wir wollen alles  - jetzt.

Doch auf einmal weitet sich der Horizont. Ein anderer Atem weht. "Tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag". Der Rhythmus der Zeit erhält wieder Raum. Sie schrumpft nicht auf die Gegenwart zusammen. Wir lassen uns auf die Vergangenheit ein und schauen auf Zukunft aus. Wir wagen wieder, uns zu erinnern; und wir sind kühn genug, zu hoffen. Wir nehmen sogar 850 Jahre in den Blick: im Vergleich zu Gottes Ewigkeit nicht einmal ein Tag. Unser Leben, auch wenn es siebzig oder achtzig Jahre währt, ist im Zeituniversum Gottes wie ein Wimpernschlag. Wenn wir die Zeit nutzen wollen, die Gott uns schenkt, brauchen wir einen Sinn für die Begrenztheit und Endlichkeit unseres Lebens. "Lehre uns, unsere Tage zu zählen. Das macht uns klug, so gewinnen wir ein weises Herz."

Hier im Dom begegnet uns auf Grabmälern ein geflügelter Tod. Er flüstert uns zu: "Memento mori", zu Deutsch: "Denke daran, du bist sterblich". Selbst unsere größten Taten machen uns nicht unsterblich; wir bleiben Menschen mit begrenzter Vollmacht.

Manchmal werden wir mit dieser Wahrheit sehr hart konfrontiert. So erging es Steve Jobs, dem Herrscher über das Computer-Imperium Apple, die Firma mit dem angebissenen Apfel. Völlig unerwartet traf ihn die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs . Er nahm den Kampf mit der Krankheit auf und lebte noch sieben Jahre in voller Intensität. Doch das "Memento mori" war ihm begegnet: "Denke daran, du bist sterblich". Er verstand: "Unser Leben dauert siebzig, vielleicht auch achtzig Jahre. Auch noch das Schönste daran ist mit Mühe errungen."

Als Steve Jobs eingeladen war, zu einer Gruppe von Hochschulabsolventen zu sprechen, redete er nicht über die Echtzeit, sondern über den Tod. Niemand will sterben, sagte er. Aber uns allen ist der Tod gemeinsam. Er ist für das Leben unentbehrlich. Er sorgt für den Wechsel. Das Alte vergeht, Neues beginnt.

Eine solche Einsicht gewinnt nur, wer sich dafür Zeit lässt. Wir brauchen nicht alles – jetzt. Wir können uns erinnern – und wir können hoffen. Wir entwickeln Neugierde für das, was war – und wir strecken uns aus nach dem, was kommt. Unser Atem wird weit. Wir lassen uns wieder Zeit dafür, auszuatmen und einzuatmen. Wir erinnern uns an die, denen wir unser Leben verdanken. Und wir denken an die, auf deren Leben wir unsere Hoffnung setzen.

Dieser macht uns den langen Atem leicht. Vor 850 Jahren wurde sein Fundament gelegt. Seine Steine sind alt. Aber jede Generation hat sich das älter werdende Gebäude auf ihre Weise angeeignet. Unsere Generation hat das Fundament auf dem schwankenden Grund der Havelinsel neu befestigt; und zuletzt haben wir den Innenraum festlich gestaltet. Er hat ein Festgewand angelegt, um Geburtstag zu feiern.

Dreißig Generationen sind bisher durch diesen Dom gegangen, haben in ihm gesungen und gebetet, haben ihr Leid und ihre Freude vor Gott gebracht. Sie haben Irrtümer begangen und sie bereut, sie haben Gott um Kraft gebeten und mutig gehandelt. In diesem Dom zählt die Echtzeit nicht nach tausendstel Sekunden, sondern sie zählt im Rhythmus von tausend Jahren. Das öffnet unseren Blick für das Wunder des Lebens.

Jedes einzelne Leben ist in Gottes Zeitrechnung nur ein Wimpernschlag. Und doch ist für Gott jedes Menschenleben wichtig. "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst. Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott; mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt." In der Echtzeit Gottes gehören die Generationen zusammen. In ihrem Kommen und Gehen werden sie durch Gottes Treue getragen, in der Endlichkeit ihres Lebens wissen sie sich in Gottes Ewigkeit geborgen. Sie jubeln mit den Engeln und fallen niemals tiefer als in Gottes Hand.

In das Vertrauen auf Gottes Treue nimmt uns dieser Dom hinein – in den Proportionen des Raums, im Klang der Musik, im Hören wie im Beten.  Jede Generation darf in diesem Haus Gottes ihre Spuren hinterlassen. In seine frühste Zeit tauchen wir ein, wenn wir am Altar vorbei in die Krypta hinunter gehen. Hier finden wir die ältesten Bauteile. Zu ihnen gehören die Kapitelle am Abschluss der Säulen. Rätselhafte Wesen zeigen sie, halb Mensch, halb Tier. Als die Kapitelle hergestellt wurden, war man offenbar nicht einmal sicher, wofür man sie verwenden wollte – vielleicht gar nicht für eine Kirche. Deshalb sind auch die heute verdeckten Seiten von den Bildhauern kunstvoll gestaltet.

Die Krypta führt uns aber auch an unsere Gegenwart heran. in ihr befindet sich eine Gedenkstätte für Menschen, die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft um ihrer Überzeugung willen verfolgt und ums Leben gebracht wurden. 

Unter ihnen war Dietrich Bonhoeffer, der sich am Widerstand gegen Hitlers Herrschaft beteiligte und deshalb am 9. April 1945 umgebracht wurde. Er wollte herausfinden, worauf es ankommt, und fand dabei Halt an unserem Psalm. Den Willen Gottes im eigenen Leben erkennen; das tun, was nötig ist und anderen weiter hilft; das Leben fröhlich bejahen und dem Jammern nicht die Herrschaft überlassen; redlich sein im persönlichen wie im öffentlichen Leben: so konnte er beschreiben, worauf es ankommt. Dabei entdeckte er die Stationen auf dem Weg der Freiheit: "Nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen."

Auf Gottes Treue verließen sich die Bildhauer der frühen Zeit ebenso wie Dietrich Bonhoeffer und seine Freunde. Auf Gottes Treue baute der Forstmeister, der die Wälder des Doms über Jahrzehnte bewahrte und pflegte; auf sie verlassen sich Lernende und Lehrende in unseren Schulen ebenso wie die Gestalter des Museums. Wer die Stille dieses Doms sucht, sich an der Musik freut, die in ihm erklingt, im Hören und Beten mit Gottes Geist verschmilzt, erlebt einen Ort, der das Vertrauen auf Gottes Treue stärkt.

Wir alle können das erleben. Zuversichtlich können wir dann mit unserem Psalm sagen: "Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände." Amen.