Weihnachten wie immer ? - Predigt zu Offenbarung 7, 9-12 (13-17) von Bernd Vogel
7,9-12

Weihnachten wie immer ? - Predigt zu Offenbarung 7, 9-12 (13-17) von Bernd Vogel

Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen,

und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei unserm Gott, der auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm! Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

(Und einer der Ältesten antwortete und sprach zu mir: Wer sind diese, die mit den weißen Kleidern angetan sind, und woher sind sie gekommen? Und ich sprach zu ihm: Mein Herr, du weißt es. Und er sprach zu mir: Diese sind's, die aus der großen Trübsal kommen und haben ihre Kleider gewaschen und haben sie hell gemacht im Blut des Lammes. Darum sind sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel; und der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen. Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze; denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. [Offbg. 7,9-12 (13-17)]

Manch einem drängt sich der Eindruck auf, es sei schon im Gange. Es sei schon im Schwange das große Finale, es sei schon eröffnet das Buch mit den ‚7 Siegeln‘, es habe schon begonnen der große ‚Tag des Zorns‘ (Offbg. 6,17).

Fast zu billig, aber naheliegend, erscheint der Hinweis auf einen fast täglich in den Nachrichten in Szene gesetzten Möchtegern-Imperator der nach außen wie innen verunsicherten Weltmacht USA. Mit ‚America first‘ und seiner neuen nationalen Sicherheitsstrategie ‚Frieden durch Macht‘ hat er die vergangene Weltmacht Rom so dumm wie gefährlich kopiert. In dieser Hinsicht entspricht die weltpoltisch-kulturelle Ausgangslage heute jener für den Seher Johannes gegen Ende des 1. Jahrhunderts nach der Geburt Jesu Christi verblüffend genau.

Der Predigttext aus Kapitel 7 der Offenbarung des Johannes steht vor Kapitel 8, worin – ermöglicht allein durch das ‚geschlachtete Lamm‘ (Offbg. 5,5 in Verbindung mit 5,12) – das ‚siebente Siegel‘ aufgetan wird, daraufhin der Engel Gottes das Feuer vom Himmel auf die Erde schüttet, wonach unter dem Klang von sechs Posaunen weitere finale Schrecken auf die dem Tode geweihte Erde losgelassen werden.

Was nun hat das mit Weihnachten zu tun? Wer will denn zu Weihnachten so etwas hören?

Die gewaltsam ermordeten Christen am Ende des 1. Jahrhunderts in Kleinasien, an der Küste der heutigen Türkei – die wollten so etwas gern hören: „Und sie schrien mit großer Stimme: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“ (Offbg. 6,10). Im Nahen Osten, in einigen Ländern Afrikas, in China, in Nordkorea werden heute wieder Christen unterdrückt, teilweise gewaltsam verfolgt. Sie werden zu Märtyrern, weil sich ihr Glaube nicht vereinbaren lässt mit der uneingeschränkten Macht der Machthaber. Der ‚Frieden durch Macht‘ fordert seine Opfer. Wenn diese Christen heute die Offenbarung des Johannes lesen, dann empfinden sie die Sehnsucht an ihrem ganzen Leib, dass Gott nicht erst am Ende, sondern recht bald kommen möge zum ‚Gericht‘, dass Gott ihre Tränen abwischt und – anders erscheint es ihnen kaum möglich – sie ‚rächen‘, d. h. derart ins Recht setzen wird, dass die Peiniger beschämt werden und das Böse in einem Feuerpfuhl versinkt und verbrennt.

Haben wir nicht doch ein Recht darauf, wenigstens einmal im Jahr, an 2 oder 3 von 365 Tagen, abzuschalten, wenn uns über unsere Bildschirme die tägliche Dosis Schrecken, Abscheu und ohnmächtige Wut drohen? Vielleicht gibt es sogar die Pflicht, mit unserer eigenen Seele behutsamer umzugehen, als wir es gemeinhin tun. Gerade an Weihnachten wäre es fahrlässig, unverantwortbar, wenn wir uns nicht wenigstens jetzt einmal freischalteten von dem Weltelend in fernen Ländern oder um die Hausecke. Wo soll das hinführen, wenn wir nun auch im Gottesdienst, im Angesicht von Krippe und Weihnachtsbaum, die Weltprobleme verhandeln müssten, an Verfolgung, Leiden, Gefängnis und gewaltsamen Tod denken müssten, statt einfach einmal abzutauchen in die lange nicht mehr gespürte Tiefe unserer Sehnsucht und des Weihnachtsfriedens? Gefühle sind an sich berechtigt. Wer so fühlt, hat Gründe. Es ist nur wichtig, sich selbst gegenüber ehrlich zu werden, immer wieder einmal hinzuschauen: Was betreibt mich eigentlich? Welchem vielleicht unerkannten Lebensprogramm folge denn ich? Bin ich so frei, Neues zu denken und eines Tages vielleicht auch Neues, Anderes zu empfinden, mein Leben anders zu leben? Oder ist das zu viel verlangt?

Gefangen gehalten im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin Tegel schrieb Dietrich Bonhoeffer an seinen Freund:

„Ich beobachte hier immer wieder, daß es so wenige Menschen gibt, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können; wenn  Flieger kommen, sind sie nur Angst, wenn es etwas Gutes zu essen gibt, sind sie nur Gier; wenn ihnen ein Wunsch fehlschlägt, sind sie nur verzweifelt; wenn etwas gelingt, sehen sie nichts anderes mehr. Sie gehen an der Fülle des Lebens und an der Ganzheit einer eigenen Existenz vorbei; alles Objektive und Subjektive löst sich für sie in Bruchstücke auf. Demgegenüber stellt uns das Christentum in viele verschiedene Dimensionen des Lebens zu gleicher Zeit; wir beherbergen gewissermaßen Gott und die Welt in uns“ (29.5.44 an E. Bethge, Widerstand und Ergebung, Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. VIII, 453).

Und auch das schrieb Dietrich Bonhoeffer im gleichen Zeitraum:

„Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. […]. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.“ (16.7.44, WE, 534 f.).

Dass nur der leidende Gott helfen kann, ist die Lebens- und Glaubenserfahrung eines zu seiner Zeit seinerseits Verfolgten, eines Gefangenen. Dietrich Bonhoeffer hat den ‚leidenden Gott‘ zu lieben gelernt, den am Ende siegreichen Überwinder aller Imperatoren und Volksverführer. In der Offenbarung des Johannes siegt das ‚Lamm‘ durch sein Leiden. Allein das ‚geschlachtete Lamm‘ kann uns helfen, könnten wir in Bonhoeffers gedrängter Sprache sagen.

Aber wie denn ‚hilft‘ es uns? Die Kirche hat über fast zwei Jahrtausende das Geheimnis des siegreichen Lammes in das Geheimnis der Eucharistie umgemünzt: Die Imperatoren, die Dummköpfe und Bösartigen der Welt mochten ihr Unwesen noch eine geschichtlich begrenzte Zeit lang treiben: Mitten in dieser vergehenden Weltzeit gab es doch schon das ganze Heil Gottes auf dem Altar des ‚Lammes‘, ‚geschlachtet‘ ‚für uns‘, ‚wegen unserer Sünden‘, ‚zu unserem ewigen Heil‘ …

Hat das der Seher Johannes gemeint? Meinte das Dietrich Bonhoeffer? Wohl kaum. Johannes sah Gottes Handeln in der Weltgeschichte. Der Kult derer in den weißen Gewändern, mag sie ermutigen. Das Gotteslob auf ihren Lippen mag ihre Herzen weiten. Die Feier des Abendmahls wird sie immer von Neuem gestärkt haben in ihrer Seele und sie gewissermaßen ‚rein gewaschen haben‘ von Sünde, Tod und Teufel. Entscheidend aber war ihnen, dass sie die konkrete Hoffnung festhielten darauf, dass das ‚Lamm‘, das schon gesiegt hat (Offbg. 5,5), sich in einem kosmischen Endkampf siegreich erweisen wird. Unterstützt von den ihm vorausarbeitenden apokalyptischen Reitern, wird Jesus Christus, das einstmals ‚geschlachtete Lamm‘, auf einem Schimmel reitend an der Spitze eines himmlischen Reiterheeres die Mächte des Bösen wirksam besiegen (Offbg. 19). Dann wird Gott seine ‚Hütte‘ bei den Menschen nehmen und alle Tränen abwischen von den Augen derer, die um seinetwillen gelitten haben. Und dann wird Gott für alle Welt den Schmerz, das Geschrei und den Tod beenden, überwinden, abtun.

An all dem haben die Christen jetzt schon Anteil. Das hat Dietrich Bonhoeffer tatsächlich geglaubt. Und der Seher Johannes auch. Das alles wird nicht erst sein: Das war schon – das Lamm ‚hat‘ bereits gesiegt – und das ist je jetzt so; denn die in den weißen Gewändern sind schon hier, in diesem Leben, auf der Erde, im Alltag, Menschen, die sich wenigstens ab und an dadurch auszeichnen, dass sie eine innere Freiheit haben, eine Klugheit auch, die nicht jeder Mensch so einfach hat. Und sie singen! Sie singen ihre Glaubenslieder inmitten von Trostlosigkeiten. Diese Freiheit, diese Stärke kann in Menschen wachsen, die sich in die Nähe des ‚Lammes‘ begeben und bei ihm aushalten. Allein und in Gemeinschaften. Wie es kommt.

Glauben wir das? Vielleicht hilft uns zu diesem Glauben das scheinbare Gegenteil dessen, worum es bisher ging, ein anderer Aspekt des Lebens in dieser Welt. In Bezug auf Weihnachten könnte die große Erlaubnis lauten:

Der Genuss des Lebens, der Festtagsbraten oder das Käse-Fondue, festliche Musik, Posaunenchöre und Gesang, Kerzenschein und abendliche Ruhe, die Feier der familiären Gemeinschaft oder im Kreis der Freunde und Freundinnen können und dürfen uns beglücken und befrieden. Das Kind in der Krippe ist dazu gekommen, dass Menschen ihr Leben annehmen und auskosten, so wie Gott das menschliche Leben angenommen und ausgekostet hat (auch das eine Redewendung von Dietrich Bonhoeffer). Zugleich ist das Kind gekommen, um für andere da zu sein bis zum eigenen, gewaltsamen Tod am Kreuz. Das eine stimmt mit dem anderen. Beides können wir in uns ‚beherbergen‘, schrieb der Gefangene in Tegel. Es ist gerade das ‚Lamm‘, das uns helfen kann und helfen wird.

Gegen die Dummheit und Bosheit in der Welt hilft uns keine Weltflucht, allerdings auch kein Versinken in Mutlosigkeit und Depression. Christen leben aus der Stärke des siegreichen Lammes. Sie sind keine Weltflüchtigen. Christen verschanzen sich nicht in ihren Sorgen und Ängsten. Sie sorgen sich nicht um den Bestand der Kirche und fürchten nicht den Untergang des Abendlandes, wenn aus anderen Weltgegenden Menschen nach Europa und nach Deutschland flüchten und wandern. Ist das Leben dort in Armut und ohne Zukunftsaussichten, macht es junge Menschen mutlos und traurig, so dass manche lieber sterben möchten – wer kann es ihnen verdenken, dass sie ihr Glück bei uns suchen? Christen nehmen das wahr und an und fürchten nicht, sie könnten dabei selbst zu kurz kommen. Christen könnten stattdessen fragen: Was will uns das bedeuten? Fromm gefragt: Was will Gott damit uns sagen? Weniger fromm: Welche Politik müssen wir machen, dass Menschen in Ruanda oder Syrien eine echte Chance in ihrem Heimatland haben?

Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen und riefen mit großer Stimme …

Nachdem zuvor die sprichwörtlichen ‚144.000‘, 12.000 aus jedem Stamm Israels, sich vor dem Thon des Lammes versammelt haben (Offbg. 7,1-8), tritt eine unzählbar große Gruppe Menschen aus allen Völkern auf, angetan mit den weißen Kleidern der Hoffnungsvollen und Geretteten, und huldigt ihm als ihrem messianischen König und Gott. Die Rede ist nun nicht mehr von Religionen und Kultgemeinschaften, die mit einander konkurrierten um ‚Gläubige’, ‚Mitglieder‘, ‚Anhänger‘ und ‚Kunden‘. Das Lamm versammelt die Völkergemeinschaft vor seinem Thron und schafft universalen Frieden.

Friede auf Erden den Menschen, an die sich das göttliche Kind hingegeben hat. Das Lamm, der Löwe aus dem Stamm Juda.

Weihnachtlicher sollte uns gepredigt werden?

Amen.