Weisung für ein Leben in Freiheit - Predigt zu 2. Mose 20, 1-17 von Christoph Schweizer
20,1

Weisung für ein Leben in Freiheit - Predigt zu 2. Mose 20, 1-17 von Christoph Schweizer

Weisung für ein Leben in Freiheit
  
  Wo bitte geht’s hier lang?
  Was mach ich hier?
  Wo will, wo soll ich hin? Und wie komm‘ ich da hin?
  Wie mache ich es richtig, mein Leben?
  
  Liebe Gemeinde,
  unsere Welt ist voller Experten, voller Wissen, voll von Möglichkeiten, zu entscheiden.
  Aber wie werden wir selbst zu Experten?
  Zu Experten für unser Leben, für gute Partnerschaft, für die Kunst, Kinder zu erziehen,
  im Beruf weiter zu kommen und dabei auch noch glücklich zu werden,
  Experten dafür, wie das geht, alt zu werden?
  
  Viele Ratgeber bieten sich an, in Zeitschriften, Büchern, im Fernsehen.
  Sie gaukeln uns vor: „Ich nehm dich an die Hand. Ich bin Dein Experte. Und ich mache Dich zum Experten.“
  
  Und dann kommt da dieser alte Text aus einer fernen Zeit und einer fremden Welt daher,
  aus dem zweiten Buch Mose.
  Und sagt seinerseits, wo’s lang geht.
  Ein Text, wie in Stein gemeißelt. Einer der Kerntexte unserer Kultur: „Die Zehn Gebote“.
  
  Alt. Vertraut. Und fremd und überraschend.
  Schon der Einstieg. Da steht erst mal gar kein Gebot. Da steht: „Ich bin.“
  „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“
  
  Dieser erste Satz gibt den Ton an. Er macht deutlich: Was jetzt kommt, sieht zwar aus wie eine Liste von Geboten, Regeln, Verhaltensregeln. Aber es ist mehr.
  Es ist Gottes Geschenk an uns. „Weisung“, Tora, nennen die Israeliten dieses Geschenk.
  Weisung, Orientierung für ein Leben in der Freiheit, die Gott uns schenkt.
  
  Aber was soll das denn für ein Geschenk sein – warum braucht es Regeln für das Leben in Freiheit?
  Heißt Freiheit nicht, möglichst zwanglos zu sein, vollkommen frei entscheiden, was wir tun?
  Keine Rücksicht auf Zwänge, und auf Empfindlichkeiten der anderen.
  Hauptsache, ich kann mich verwirklichen.
  
  Aber mal ehrlich: Ist das wirklich Freiheit? Oder ist das einfach nur ein gesteigerter Ego-Trip?
  Vielleicht ist es ja doch so, dass Freiheit ohne Regeln, ohne Orientierung, ohne Weisung gar keine echte Freiheit ist? Denn wir leben in Beziehungen.
  Und ein Leben in Beziehung ist ein Leben, das Rücksicht nimmt, das kommuniziert, das den eigenen Weg im Austausch mit anderen klärt.
  
  Drum bringt Gott sich hier auch deutlich als Beziehungs-Gott ins Spiel.
  „Ich bin der Herr, Dein Gott.“
  „Ich habe Dich aus der Knechtschaft geführt.“
  Und dann gleich in den ersten beiden Geboten:
  „Du sollst keine anderen Götter haben. Du sollst Dir kein Bildnis“ – gemeint ist: kein Bild von anderen Göttern – „machen“. Kein Bild, um es anzubeten. „Denn ich bin ein eifernder Gott.“
  
  Da zeigt einer, dass es ihm ernst ist um die Beziehung.
  „Ich bin Dein Gott. Ich bin ein eifernder Gott.“
  Das heißt auch: Du bist nicht irgendwer für mich.
  Du bist mir wichtig.
  
  Wir sind Gott wichtig.
  Das ist der rote Faden, der sich durch diese ganze Erzählung vom Auszug aus Ägypten zieht, in deren Zusammenhang diese Zehn Gebote gehören.
  Sie erinnern sich?
  Israel lebt in Ägypten und wird vom Pharao zu harter Sklavenarbeit gezwungen und massiv unterdrückt.
  Und dann gibt es diese schillernde Gestalt, schillernd wie viele zentrale Figuren in der Bibel: Mose.
  Als Säugling in schweren Zeiten ausgesetzt.
  Ausgerechnet die Tochter des Pharaos rettet ihn, so wird berichtet.
  Später schlägt er einen ägyptischen Aufseher tot, der die israelischen Sklaven gnadenlos plagt.
  Er flieht ins Exil.
  Und ausgerechnet ihm, dem Totschläger im Exil, begegnet Gott in einer Vision – für die Kenner unter Ihnen: ich rede von der Geschichte von Gott im brennenden Dornbusch – und beauftragt Mose, die Israeliten aus der Sklaverei herauszuführen.
  
  Was Gott an der Stelle von sich sagt, ist zentral. Es ist der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen.
  Gott sagt zu Mose: „Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei gehört.“
  
  Ein radikal anderer Gott ist das, als wir Menschen ihn uns oft zusammenbasteln.
  Kein fernes, geheimnisvolles Wesen.
  Kein Herrscher fern über den Wolken.
  Nein, ein naher Gott, der uns sieht, unsere Not hört, der sich für uns interessiert.
  Und der sich in unsere oftmals komplizierten Geschichten mit rein begibt, Teil unserer Geschichte wird.
  
  Sie wissen sicher, wie die Geschichte weitergeht mit Gott und Israel und den Ägyptern.
  Es gibt noch viele Irrungen und Wirrungen, bis die Israeliten endlich auf der sicheren Seite des Wassers stehen und die Ägypter mit ihren gefährlichen und schnellen Kampfwagen in den Fluten versunken sind.
  Und auch dann ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende. 40 Jahre lang irren die Israeliten durch die Wüste.
  
  Und über dieser ganzen Befreiungsgeschichte und durch sie hindurch und damit auch durch die Zehn Gebote immer wieder dieser rote Faden:
  „Ich bin Euer Gott. Ich habe Eure Schreie gehört. Ich sehe Euch. Ihr seid mir wichtig. Ich will Euch Freiheit schenken.“
  
  Freiheit zum Beispiel von anderen Göttern, die wir uns machen – und die uns Freiheit rauben.
  „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“
  Nicht den Gott Erfolg. Nicht den Gott Anerkennung, Schönheit, Geld.
  Diese Götter machen uns nicht frei, sondern abhängig, weil wir uns immerzu abstrampeln müssen, ihnen nahe zu kommen.
  
  „Ich bin der Herr, Dein Gott“ – der Schöpfer und immer neu Erschaffer, unser Befreier.
  Diesen Gott haben heißt: Wir müssen uns und unsere Welt nicht ständig neu erschaffen und erfinden.
  Denn wir sind schon erschaffen, und wir sind gut erschaffen.
  
  Wir dürfen, wir können und wir sollen unsere Welt mitgestalten,
  uns für ein gutes Zusammenleben, für Gerechtigkeit, Frieden, Schönheit einsetzen.
  Das schon.
  Aber wir müssen nicht rund um die Uhr unsere Welt bearbeiten.
  Selbst Gott hat sich nach sechs Tagen der Welterschaffungs-Arbeit ausgeruht.
  Und deshalb heißt das Gebot:
  „Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest.“
  
  Was Israel der Sabbat ist, ist für uns der Sonntag.
  Was heißt es, diesen besonderen Tag zu heiligen?
  
  Für viele ist der Sonntag ein Alptraum.
  Den einen ist zu wenig los,
  andere quälen sich bei Verwandtenbesuchen und Familienfesten.
  Wer einen Ausflug macht, steht im Stau und später an der Kasse zur Wilhelma oder zum Freizeitpark in der Schlange.
  Trotz allem: Ich genieße den Sonntag, immer wieder.
  Ich genieße es, dass er sich anders anhört wie andere Tage.
  Manchmal bilde ich mir ein, der Sonntag riecht sogar anders.
  Sonntag: Das riecht nach Spaziergang.
  Jetzt im Herbst riecht er nach fallendem Laub.
  Sonntag, das ist Kirche, das ist Gottesdienst feiern, den Alltag unterbrechen lassen.
  Sonntag, das ist gemeinsam singen, beten, Orgelmusik.
  
  Sonntag, das ist der Spaziergang im Park.
  Mal nicht funktionieren und den vielen Pflichten nachkommen,
  sondern rauskommen, was anderes sehen und Zeit füreinander haben.
  Es ist gut und wichtig, dass wir alle miteinander einen Tag haben, der anders ist, der sich vom Alltag abhebt. Er ist ein gutes Geschenk Gottes an uns.
  
  Und deshalb ärgert es mich, wenn der Sonntag kaputtgemacht wird,
  hier ein verkaufsoffener Sonntag und da noch einer und noch einer.
  Es ärgert mich, wenn immer mehr Ausnahmen vom Ladenschluss erlassen werden und damit für Verkäuferinnen und Verkäufer der Sonntag zu einem ganz normalen Arbeitstag wird.
  
  Ich bin mal auf einer Wanderung mit einem Mann ins Gespräch gekommen, der irgendwo weit draußen auf einer Wiese seinem einsamen Hobby nachging: Modellflugzeug fliegen.
  Wir hatten Zeit, und er hat mir von sich erzählt.
  
  Er arbeitete in einer Fabrik am Fließband.
  Diese Fabrik steht nur deshalb in Süddeutschland und nicht in Rumänien oder einem anderen Niedriglohnland, weil der Betriebsrat zugestimmt hatte, dass in der Fabrik rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche, produziert wird.
  Dort arbeitete der Mann, in Wechselschichten, morgens, nachmittags, nachts, und gleichmäßig an allen Tagen in der Woche. Auch an Samstagen, Sonntagen, Feiertagen.
  Dabei wird in dieser Fabrik überhaupt nichts akut Überlebenswichtiges produziert.
  Nur Elektronik für Autos.
  Aber die sie produzieren lassen, nehmen sich doch so wichtig – spielen sich doch so sehr als kleine Götter über die Zeit ihrer Mitarbeiter auf – dass sie sagen: unsere Bänder müssen auch am Sonntag laufen.
  
  Und der Mann?
  Kann in keinem Verein regelmäßig mitmachen. In keinem Chor singen.
  Kann oft nicht mit seinem Sohn auf den Fußballplatz. Und auch nicht in die Kirche.
  Er arbeitet.
  Und wenn er frei hat, an einem Mittwochvormittag, ist er alleine draußen mit seinem Modellflugzeug.
  
  Verstehen Sie jetzt, warum ich der Meinung bin, ein guter Sonntagsschutz ist auch ein guter Schutz unserer Freiheit?
  Warum ich meine, es ist ein hohes Gut, was Gott uns da schenkt?
  Wir müssen ihn pfleglich behandeln, unseren Sonntag. Pfleglicher, als wir es tun…
  „Die Menschen müssen arbeiten, damit der Umsatz stimmt, damit sich die teuren Maschinen rentieren“, sagen die Vertreter der Wirtschaft.
  Aber der Sonntag will ja gerade auch ein Zeichen dafür sein,
  dass nicht die Menschen für die Maschinen, sondern die Maschinen für die Menschen da sind.
  Und der Sonntag will uns erfahren lassen, wer noch für uns da ist: nämlich Gott.
  Im Gottesdienst feiern wir seine Zuwendung zu uns.
  
  Eine sonntägliche Lebenshaltung auch im Alltag wäre gut:
  Eine Haltung, in der wir Platz haben für Gelassenheit, weil wir wissen, dass wir nicht alles selbst machen müssen.
  In der wir uns und den anderen als geliebtes Geschöpf Gottes sehen, das zwar noch nicht perfekt ist, mit dem Gott aber noch etwas vorhat... –
  Diese Haltung würde unseren Umgang mit dem anderen Menschen prägen.
  Sie würde uns frei zur Liebe machen, weil wir uns nicht dauernd um uns selbst drehen müssen.
  
  Ich will keine heile Welt beschwören:
  Natürlich lieben wir nicht jede und jeden, und die wir lieben, lieben wir nicht immer perfekt.
  Doch eine sonntägliche Lebenshaltung kann uns immer wieder davor bewahren,
  im anderen Menschen ein Mittel zu meinen Zwecken zu sehen.
  
  Ich denke, das ist der tiefere Sinn des Satzes:
  „Du sollst nicht ehebrechen“:
  Ich soll keinen Menschen nach Gebrauch wegwerfen.
  Ich soll den anderen Menschen als Gegenüber respektieren,
  besonders natürlich denjenigen Menschen, der mir zum besonderen Gegenüber, zum Partner, zur Partnerin geworden ist.
  Ich soll ihn liebevoll fördern, wie ich auch hoffe, von ihm, von ihr geliebt und vorangebracht zu werden. Ich fördere ihn, wenn ich ihn, wenn ich sie spüren lasse: Du, ich lasse dich nicht bei der ersten Enttäuschung fallen wie eine heiße Kartoffel, ich halte zu dir.
  
  Am Schluss der Zehn Gebote kommt eine Liste von Dingen meines Nächsten, die ich nicht begehren soll.
  „Du sollst nicht begehren...“ Oder anders gesagt: „Du sollst nicht neidisch sein.“
  Warum? Wieder geht es um meine Grundeinstellung zu meinem Leben:
  Wenn ich es als ein Geschenk Gottes verstehe, dann kann ich es dankbar annehmen, wie es ist.
  Ich kann vertrauen: Es ist gut. - Und wo es nicht gut ist, gilt trotzdem die Verheißung Gottes:
  Er will, ja, er wird es gut machen.
  
  Liebe Gemeinde, wir haben jetzt nicht alle Zehn Gebote in aller Breite betrachtet.
  Aber ich bin sicher, der Schlüssel passt zu allen:
  Sie lassen sich verstehen als Hinweise, Weisungen,
  als Sätze, die uns zu knabbern und nachzudenken geben,
  wie das aussehen könnte: Ein Leben in Freiheit.
  Nicht in der schalen Freiheit des Eogismus, in der ich keine Rücksichten nehme.
  Sondern ein Leben in der Freiheit liebevoller Beziehungen.
  Ein Leben, das sich auf diese liebevollen Beziehungen und die damit verbundene Rücksicht einlässt,
  weil es weiß, dass es selbst seinen Grund in der Beziehung Gottes zu uns, in seiner Liebe, in seinem Interesse und seinem Engagement für uns hat.
  
  Gott, der immer längst schon da war, wenn wir unseren Weg beginnen,
  und immer längst schon da sein wird, wenn wir zum Ziel kommen.
  Gott, der uns zwischen Beginn und Ziel begleitet, uns Weisung gibt und Weggefährten.
  Gott, der von uns nicht verlangt, dass wir die Welt erschaffen,
  der uns sehr wohl aber zumutet, dass wir Verantwortung übernehmen für ein gutes Zusammenleben.
  Die Zehn Gebote stehen für diese Zumutung und dieses Zutrauen.
  Lasst uns zusammen weitergehen auf diesem Weg,
  mit Gottes Segen.
  Amen.