Wie wir leben sollen - Predigt zu Römer 12,9-21 von Eberhard Schwarz
12,9-21

Wie wir leben sollen - Predigt zu Römer 12,9-21 von Eberhard Schwarz

Wie wir leben sollen

Liebe Gemeinde,
der zweite große Teil des Römerbriefes ist eine Antwort des Apostels Paulus auf die Frage, wie wir als Christinnen und Christen in dieser Welt leben sollen. Es geht um unseren Lebensstil. Bevor wir seine Antwort und damit den Predigttext aus dem 12. Kapitel des Römerbriefs hören, möchte ich diese Frage dreimal beleuchten.

Wie sollen wir leben?

Zwischen März 1520 und Ende Oktober desselben Jahres hatte Luther drei wichtige Schriften der Reformation verfasst. "An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung ": darin geht es um ein politisches Reformprogramm, um Bildung, die nicht allein dem Klerus zugehören soll, um die Abschaffung des Zölibats, um die Einschränkung des Zinsnehmens, um Armenfürsorge und um anderes mehr. Sehr handfeste, auch aus heutiger Sicht bedeutende Verbesserungsvorschläge für eine Gesellschaft, die Sehnsucht nach Erneuerung hat.

Die zweite Schrift ist "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche", in der es um ein anderes Sakramentsverständnis geht – und im Hintergrund um eine neue Gestalt von Kirche.

Und schließlich schreibt er "Von der Freiheit eines Christenmenschen" mit den beiden an Paulus anknüpfenden Kernsätzen: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“ - durch den Glauben. Und gleichermaßen gültig: "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller und jedermann untertan“ - durch die Liebe. Alle diese Schriften haben ihre Wurzeln in der biblischen Arbeit des Wittenberger Theologieprofessors. In diesen Jahren ist Luther besonders mit seinen Psalmenauslegungen und immer wieder mit Paulus befasst.

Ihn beschäftigt, wie das Evangelium der Befreiung, wie die Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes öffentlich, lebendig, konkret werden kann in einer Welt der Angst, der Kleinmut, der Schuldverhaftung. Es sei ein kleines Büchlein, wenn man das Papier ansehe, aber doch die ganze Summe eines christlichen Lebens darin begriffen, wenn der Sinn verstanden würde, schreibt er über die Freiheitsschrift. Den Sinn würden besonders die ‚pauperes‘, die Armen, die erwählten Kinder Gottes verstehen. Warum besonders sie, die aus eigenen Kräften das Leben nicht planen, gestalten, entwickeln können?

Wie sollen wir leben?

Wir wissen: Das 15. und 16. Jahrhundert ist eine Zeit, in der unaufhörlich über neues Leben nachgedacht wird. Theologen suchen nach einer Reform der Scholastischen Theologie und des kanonischen Rechts, das bedrückend und schwer auf den Menschen lastet. Sie warten auf den Engelspapst und auf den Friedenskaiser. Beide bleiben aus. Andere stehen in der Erwartung des Weltendes. Sie stellen sich auf den großen Zusammenbruch der Dinge ein, lassen Welt Welt sein. Luther gehört zu keiner der beiden Seiten wirklich. Er ist keiner, der nur auf Strukturreformen setzt und auch gehört er nicht zu der Sorte  von Apokalyptikern, denen die Welt egal ist.

Für ihn gilt: die Zeit ist im Übergang. Es ist Zwischenzeit. Wir leben im Advent. Gott kommt uns im Evangelium von Jesus Christus entgegen, ruft uns, sucht uns, will unsere Antwort. Wenn wir über das Leben, über unsere Ziele, über das, wofür wir leben wollen, nachdenken, dann nur unter dem Blick der Vorläufigkeit. Und nur so, dass unser weltliches Handeln immer als ein vorläufiges erkennbar wird. Auch die Maßstäbe, nach denen wir urteilen und handeln.  

Es war die Theologie am Beginn des vergangenen Jahrhunderts, die dies noch einmal in aller Deutlichkeit gesehen und gesagt hat: dass uns das Evangelium mit unseren irdischen und weltlichen Handlungen immer wieder vor Gott und vor die Ewigkeit stellt. Sie haben gefragt: Vor welchem Horizont leben wir? Und sie haben erkannt, dass sich davon ausgehend entscheidet, wie wir leben sollen, welches unsere Maßstäbe sind.
 
Wie wir leben sollen? Die Antwort entscheidet sich vor dem Horizont, in dem unser Leben steht. Diese Einsicht teilen Luther, und die dialektische Theologie des 20. Jahrhunderts und der Apostel Paulus. 

Für die frühen Christen ist es der Horizont von Ostern. Ein Leben, das nicht aus der Todesangst, sondern aus der Freude des ankommenden Gottes inspiriert ist. Leben im Horizont des Gottes, der uns gerecht macht, der uns frei spricht und tröstet und Mut macht in einer Welt, die auf seine Ankunft wartet.

Wie sollen wir leben?

Vor einigen Jahren, 2009, reiste der amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Joseph Stiglitz um die Welt. Begleitet von Journalisten und einem Fernsehteam, unterwegs von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent, im Gespräch mit ganz unterschiedlichen Menschen: Staatspräsidenten in Südamerika, mit indischen Bauern, mit Ölmagnaten, mit einfachen Leuten in Ostafrika, mit Frauen und Männern hier in Europa. Eine Reise auf der Suche nach den Lebensbedingungen und Lebenschancen in den armen und in den reichen Ländern. Er sucht nach Spuren anderen Lebens. Stiglitz begegnet Menschen in seiner amerikanische Heimatstadt Gary, die ihre Arbeit verloren haben. Wir sehen den Bürgermeister dieser Stadt, der nach China reist, um neue Arbeitsplätze zu verhandeln. Wir sehen, das Zerstörungspotenzial ungezügelter Marktkräfte für die Umwelt, für das Zusammenleben der Menschen. Wir sehen große Gefährdungen von Natur und Gesellschaft. Wir sehen, wie wir Schritt für Schritt hineintaumeln in eine neue Welt, die uns überfordert.

Aber inmitten all dieser Zusammenhänge, die uns, den Einzelnen bei weitem übersteigen, begegnen wir auch Menschen, die sich nicht entmutigen lassen; die sehen, dass neues möglich ist; die spüren und merken, dass im Loslassen von Altvertrautem und Altgewohntem die Chance zur Erneuerung liegt, ebenso wie in der Besinnung auf die Dinge, die gut sind, und die uns Kraft geben und die uns tragen. Sehr viele mutige Menschen zeigt uns diese Reise. Sehr viele freie, kraftvolle Lebensentwürfe. Frauen und Männer, die zueinander stehen. Junge und Alte, deren eindrucksvolle Geschichte in den Katastrophenmeldungen untergehen. Mit Ideen für heute und für die Welt von morgen: Oft sind diese Ideen noch ganz vage; oft müssen sie erst entwickelt werden. Auch hier sehen wir: Zwischenzeit und Adventliches in einem ganz anderen Sinne.

Wir sehen ein Leben nahe beim ursprünglichen Lebensstil von Kirche: diesem Leben aus Hoffnung, aus Erwartung, aus geschenkter Freiheit. Diesem Vertrauen auf den ankommenden Gott, auf den österlichen Christus, das neue Formen von Gemeinschaft, andere Lebensentwürfe freisetzt. Das frühe Christentum ist dahingehend fast eine gesellschaftliche Revolution. Es entstehen neue Wirtschafts- und Wohnformen, es entstehen Vereine, Hospize, es entsteht Kunst und Musik und Architektur.

Die Keimzellen dieses neuen Lebens sind immer wieder Tischgemeinschaften. Sie beginnen mit Jesus selbst. Sie werden gepflegt rund um das Mittelmeer: Es sind Einladungen in den Raum des Daseindürfens, in den Raum der Hoffnung. Das ist nicht nur etwas Gedachtes oder Inszeniertes. Menschen essen und trinken miteinander. Sie stärken sich an seinem Tisch. Da gibt es Segen und den Zuspruch von Vergebung. Trauernde finden Trost. Mutlose finden Freundschaft: Schwestern Brüder, Kinder, Mütter. Da sind die Übergänge in einen neue Zeit konkret und menschlich und phantasievoll und hoffnungsreich und sichtbar.

Da blitzen noch heute faszinierende Antworten auf auf die Frage, wie wir als Christinnen und Christen leben sollen.

Im September 1928 steht Dietrich Bonhoeffer als Deutscher Auslandsvikar in Barcelona auf der Kanzel. Noch weit entfernt von dem, was ihn wenige Jahre später erwarten wird. Noch weit entfernt von den Aufgaben, zu denen er gerufen wird. Er ist gerade 22 Jahre alt. Er Predigt über das 12. Kapitel des Römerbriefes. Des Paulusbriefes, der wie kein anderer entfaltet, was es heißt als Christinnen und als Christ in dieser Zwischenzeit und in der Erwartung des ankommenden Gottes zu leben. Der uns wie kein anderer zeigt, dass wir die Maßstäbe dieser Welt von Christus her immer wieder hinterfragen und infrage stellen müssen. Auch unser eigenes Leben.

Bonhoeffer sucht nach der Rolle der Kirche in der Zeit und in der Welt. In seiner Predigt sagt er: die Gegenwart ist die verantwortungsvolle Stunde Gottes mit uns, jede Gegenwart; heute und morgen, die Gegenwart in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit; es gibt in der ganzen Weltgeschichte immer nur eine wirklich bedeutsame Stunde - die Gegenwart. Die Gegenwart, in der uns Gott entgegenkommt mit seinem großen Horizont, mit dem Geschenk der Vergebung und des Segens und der Freiheit, aus der wir unser Leben gestalten können.

Hören wir aus dem Römerbrief, von dem Leben im Horizont von Gottes Advent (Römer 12,9-21)

9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an.
10 Die geschwisterliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.
11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.
12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.
13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.
14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.
15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.
16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.
17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.
19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22).
21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.