Wiedersehen im Herzen – Predigt zu Johannes 16,16-23 von Elisabeth Tobaben
16,16-23

Wiedersehen im Herzen – Predigt zu Johannes 16,16-23 von Elisabeth Tobaben

Liebe Gemeinde,

„Normalerweise“ steht auf einem Patenschein zu lesen, dass jemand Mitglied dieser oder jener Kirchengemeinde ist und das Recht hat, ein Patenamt auszuüben.
Das klingt sehr formalistisch und rechtlich.
Auf dem Formular einer Patin für die Taufe der kleinen E. am vorigen Sonntag in unserer Inselkirche fand ich einen hinreißenden Zusatz: „Wir wünschen Frau N. für diese schöne Aufgabe die richtigen Worte und angemessene Begleitung, um mit ihrem Patenkind einen guten, gelingenden Weg zu gehen, der einladend auf Gott und seine in der Taufe versprochene Liebe weist.“ Das hat mich sehr angerührt.
Mitgehen, auf Gottes Liebe hinweisen, zum Glauben einladen – kann man schöner beschreiben, worum es in der Gemeinde geht?
Zum Glauben einladen, auf die Liebe Gottes hinweisen, mitgehen - das ist auch die Absicht des Verfassers des Johannesevangeliums (Joh 20,31).
Aus seinem Buch ist uns heute ein Text zum Nachdenken vorgeschlagen ist, er steht im 16. Kapitel:

Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater? Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt? Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet. Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und er sprach zu ihnen: Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? Wahrlich, ich sage euch, ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll sich in Freude verwandeln. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen. (Joh 16,16-23)

Das ist nun allerdings ziemlich eigenartig.
Was soll das? Ein Abschnitt aus den Abschiedsreden Jesu, mitten in der österlichen Festzeit? Ist das Absicht, dass ich sofort wieder mit den Bruchstücken meiner Lebensgeschichte konfrontiert werde, Assoziationen habe, die die Schattenseiten und das Düstere, Schmerzen und Traurigkeit hervorholen? Irgendwie ärgerlich. Kann man denn nicht einmal im Jahr, wenigstens in der Osterzeit, über Freude nachdenken, ohne sofort wieder ausgebremst zu werden?
Ich merke: Ich brauche Abstand. Historischen Abstand.
Durch die Verse aus dem Johannesevangelium scheinen sich für mich fast wie von selbst verschiedene Ebenen übereinander zu schieben. Bilder gehen wie in Überblendtechnik ineinander über. Als Leserin kann ich eintauchen in verschiedene Zeiten und Situationen, Länder und Gemeinden, Sprachen und Religionen.
Farben und Gerüche, Geräusche und Stimmen mischen sich in meiner Vorstellung, vermischen sich mit meinen Hoffnungen und Träumen , Ängsten und Traurigkeiten.
Bilder sind mir vor Augen, auf denen Jesus mit seinen Jüngern unterwegs ist durch Galiläa, vor Ostern natürlich. Er predigt, er lehrt, wie so oft in den letzten Jahren, während sie mit ihm unterwegs waren.
Aber heute klingt es irgendwie anders, was er sagt, rätselhaft, unverständlich. Denn Jesus hält Abschiedsreden. Ausführlich.
Er führt lange Gespräche mit den Jüngern, will sie offensichtlich nicht zu sehr erschrecken, aber doch vorbereiten darauf, dass sie sich bald ohne ihn werden zurechtfinden müssen in dieser Welt. Ein schwieriger Versuch!
Können sie ihn denn überhaupt verstehen? Ahnen sie, was kommen wird? Werden sie vielleicht versuchen, zu verhindern, dass Jesus nach Jerusalem geht? Werden sie versuchen, ihn herauszufordern, damit er endlich die Macht ergreift, die Römer vertreibt und für Ordnung und Frieden sorgt?
Judas ist schon dabei, es zu versuchen und wird grandios damit scheitern.
In diesem kurzen Auszug aus den Abschiedsreden Jesu liegt der Tenor aber eher darauf, dass seine Zuhörer*innen verwirrt sind. Überfordert. Sie wagen noch nicht einmal, ihn selbst zu fragen: „Wie meinst du das, was du da sagst? Warum werden wir dich eine Zeit lang nicht sehen? Was hast du denn vor? Willst du uns etwa im Stich lassen?“
Sie erörtern erst einmal untereinander, ohne ihn, was er wohl gemeint haben könnte.
Jesus aber ahnt ihre Fragen, spricht von kommender Traurigkeit, heulen und schreien würden sie, sagt er. Sie würden der Schadenfreude der Verfolger ausgesetzt, die froh sein werden, wenn sie es endlich geschafft haben, den Störenfried Jesus zu beseitigen, nicht mehr gestört werden in ihren festgefahrenen religiösen Bahnen. Keine schöne Perspektive!
Wird es leichter, das zu verstehen, durchzuhalten, durch das Stichwort von der „kurzen Zeit“, der „kleinen Weile“?
Nach dem Motto: ist ja nicht so schlimm, es dauert gar nicht lange?

Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. (Joh 16,22)

Wiedersehensfreude? Woher soll sie denn kommen?
Und was ist überhaupt Freude? Man kann sie schließlich nicht verordnen wie ein Medikament. Wie alle Emotionen ist sie entweder einfach da, oder sie will sich nicht einstellen. Sie ist auch längst nicht so eindeutig, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte.
Freude kann zu Freudensprüngen führen, zum ausgelassenen Jubel, aber genauso zu Tränen.
Jubilate?!
Kann eigentlich keine Anordnung sein, kein Befehl: Jubelt! Freut euch!
Am nächsten kommt dem vielleicht der Satz: „Ich möchte dir eine Freude machen!“
Denn das heißt auch: „Du bist mir wichtig, ich möchte etwas dazu beitragen, dass es dir gut geht.“
Freude hat ganz entscheidend mit Beziehung zu tun, mit Liebe.
„Ich werde euch wiedersehen“, sagt Jesus und damit hängt die Freude zusammen, die er ankündigt.
Und jetzt –kurz vor Pfingsten- liegt es nahe, den Geist Gottes ins Spiel zu bringen als Urheber der Freude, der zeigt, dass man –„Wiedersehen“ sehr viel umfassender betrachten kann.

Der Evangelist Johannes hat den Entschluss gefasst, seine gesammelten Texte für seine Gemeinden zu Papier zu bringen und zu veröffentlichen. Jetzt –so stelle ich mir vor- sitzt er und diktiert seine Überlegungen einem Schreiber, vielleicht an einem plätschernden Brunnen in einem orientalisch gestalteten Innenhof einer Karawanserei, in einem Zelt in der Wüste, vielleicht in einem Haus in Ephesus...
Er spricht über seine Deutung dessen, was er gesammelt und gelesen hat über Jesus.
Das Ziel ist völlig klar, er benennt es auch selbst zum Schluss seines Buches:
„Diese (Zeichen) sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das ewige Leben habt in seinem Namen.“ (Joh 20,31)
Johannes möchte vor allem seine Begeisterung für Jesus von Nazareth, für den auferstandenen Christus, für den Messias mit Menschen teilen, die in einem ganz anderen Kulturkreis groß geworden sind. Die Griechisch sprechen und nicht Aramäisch (wie Jesus), ganz andere religiöse Wurzeln haben und trotzdem verstehen sollen, worauf es ihm ankommt.
„Wie mache ich das bloß?“ fragt er sich, beginnt einen Satz, verwirft ihn wieder, beginnt neu, versucht es noch einmal.
Welche Zeichen Jesu soll ich aufnehmen in mein Büchlein, fragt er sich, welche sind so aussagekräftig, dass sie meine Leserinnen und Leser überzeugen werden? Welche sind eher eine Doppelung, welche vielleicht zu zweideutig und missverständlich?
Und Johannes erzählt aus dem Leben Jesu, so, als wären seine Leserinnen und Leser gerade eben noch dabei gewesen, als wären sie selbst die Adressaten der Abschiedsreden, gut achtzig bis neunzig Jahre nach Ostern.
Und dann: Gottesdienst in der johanneischen Gemeinde des zweiten Jahrhunderts:
Die versammelte Gemeinde singt wie immer am zweiten Sonntag im Osterfestkreis den 66. Psalm:
„Jauchzet dem Herrn alle Welt, lobsingt zur Ehre seines Namens, rühmt ihn herrlich!
Sprecht zu Gott: Wunderbar sind deine Werke, deine Feinde müssen sich beugen vor deiner großen Macht...“ (Ps 66,1-3)
Der Text des Evangelisten Johannes ist fertig und wird im Gottesdienst verlesen, so wie früher die Texte der Propheten.
„...eine kleine Weile werdet ihr mich nicht sehen...“ sagt Jesus, „ihr werdet weinen und klagen und traurig sein...“
Sie nicken einander zu, das kennen sie, so lange warten sie nun schon darauf, dass Jesus wiederkommen möge, ohne dass sie sich wirklich vorstellen könnten, wie das gehen soll.
Reicht das an historischem Abstand?
Und das Bild von der Geburt, das sich ja nahezu von selbst zu erschließen scheint?
Jedenfalls in europäischen Breiten. Mit Schrecken lese ich: „In einigen östlichen Ländern wird die Geburt eines Mädchens von der gramgebeugten Mutter und ihren Freundinnen mit Trauer und Tränen vernommen. Die Geburt eines Knaben aber begrüßt man als gutes Omen und feiert sie ausgelassen.“[1] Somit wird dem Bild die vermeintliche Selbstverständlichkeit genommen.
Es löst den Gedanken an eine Freude aus, die insofern dann schon ganz anders ist, die jeden in den Blick nimmt. Wahrnimmt.
„Ich werde euch wiedersehen...“ sagt Jesus.
Nicht nur mit den Augen, viel mehr mit dem Herzen, mit der Seele, mit seinem ganzen Sein nimmt er dich wahr!
Die gestörte Beziehung wird umgekrempelt. Eine gestörte Beziehung , in der nur bestimmte Menschen zählen, Männer, Erfolgreiche, Kraftstrotzende. Gesehen werden, einmal richtig wahrgenommen werden, was kann das alles verändern.
Die chilenische Dichterin Gabriela Mistral schreibt in einem Liebesgedicht: „Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön, schön wie das Riedgras unterm Tau...“[2]
Und nun zu wissen: Jesus blickt mich an, liebevoll. Er sieht mich wirklich. Das bewegt, beflügelt, öffnet, lässt Freude wachsen.
„Jesus, meine Freude...“.
Analysieren? Erklären? Vielleicht kann man es in der Tat nur singen.
Ich stehe im Chor, ruhige, tiefe Klänge der Instrumente, „langsam und mit Ausdruck“ – wir setzen ein mit: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ - Brahms-Requiem.
Was hat man dem armen Komponisten nicht alles vorgeworfen – unchristlich sei sein Requiem, keine wirklich christliche Begräbnismusik, weil das Wort „Christus“ im Text nicht vorkomme. Weil er auf das „Dies irae“ verzichtet habe und kein Horrorszenarium für die Ungläubigen komponiert!
Mit Worten habe ich versucht, im Programmheft dazu beizutragen, das Tröstliche dieser Musik und der Textzusammenstellung hervorzuheben.
Nun singt der Sopran: „Ihr habt nun Traurigkeit, aber ich will euch wiedersehen und euer Herz soll sich freuen und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ (Joh 16,22)
Mit einer ungeheuren Leichtigkeit singt sie es. Geradezu schwebende Melodien, wunderschöne fast sphärische Klänge. Und der Chor singt darunter – wie ein Fundament- den Text der Jahreslosung 2016 : „Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet.“
Amen.

 

[1] Georg M. Lamsa, Die Evangelien in aramäischer Sicht (zitiert nach Beutler-Lotz in: Holiletische Monatshefte 6, S.353).

 

[2] Zitiert bei Barbara Hanusa, Predigtstudien  I 2004/2005, S.272.