Willkommen im Leben, Christenheit! - Predigt zu 2. Thessalonicher 3,1-5 von Helmut Dopffel
3,1-5

Willkommen im Leben, Christenheit! - Predigt zu 2. Thessalonicher 3,1-5 von Helmut Dopffel

Willkommen im Leben, Christenheit!

„Weiter, liebe Brüder, betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch und dass wir erlöst werden von den falschen und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen. Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tut und tun werdet, was wir gebieten. Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und die Geduld Christi.“ (2. Thes. 3, 1-5)

Liebe Gemeinde,

diese Sätze wurden mindestens 50 Jahre nach Jesus geschrieben. 50 Jahre sind eine lange Zeit. Das merkt man diesen Sätzen an. Sie klingen karg, nüchtern und ziemlich farblos. Da ist kaum mehr etwas zu spüren von der freudigen, hochgestimmten Erwartung, von der Begeisterung, die wir in Jesu Worten und Gleichnissen finden: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz! Das ist nun erfüllt vor euren Ohren.“ – Das ist alles lange her. Die Wirklichkeit, die Gegenwart, der Alltag sieht anders aus. Ernüchtert sind die Christen 50 Jahre nach Jesus, manchmal müde und ein bißchen enttäuscht. „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding.“ Willkommen im Leben, Christenheit!

Man kann das bedauern und kritisieren. Denn natürlich leben wir, lebt unser Glaube, unsere Liebe und unsere Hoffnung von den großen, hochfliegenden Worten der Bibel, die seligpreisen, was man irdisch nicht preisen und wünschen kann, und genau dadurch unsere Welt verändern. Natürlich leben wir von den großen Erlösungsbildern der Bibel, die uns den Garten Eden zeigen und die neue Welt Gottes, und die die Hoffnung wachhalten, dass diese neue Welt auf eine geheimnisvolle Weise auch hier und heute schon gegenwärtig ist, gegen allen Augenschein.

Dagegen fallen die nüchternen Worte des Predigttextes ab. Und manches erscheint mir sogar gefährlich, vor allem der Satz: „Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tut und tun werdet, was wir gebieten.“ Wenn das heute ein religiöser Führer sagen würde, würden unsere Weltanschauungsbeauftragten zu recht vor einer autoritären Sekte warnen. Hier zeigen sich ja durchaus Probleme und möglicher Missbrauch von Religion, wie wir ihn nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Christenheit und manchmal sogar unserer eigenen Kirchen kennen.

Und doch: Trotz all dieser Einwände gefallen mir diese Sätze aus dem 2. Thessalonicherbrief, je länger ich sie betrachte und bedenke. Denn sie sind unserer eigenen Situation doch in vielem näher als die großen und überirdischen Bilder. Sie machen ganz schlicht deutlich, wie Christsein in der Realität und Banalität des Lebens geht, und mit welchen Problemen wir dabei zu kämpfen haben. Da kann man schon mal müde werden. Die Christenheit in der Großstadt Thessalonich hat schon einiges erlebt mit sich und ihrem Glauben und weiß, wie schwierig das manchmal zusammengeht. Und doch: Das Feuer glimmt noch, und tut es bis heute.

Finden wir hier so etwas wie ein Grundmodell christlichen Lebens?

Da ist zum Beispiel ganz selbstverständlich von „falschen und bösen Leuten“ die Rede. Natürlich kann auch solch eine Aussage missbraucht werden, um andere zu diskreditieren oder die Welt in schlichtem Schwarz-Weiß zu malen: Wir die Guten, und die anderen die Bösen. Aber wenn wir von dieser Verzerrung Abstand nehmen: Ist es nicht in erster Linie einfach eine realistische Wahrnehmung, dass diese Welt nicht nur nicht erlöst ist, sondern tief im Sumpf des Bösen steckt? Wenn man diesen kurzen Brief im Ganzen liest wird deutlich, dass die Menschen damals etwas wussten davon, dass es in dieser Welt schreckliche Zustände und Situationen gibt, Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit, Böses auf der Haut und unter der Haut, das einen fassungslos zurücklässt. Es sind eben nicht nur die großen Naturkatastrophen und rätselhafte Krankheiten, die Menschen überfallen, Existenzen zerstören, Schmerzen zufügen und Menschen vernichten. Es sind auch nicht die Systeme dieser oder jener Couleur. Es sind am Ende immer Menschen, die das tun, kaltblütig oder jähzornig, von Gier oder Hass oder sonst einer Bosheit getrieben. Das Böse ist real, und es hat Macht über Menschen. Und ganz am Ende gibt es dafür auch keine Begründung und keine Entschuldigung mehr, müssen die Übeltäter und Verbrecher benannt werden und sich verantworten. „Dieser Mensch verdient es, böse genannt zu werden“, hat mir ein Freund einmal vor vielen Jahren gesagt, und der Satz ist mir immer noch im Ohr, weil ich mich immer gegen ihn gewehrt habe und er mir doch zugleich immer wahr erschien. Es gibt sie, die falschen und bösen Menschen. Es gibt das Geheimnis der menschlichen Bosheit. Und manches davon steckt in uns allen. Das ist die Welt, von der unser Text spricht, die kennt er und hat sie wohl schon schmerzlich erfahren. Von „Bedrängnis“ ist in diesem Brief häufig die Rede. Und auch wenn es ein altertümliches Wort ist, es zeichnet doch genau, um was es geht: Jemand macht die Welt eng für uns.

Ist das zu schwarz gesehen? Sicher, es gibt sie, Gott sei Dank, die schönen Dinge des Lebens. Aber unsere Gefahr, liebe Gemeinde, im friedlichen, prosperierenden Mitteleuropa, ist doch viel mehr, dass wir uns die Welt schön reden. Und wenn dann doch einmal „das Böse“ hereinbricht über uns, sind wir fassungslos, als dürfe das nicht passieren. Aber in weiten Teilen der Welt ist das Böse alltäglich. In den Pausen zwischen den Spielen der Fußballweltmeisterschaft wurden die Nachrichten aus Israel und Palästina ausgestrahlt, sahen wir Raketen und Bomben, tote Menschen und weinende Kinder zwischen Trümmern. Ich gestehe, dass ich diesen Kontrast nicht ausgehalten habe. Ich habe mich zum Fußball geflüchtet, und vermutlich ging es vielen anderen ebenso.

Das Böse, das Menschen einander antun, zu sehen und nicht schönzureden sondern nüchtern zu benennen und dem stand zu halten, auch das gehört zum Christsein dazu.

Und ich bewundere, dass in diesem Brief 50 Jahre nach Jesus keine billigen Auswege und Ausflüchte angeboten werden. Die Welt wird nicht schön geredet. Die Christen und Kirchen erheben aber auch nicht den Anspruch, sie hätten die Rezepte und Ressourcen, um dem Bösen abzuhelfen oder es zu heilen. Die haben wir nicht. Sie erliegen auch nicht der Versuchung, die Gegenwart künstlich religiös aufheizen, mit Zeichen und Wundern, mit genauem Wissen über Gottes Heilsplan, mit der feurigen Verkündigung des nahen Endes, das wir alle noch erleben werden. Und sie legen nicht den Generalmissionierungsplan für den Planeten Erde auf. „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding.“ Unser Wirken hat Grenzen.

Was die Christenheit aber anzubieten hat, ist das, was sie selber trägt. Letztlich ist es das Vertrauen, dass Gott gegenwärtig ist und wirkt und schützt, mitten im Leben, mitten im banalen Alltag, und auch mitten in einer Welt, die unsicher und gefährlich und oft böse ist. „Der Herr ist treu.“

Und damals wie heute wirkt er durch das Wort und durch Menschen. Das Wort läuft. Das Wort eben, dass Gott treu ist, dass er uns nicht alleine lässt. Dass uns vergeben ist, was wir aus Vergangenheit und Gegenwart mit uns schleppen. Dass wir deshalb frei sind und uns und anderen nichts beweisen müssen. Dass wir Gottes geliebte Kinder sind - und der und die andere neben uns und weit weg am anderen Ende der Erde auch. Es ist ganz unspektakulär, das Wort, das läuft, und eigentlich erstaunlich, dass es 2000 Jahre nun schon überlebt hat und immer noch weitergegeben wird. Und zwar in unseren Worten, im Gottesdienst, erzählt, gebetet, gesungen, und, ja, auch gepredigt. Laut oder nur geflüstert. Und das Wort läuft nicht nur, es erreicht auch die Herzen der Menschen und verändert sie: Was ich getan habe, kann ich nicht wieder gutmachen. Aber ich muss es auch nicht wieder gut machen. Mir ist vergeben. Ich bin frei. Ich bin Gottes Kind. Und die Flüchtlinge, die zu uns kommen, sind in gleicher Weise Gottes Kinder.  Deshalb geht es gar nicht anders, als dass wir sie aufnehmen und willkommen heißen. Wir können doch nicht sagen: ihr seid zwar unsere geliebten Schwestern und Brüdern, aber wir lassen euch nicht rein, lieber ersauft ihr im Mittelmeer oder sterbt an einer Infektion im Lager!  Wer sind wir denn dann, wenn wir das sagen?

Das Wort, das läuft, sagt uns wer wir sind, und wer die anderen sind.

Und damit ist ja bereits klar, dass Gott auch durch Menschen wirkt. Menschen, die die Liebe Gottes erfahren haben und deshalb gar nicht anders können als diese Liebe auszuteilen an andere.  Menschen, die die Geduld Christi kennen.  Und Geduld Christi  meint nicht, fünf gerade sein zu lassen: Komm ich heute nicht komm ich morgen. Es ist viel eher der lange Atem gemeint, die Fähigkeit des Langstreckenläufers, die konzentrierte Vorbereitung auf das Finale, das Warten auf das erlösende Tor.

Unsere Kirche brennt gerade keine großen Feuer ab, die Begeisterung ist mäßig, die Fragen viele und manchmal die Verunsicherung groß. Aber das Wort hat immer noch Füße und läuft, Menschen öffnen ihre Herzen und Türen für andere, teilen Zeit und Geld, stehen immer wieder auf, lassen sich nicht entmutigen. Das Tröstliche liegt ja nicht darin, dass es damals in Thessalonich nicht anders war. Das Tröstliche liegt darin, dass Gott auf diese Weise bei uns ist und wirkt.

Amen.