Themapredigt "Toleranz"

Toleranz

Gen 18,20-33  Wie kann Gott all das Unrecht ertragen?

Der GD steht unter dem Leitgedanken: „Christus spricht: Euer Vater im Himmel… lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 5,44-45) Wir suchen nach den Wurzeln von Toleranz in der Bibel und im Glauben ohne Fehlentwicklungen zu bestreiten.
Lesung: Vom Unkraut unter dem Weizen Mt 13,24-30


„Wie kann Gott all das Unrecht ertragen?“– Abraham ruft zur Räson

Zwei Städte sind es, liebe Gemeinde, die im alten Orient und bis heute,
Abscheu und Widerwillen erregen: Sodom und Gomorrha,
zwei Städte, die überall in der Welt für Greuel, Böses und Sünde stehen.
‚No go areas‘, wie es sie heute in Metropolen gibt.
In Los Angeles z.B. Da geht keine Polizei hinein.
„Sodom und Gomorrha“ ist die verabscheuungswürdige,
die unerträgliche Kehrseite der Menschlichkeit:
Das Böse, das unerträglich, d. h. nicht tolerabel ist.
Es gibt unerträgliche Verhältnisse,
die nur noch von außen zu beenden sind,
die nur von außen her - mit Macht - zu beenden sind,
weil sonst unschuldige Menschen: „Gerechte“ nennt sie die Bibel
unter ihnen leiden und krepieren müssen,
weil ihre gellende Schmerzensschreie zum Himmel dringen
und es gut ist, wenn einer sie noch hört, einer handelt.
Aber bevor es zu dem Ende dieser beiden Städte kommt,
bevor Gott Feuer und Schwefel auf sie herniederregnen lässt,
wird in einer kleinen Episode erzählt,
wie Abraham in dieses Geschehen verwickelt wurde.

17 Da sprach der HERR:
Wie könnte ich Abraham verbergen, was ich tun will,
18da er doch ein großes und mächtiges Volk werden soll
und alle Völker auf Erden in ihm gesegnet werden sollen?


Gott selbst bezieht Abraham ein, seinen Abraham,
Gott bezieht ihn ein, weil Gott in ihm den Garanten sieht,
dass seine göttlichen Gebote auf Erden eingehalten werden:
19Denn dazu habe ich ihn auserkoren,
dass er seinen Kindern befehle und seinem Hause nach ihm,
dass sie des HERRN Wege halten und tun, was recht und gut ist,
auf dass der HERR auf Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat.


Also soll Abraham einbezogen sein, wenn Gott vom Himmel herabfährt,
um der Lage in Sodom und Gomorrha auf den Grund geht:
„Ich will hingehen und es mit eigenen Augen sehen…“
Als wäre er ein kurzsichtiger alter Herr,
der sich immer wieder seines Wissens vergewissern muss.
Als Abraham das aber hört, bleibt er sofort stehen und hält Gott stand.
Eine ganze Stadt vor dem Untergang! Das rüttelt ihn wach, trifft ihn ins Mark.
Abraham ist es doch, der voller Glauben wartet auf die Stadt,
die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. (Hbr.11,10)
„Die Stadt“, das ist doch sein Projekt! Seine Vision!!
So tritt er denn wie ein Anwalt beherzt dazwischen: (intercessio)
„Einspruch euer Ehren!“ und ruft Gott, den Allmächtigen, zur Räson.
 „Und Abraham trat zu Gott und sprach:
„Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?
Es möchten vielleicht 50 Gerechte in der Stadt sein;
wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben
um 50 Gerechter willen, die darin wären?
Das sei ferne von dir, dass du das tust
und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen,
dass der Gerechte sei gleich wie der Gottlose!
Das sei ferne von dir, der du aller Welt Richter bist!
Du wirst so nicht richten.
Der Herr sprach: Finde ich 50 Gerechte zu Sodom in der Stadt,
so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben.
Abraham antwortete und sprach:
Ach, siehe, ich habe mich unterwunden zu reden mit dem Herrn,
wiewohl ich Erde und Asche bin.
Es möchten vielleicht fünf weniger denn 50 Gerechte darin sein;
wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen?
ER sprach: Finde ich darin 45, so will ich sie nicht verderben.
Und Abraham fuhr fort mit ihm zu reden und sprach:
Man möchte vielleicht 40 darin finden.
ER aber sprach: Ich will ihnen nichts tun um der 40 willen.
Abraham sprach: Zürne nicht, Herr, dass ich noch mehr rede.
Man möchte vielleicht 30 darin finden.
ER aber sprach: Finde ich 30 darin, so will ich ihnen nichts tun.
Und Abraham sprach:
Ach, siehe, ich habe mich unterwunden, mit dem Herrn zu reden.
Man möchte vielleicht 20 darin finden.
ER antwortete: Ich will sie nicht verderben um der 20 willen.
Und Abraham sprach:
Ach, zürne nicht, Herr, dass ich nur noch einmal rede.
Man möchte vielleicht 10 darin finden.
Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der 10 willen.
Und der Herr ging hin, da er mit Abraham ausgeredet hatte.
Und Abraham kehrte wieder um an seinen Ort.“

Die richterliche Untersuchung wird wieder aufgenommen,
das Urteil wird vollstreckt, wie bekannt und jetzt für gerecht befunden.
Ein kurzer Augenblick der Unterbrechung von Tat und Tatfolge,
von Schuld und Sühne, von Urteil und Vollstreckung endet.
Es hätte ja sein können, es finden sich die 10 Unschuldigen – und nicht nur Lot. Das Urteil war ausgesetzt. Zur Bewährung? Die Welt hält den Atem an.

Was ist das für ein spannender Dialog, welche eine absurde Situation!
Da versucht Abraham nichts Geringeres, als Gott in den Arm zu fallen!!
Und zwar von einer aussichtslosen Position aus,
als einer, der weiß, dass er nur Erde und Asche ist,
dass ihn nichts, aber auch gar nichts zum Einspruch berechtigt.
Abraham gibt sich als Gottes Hofnarren.
Das hat schon etwas Komisches.
Die Rollen von Gott und Abraham sind hier wie verkehrt.
Der kleine Mensch spielt groß auf, der große Gott muss immer nachgeben.
Der Mensch ist es der Gott an seine Prinzipien erinnern
und gar noch aufpassen, dass er sie auch einhält.

Abrahams einziges Argument ist ein Appell,
der Appell nämlich an Gottes Gerechtigkeitsgefühl:
„Das sei ferne von dir,
dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen,
dass der Gerechte sei gleich wie der Gottlose!“
Abraham behaftet Gott bei dessen Selbstanspruch, gerecht zu sein:
Abraham: „Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht sein?“(25)
Ja, es geht sogar um Gottes Identität!
Abraham fordert Gott vor die Schranken des eigenen Gerichts:
‚Du wärst nicht Gott, wenn du ungerecht bist.‘
Mit ermüdender Hartnäckigkeit insistiert Abraham.
Und Gott entzieht sich nicht!
Er lässt mit sich handeln „um der Gerechten willen“.
Es ist eben doch nicht so, wie Hiob in seiner Verzweiflung klagt (9,22):
„Darum sage ich: Schuldige und Unschuldige vernichtete er.“
Das sei ferne! (profanum tibi sit)
Auf die sich zuspitzenden Wiederholungen folgt ein überraschendes Ende:
Bei 10 ist Schluss. (Minjan Mindestzahl für eine Gebetsgemeinde)
Gott geht einfach, und Abraham ebenfalls.
Verblüffung steht am Ende wie am Anfang der Geschichte.
Ich gehe in sieben Schritten verschiedenen Aspekten nach.

1.
In einer frühen Epoche des alttestamentlichen Gottesglaubens stand fest,
dass nicht der einzelne Mensch,
sondern die Gemeinschaft vor Gott verantwortlich war.
Eine Familie, eine Sippe, ein Volk, eine Stadt, das waren die Größen,
in denen der einzelne seinen Ort hatte, aus denen er nicht ausbrechen konnte.
Das Schicksal aller war auch sein Schicksal.
Einem gerechten Volk anzugehören brachte Segen,
und in einer ungerechten Stadt zu wohnen das Verderben.
Nicht der einzelne zählte, sondern das Ganze.
Und hier, in diesem kleinen Bericht von Abrahams Gespräch mit Gott,
ist nun zum ersten Male vom Wert des einzelnen Menschen die Rede.
Allein der Gedanke, dass einzelne Unschuldige unter uns sind,
verändert die Situation in der Gruppe, in der Masse.
Durch ihr pures Dasein halten die Gerechten das Endgültige Gericht auf.
(katechon 2.Thess. 2,6-7; Mt 13,24 der Weizen darf nicht geopfert werden)
Es erwacht das Bewusstsein dafür,
dass jeder Mensch für sich zur Verantwortung gerufen wird.
Dass nicht die anonyme Gemeinschaft, die anderen,
sondern jeder einzelne für sich - mit seinem Leben - einsteht.
Keine Kollektivschuld, keine Sippenhaft mehr.
Es ist dieser einzelne Mensch, auf den Gott sieht
und der ein Gerechter ist oder Schuld auf sich lädt.
Und der andere nicht mehr mit sich herunter reißt,
sondern ihnen sogar aufhelfen und sie schützen kann.
„Dem Sünder lege auf seine Sünde, dem Frevler lege auf  seinen Frevel.“
(Gilgamesch Tf.XI Zl 170-188) heißt es in Uruk schon früher.

2.
Unerhört ist es, dass Gott sich darauf festgelegt,
was seine Größe ausmacht, sein „Gerecht sein“.
Noch Unerhörter ist es von einem Menschen, 
Gottes Gottheit an diesem Maßstab zu behaften:
Das Maß der Gerechtigkeit an den Richter aller Welt anzulegen.
Gott bedarf ja keiner Rechtfertigung, da er die letzte Instanz ist.
(Macht bricht Recht, hätte Gott mit Bismark sagen können,
dem hierbei der Konfirmandenunterricht
bei Schleiermacher in Berlin offensichtlich nicht weitergeholfen hat.)

Aber dieser Gott gibt Gründe für sein Tun an,
auch wenn er zürnt, verletzt oder eifersüchtig ist.
Er ist kein willkürlicher Gott,
der stumm Blitze schleudert oder in Rätseln spricht.
Er hat sich dem Menschen verbunden und seine Absolutheit aufgegeben:
An die Stelle von Gesetz und blindem Gehorsam wird sogar einmal
Weisung und Verantwortung getreten.
Glaube nennt es später Paulus und der Hebräerbrief:
Eine persönliche, direkte und geistige Verbindung zu Gott,
kein steinernes Gesetz…
Wie aber sind Übertretungen zu ahnden?
Reue ist möglich, Sühne womöglich, auch Stellvertretung?
Das muss im Verlauf der Bibel noch ausgetestet werden.

3.
Abraham wiederum ist ein Mensch, mit schwankendem Selbstbewusstsein
mal gottgleich, mal tierisch, und unterirdisch-klein.
Von Zeit zu Zeit überfällt ihn die Versuchung Gott herauszufordern,
wenn er nach verborgenem Wissen strebt
oder sich für den besseren Städtebauer und Staatsmann hält.
Von Zeit zu Zeit muss er zur Ordnung gerufen werden,
muss sein Übermut neu austariert werden.
Nach seinem glänzenden Auftritt für Sodom und Gomorrha,
folgt die Erprobung seines absoluten Gehorsams durch Gott (Gen 19,20,
die Opferung seines Sohnes Isaak,
Unterpfand der Verheißung auf ein eigenes Volk.
Nicht nur Gott kann durch Ungerechtigkeit alles verlieren,
auch Abraham kann durch Unglauben seinen Nachkommen verlieren.
Der Mensch ist eine sündige Kreatur, aber keine verlorene Seele.
Er ist der Reue fähig und wird dann am Ende der Zeiten erlöst.
Aber er weiß auch:
Gottes Zorn kann durch die Berufung auf seine Gerechtigkeit,
durch mutiges Dazwischengehen, eine intercessio,
in Nachsicht und Erbarmen verwandelt werden (Gen 18,24)
Gott kann der Stadt vergeben,
um der 50, der 45, ja um der 30,20 oder 10 willen.
Und im Stillen denken wir: ja sogar um eines einzigen willen,
der unschuldig durch die Welt gegangen war,
hat Gott später auch dem Schächer nebenan, und auch uns verziehen.
Um Jesu willen, Gottes Sohn.

4.Wenn man in diesem Bibelabschnitt nach Toleranz fragt,
dann ist eins klar: Toleranz ist nicht Gleichgültigkeit.
Gott sind die ungerecht Leidenden nicht gleichgültig,
er straft ja im Zorn, aber nicht aus Zorn.
Er straft zum Schutz der Entrechteten und Gequälten.
Abraham folgt dem gleichen Impuls, aber versucht alle zu retten.
Beide sind weit weg von den ewig Gleichgültigen,
die sich in ihrer Ruhe nicht aufstören lassen wollen,
die über alles erhaben sind und sich tolerant nennen,
weil sie sich nicht einmischen wollen,
die nichts zu verteidigen haben, niemand zu schützen suchen,
die Engagement und Idealismus
als Fanatismus und Fundamentalismus anschwärzen,
die alle Formen der Unterdrückung akzeptieren,
solange es sie nicht selber betrifft
und die alle geistigen Freiheiten für sich reklamieren,
aber alles Christlich-Monotheistische unter Generalverdacht stellen,
die feinsinnig über die Inkakulturen mit ihren Blutopfern schwärmen,
aber den Gartenzwerg und Musikgeschmack des Nachbarn verwünschen,
ein Bildungsbürgertum, das die erreichte Idiosynkrasien,
Leiden und Individualisierungen einander gesellig kommuniziert,
die geschmäcklerisch Unbeteiligten,
die sich für die Kulturfolger der Aufklärer halten,
aber nur auf der Couch mit der Fernbedienung spielen.
Sie sind ein Teil von uns selbst, aber ihre „Toleranz“ braucht die Welt nicht.

5.
Ist denn eigentlich das Treiben von Sodom und Gomorra tolerabel gewesen?
Gott hat das Böse sich ausrasen lassen und sagt jetzt: Schluss!
Auch Abraham verteidigt nicht die Übertretungen,
und vernebelt sittliche Grundsätze nicht wie manche Orientierungshilfe (EKD) –
aber er misst den wenigen Gerechten mehr Gewicht bei
als den notorischen Sündern und habituellen Kriminellen:
Gott müsse aus „Staatsräson“ Gemeinschaften der Verschiedenen ertragen,
in denen gute und böse Elemente nebeneinander leben,
er müsse das „corpus permixtum“ ertragen, in Staat und später in der Kirche,
und diese nicht sintflutlich auslöschen, um nur mit den Guten weiter zu leben.

6.
Gott aber findet die Gerechten nicht und vernichtet Sodom u. Gomorrah
Wie tolerant ist also Gott?
Oder die dahinterstehende Zuspitzung:
Führt nicht die von Abraham zu Mose führende Unterscheidung
von dem einen wahren Gott und den vielen falschen Göttern,
also der Eingottglaube, der Monotheismus, zwangsläufig zur Ausschließlichkeit, zu Gewalt und Intoleranz in der Religion, in Gesellschaft und im Staat?
Es gibt diesen Zug zur Ausschließlichkeit, zur unerträglichen Willkür,
und der unmittelbaren Durchsetzung, der Grausamkeit (Gen 34) -
das ist nicht zu bezweifeln
und manche ergötzen sich noch heut an Gottes furchtbarer Macht.
Nun, die Konfliktträchtigkeit der Religion ist nicht vermeidbar.
Sie ist nur die Spitze der Konfliktträchtigkeit,
die durch das Menschsein in die Welt gekommen ist.
Jede Hochkultur, jede Wissenschaft lebt in einem strengen Ja und Nein.
Die Alternative ist die polytheistische, entscheidungslose Bilderflut
purer Unterhaltung für die Anspruchslosen, die wir alle auch sind.
(Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bild und Buchstabe)
Was Menschen aber wichtig ist, darüber streiten sie.
Es geht überall nur darum den Streit in zivilisierte Bahnen zu lenken,
den Weg zwischen Skylla der Gleichgültigkeit-Indifferenz
und der Charybdis des Fundamentalismus gewissermaßen.
(Das sieht auch Assmann nicht anders, Sanjassin Sloterdijk blubbert dazu.)
Gibt es für den Zivilisierungsprozess Ansätze in der Bibel? Allerdings.
Im Kern gibt es eine innere Linie, eine Mitte der Schrift,
eine Entwicklungstendenz, einen Gotteswandel zu einem Gott,
der allen Menschen nahekommen will und sie erlösen,
der im Bund steht erst mit den Auserwählten,
dann aber mit allen und allem was über die Erde kreucht,
der es den Abrahams überlässt die ungerechte Städte zu regieren
und nur anbietet zum Leben zu verhelfen.
Tolerantia dei: Gott erträgt die Sünde des Menschen, die er hasst,
um des Menschen willen, den er liebt.
Und weil nach Luther auch die Gerechtfertigten weiterhin Sünder sind,
ist es ein wechselseitiges Ertragen im Bewusstsein
des Angenommenseins trotz eigener Unanehmbarkeit (TRE 33, 667).
Der Glaube an diesen Gott kann Menschen anleiten, tolerant zu sein.

Im Koran wird nicht das ausführliche Streitgespräch
zwischen Abraham und Gott überliefert.
Aber auch hier heißt es in Sure 11  
74. Als die Furcht von Abraham gewichen war
und die frohe Botschaft zu ihm kam,
da begann er, mit Uns zu streiten über das Volk Lots.
75. Wahrlich, Abraham war milde, mitleidig, Gott zugewandt.
76. «O Abraham, steh ab von diesem.
Siehe, schon ist deines Herrn Befehl ergangen,
und über sie bricht ganz gewiss unabwendbare Strafe herein.»

Abraham sagt ja nicht zu Gott: Rette erst die Gerechten,
wenn es welche gibt, bevor du die Stadt umbringst.
Im Gegenteil, er schließt in seinen Rettungsversuch gerade die mit ein,
die zweifellos und nach allen gültigen Maßstäben verloren sind:
„Wolltest du dem Ort nicht vergeben
um der Gerechten willen, die darin wären?“

Mit Abraham wissen wir,
dass wir uns nicht selbst vervollkommnen können
und die politischen Institutionen, Städte und Staaten nicht
nach den Maßstäben biblischer Moral reformieren können.
Aber es gibt keine größere mentalitätsverändernde
und friedensstiftenden Kraft als den Glauben.
Die Stärke der Gottesliebe besteht im Ausharren:
widerständig im Leiden an den ihr zugefügten
Beleidigungen, Entstellungen und Beschädigungen
durch die Liebesverweigerung und Wahrheitswidrigkeiten zu sein –
und in solchen Verletzungen immer noch Liebe,
aufgeschlossen für den Anderen, zu sein,
also weiterhin sie selbst zu sein:
somit nicht überwältigt zu werden
und so, im Aushalten, überlegen zu sein.
Es wird ja auch niemals etwas Gutes durch bloße Macht erreicht;
allenfalls das Böse verhindern lässt sich mittels –
aber nur mittels rechtsförmiger – Gewalt.

7.
Was bedeutet das in der kirchlichen Praxis?
In der orthodoxen und römisch-katholischen Kirchenpraxis
gibt es die Unterscheidung zwischen einem genauen Urteil in der Lehre
und einer seelsorgerlichen Urteilsenthaltung (kat‘ oikonomia; kat‘ akribian).
Die ganzen kontroversen Auslegungsprobleme des II.Vatikanum
verdanken sich der Einschätzung, ob es sich um ein Konzil der Lehrfestsetzung oder um Formulierungen für den seelsorgerlichen Umgang
der Kirche mit der Welt (agiornomento) gegangen sei.
Obwohl für Luther die Lehre der Kirche in sich seelsorgerlich,
also heilsam sein sollte (recta doctrina - sana doctrina),
kennen wir Evangelischen auch das Tolerieren von Vorgängen,
die der kirchlichen Rechtslage nicht entsprechen.
Aber immer wenn die Kirche seelsorgerlich Ausnahme zulässt,
dann fallen die dogmatischen Exekutoren/Hexenverbrenner über sie her
und genauso die, die aus Duldung: ein Recht machen wollen -
und alle zusammen bezichtigen die Kirche des Wankelmuts.
Manche Abende saß ich früher mit einem Domkapitular zusammen.
Ich ärgerte mich über unseren ständigen Zwist mit den Ausnahmen,
er ließ Klagen im Papierkorb verschwinden, solange sie anonym waren.
Aber wenn darauf bestanden wurde,
aus der Übertretung ein Recht zu machen,
aus der örtlichen Toleranz ein allgemeines Respektieren und Akzeptieren,
dann musste oft ein Urteil gefällt werden, das ausschließt.
Auch die Ausübung von Toleranz bedarf letztlich der Akzeptanz.

Kurzum:
An Gottes Nachsicht und Urteils-Aufschub lernt der Glaube Toleranz,
lernt 7x70mal zu vergeben und noch eine Meile mitzulaufen,
den Mantel zu teilen und erst mal zu retten, statt lange zu fragen.
Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute
und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (Mt 5,44-45)

Gott kann auf krummen Linien gerade schreiben (Claudel).
Toleranz ist schon in der Familie nötig,
wie viel mehr aber unter Ungleichen, Verschiedenen, Fremden.
Manchmal mahnen wir Rotlichtüberfahrer mit der Lichthupe,
aber sind wir denn die Sheriffs und die modernen Inquisitoren?
Auch in der Gemeinde müssen wir mit verschiedenen Prägungen leben,
wo wir doch, jeder von uns genau wüsste,
wie eigentlich richtig und angemessen zu glauben ist.
Also müssen wir nicht immerzu urteilen und richten.

Als Junge habe ich gern Karl May gelesen
und immer mit dem guten Helden mit gezittert.
Wie enttäuscht war ich, als er endlich den Bösewicht vor der Flinte hatte
und dann das Gewehr ablegte und sich sagte: „Gott wird ihn richten.“
Ich hatte auf ein Blutbad gesetzt und saß nun allein mit meinen Rachegefühlen.
Das habe ich nicht vergessen. Auch ein ‚Schundbuch‘ kann uns lehren:
Es gibt eine höhere Macht, die das letzte Wort hat.
Wir müssen nicht alles aburteilen was uns vor die Flinte kommt.
Aber einmal kommt das Gericht
und wird alles gerade rücken.
Das ist das Ende der Toleranz,
aber nicht das Ende möglicher Gnade. 
Also beten wir
Für uns und für die vielen,
dass Gott uns Toleranz erweise und dereinst ein gnädiger Richter sei.