I. Verstecken
Nichts mehr hören, nichts mehr sehen. Im Dunkeln versteckt, die Decke über den Kopf gezogen, unerreichbar für Schreckensnachrichten und Hiobsbotschaften. Ich kann es nicht mehr hören, ich will es nicht mehr sehen. Es geht über meine Kräfte und ich verstehe es nicht. Die dauernde Wiederholung des Elends, die dauernde Wiederholung des Geredes über das Elend. Nein, das kann ich nicht mehr aushalten. Ich will mich verschließen und verstecken vor dem Elend in der Welt. Meist betrifft es mich ja gar nicht unmittelbar. Um so schlimmer kommt es mir vor: Diese Selbstverständlichkeit, mit der die Bilder von Krieg und Verderben mich erreichen. Die schlechten Nachrichten wiederholen sich, nur die Orte ändern sich. Lasst mich doch in Ruhe, verschont mich damit, nur kurz, nur für einen Moment. Lasst mich kurz im Dunkeln aufatmen.
Verstecken möchte ich mich. Mich umdrehen und das Elend der Welt für einen Moment vergessen. Bitte einmal ein Tag ohne schlechte Nachrichten. Bitte einmal ein Tag heile Welt. Aber die Realität ist stärker. Keine Chance, ihr zu entkommen.
Die Leidenden können sich nicht umdrehen und weggehen. Die Menschen hinter den schlechten Nachrichten können sich nicht verstecken und bekommen keine Atempause. Das Elend geht weiter.
Hiob ist so ein Leidender. Die Bibel erzählt seine Geschichte, wie ein Beispiel für alles, was Menschen erleiden können. Hiobs Geschichte beginnt mit Glück und Reichtum. Aber dann gerät er unverschuldet ins Elend und verliert alles: Besitz, Wohnung, Familie, Gesundheit. Seine Kinder sterben, sein Haus brennt ab, sein Reichtum zerfällt. Sein Leib wird zerfressen von Krankheit. Kein Mensch kann das aushalten. Hiob steht uns vor Augen wie ein Bild für das Elend in der Welt. Er klagt und streitet, mit Gott, mit sich selbst und mit seinen Freunden. Und mit seinem Elend. Erst nimmt er es hin, aber es wird zu viel. Bis an die Grenze wird er gepeinigt von Verlust und Schmerz. Und so bricht es aus ihm heraus.
II. Hiobs Klage (VV. 1-6)
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe,
geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!
Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann:
so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.
Alles Lebendige muss sterben. Dieser Schatten liegt über unserem Leben, an den schlechten Tagen, aber auch an den guten. Und mit diesem Schatten der Vergänglichkeit steht alles in Frage: Wozu das alles? Wozu die Freude über die Geburt eines Kindes, wenn das Leben doch so begrenzt ist? Einfach am Leben zu sein, scheint nicht zu genügen.
Einfach geboren werden, einfach Mensch sein – das reicht doch nicht.
Und dann wird das alles auch noch einer kritischen Sichtung unterzogen.
Rein – oder unrein. Genügend - oder ungenügend.
Genügt es nicht, verletzbar zu sein? Genügt es nicht, sterblich zu sein?
Sind wir denn als Lebende schon tot, beziehungslos, ohne Sinn und Zusammenhang einfach nur Teil eines ewigen Kreislaufes der Materie?
Mit dem Tod ist uns eine Grenze gesetzt, unüberwindbar. Und wir wissen: Unsterblichkeit wäre auch keine Erlösung.
Schon gar nicht, wenn die eigene Schuld quält, die verpassten Gelegenheiten, die Fehler und die bösen Taten. Immer ist die Zeit zu kurz, und dann quält uns auch noch das, was in dieser Zeit geschehen ist, was wir getan und unterlassen haben. Was uns angetan wurde, was wir andern angetan haben.
Hiob wirft seine Klage Gott vor die Füße. Hier, mein Leben, da hast du es. Mach damit, was du willst. Aber schau mich nicht mehr an, nicht mit diesem prüfenden Blick. Reicht es dir nicht, dass ich leide? Lass mich in Ruhe. Ich will von dir in meinem Elend nicht auch noch begutachtet und verurteilt werden.
III. Hoffen (VV. 7-9)
Denn ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist; er kann wieder ausschlagen, und seine Schösslinge bleiben nicht aus.
Ob seine Wurzel in der Erde alt wird und sein Stumpf im Staub erstirbt,
so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers und treibt Zweige wie eine junge Pflanze.
Die „Hoffnung der Bäume“ schlägt Jahr für Jahr aus. Grün und lebendig. Selbst aus dem Stumpf kann ein neues Reis wachsen. Die Wurzeln reichen viel tiefer, als wir sehen.
Jedes Jahr beschneide ich meine Passionsblume, kein Baum, aber eine zarte, zähe Pflanze. Ein Ableger einer alten Pflanze meiner Großmutter. Die Großmutter lebt schon lange nicht mehr. Die Mutterpflanze auch nicht. Aber ihre Abkömmlinge leben, weit verteilt, und jedes Jahr wieder einige neue. Ins Wasser gestellt, wurzeln die abgeschnittenen Ranken. Werden, in Erde eingepflanzt, zu eigenständigen Pflanzen. Sie überleben auch Trockenzeiten, selbst wenn sie aussehen wie abgestorben. Eine Pflanze als Bild für das Leben, verletzbar und sterblich, lebendig und hoffnungsvoll.
Das Grünen der Bäume hat seine Zeit. Jetzt ist die Zeit des Absterbens. Kahle Äste ragen in den Himmel. Ist es nur eine Ruhezeit, oder sind manche Äste doch schon abgestorben? Es lässt sich nicht immer erkennen. Und die kahlen Bäume erinnern mich daran, dass mein Leben vergeht.
IV. Realität (VV. 10-12)
Stirbt aber ein Mann, so ist er dahin; kommt ein Mensch um – wo ist er?
Wie Wasser ausläuft aus dem See, und wie ein Strom versiegt und vertrocknet,
so ist ein Mensch, wenn er sich niederlegt, er wird nicht wieder aufstehen; er wird nicht aufwachen, solange der Himmel bleibt, noch von seinem Schlaf erweckt werden.
So ist es. Tot ist tot. Es ist uns eine Grenze gesetzt, die wir nicht überwinden können. Da gibt es nichts abzumildern. Keine falsche Hoffnung auf unsterbliche Seelen oder Erinnerungen, in denen jemand weiterlebt.
Am Grab wird mir das abgebrochene Leben teuer. So viele ungesagte Worte. So viele verpasste Begegnungen. Es gibt ein „zu spät“ für unsere Beziehungen. Und so wird es uns allen ergehen.
Kann man das überhaupt fassen: Einmal werde ich nicht mehr da sein.
Nicht mehr unter den Lebenden: Wo ist das?
Und was, wenn im Tod alles aus ist? Dunkelheit und Leere, sonst nichts mehr.
Hiob kennt diese Angst. Er schaut ihr ins Auge, er hält sie aus.
V. Verzweiflung und Hoffnung (VV. 13-15)
Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt, und mir eine Frist setzen und dann an mich denken wolltest!
Meinst du, einer stirbt und kann wieder leben? Alle Tage meines Dienstes wollte ich harren, bis meine Ablösung kommt. Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände. Dann würdest du meine Schritte zählen und nicht achtgeben auf meine Sünde. Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen.
Da ist das Gegenüber wieder da: Du. Gott, den ich nicht kenne. Den ich nicht verstehe. Aber: Du.
Ich hoffe nicht auf Antwort, aber darauf, dass du nach mir rufst.
Mit dem Tod ist alles aus? Wirst du mich dann nicht mehr finden können?
Aber du bist doch auch dann noch da, um mich zu rufen?
Und ich würde antworten, unbedingt. Ich würde hoffen, dass meine Schritte nicht umsonst waren. Neben allen verpassten Gelegenheiten ist doch auch das da: Beziehung. Gelebtes Leben. Liebe sogar. Stärker als der Tod.
Und du würdest mich annehmen, wie ich bin. Zugedeckt die bösen Worte, die schmerzenden Wunden geheilt. Du würdest es wieder gut machen, das könnte ich selbst gar nicht, nicht im Leben und nicht im Tod.
Gib mir nur eine kleine Weile Pause vom Leben, von allen ungelebten Möglichkeiten und allem vergeblichen Mühen. Pause von dem, was ich verschuldet und verdorben habe. Und dann rufe nach mir, Gott.
Hiob sieht seiner Angst ins Auge. Er hält den Tod aus und er beklagt ihn. Er nimmt seine Schmerzen an, die Unsicherheit, den Zweifel. Hiob hält das alles aus und findet Worte dafür.
Wer Worte findet, lebt. Wer klagt und anklagt, sucht nach einem Gegenüber.
Ein Gegenüber im Wort, in der Klage, in der Hoffnung.
Hiobs Hoffnung ist nüchtern, realistisch, zornig. Hiobs Gott ist ein Gegenüber im lebendigen Wort. Ein Gott, der an die Toten denkt, der sie hält und ruft. Der Verlangen hat nach dem Werk seiner Hände und seine Augen nicht abwendet von uns, im Leben und im Tod.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt werde ich im Gottesdienst eines Kurswochenendes des Kirchlichen Fernunterrichts halten. Diese Gemeinde ist eine kleine Gruppe hochengagierter Studierender mit sehr verschiedenen Prägungen und theologischen Fragen, Gottesbildern und Lebenssituationen. Insofern bildet diese Gruppe vielleicht Glaubenshaltungen und -fragen ab, die sich auch in anderen Gottesdienstgemeinden an diesem Sonntag finden: Hoffnung, Zweifel, eingeschränkte oder offene Perspektiven auf das eigene Leben und die Welt, wie sie gerade ist. Angst vor Tod und Verderben und Hoffnung auf Trost und Leben spüre ich momentan oft gleichzeitig und höre das auch von Anderen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Hiobs Geschichte und Gestalt, als Beispiel für einen Menschen, der nicht weiß, wie ihm geschieht und mit Gott ins Gericht geht – das ist ein unerschöpfliches Thema.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gott anklagen und die eigene Leidenssituation nicht schönreden – beides ist Ausdruck von Leben und Glauben. „Wer Worte findet, lebt.“ Lebendige Hoffnung blendet die Realität nicht aus. Das Leben kann den Tod nicht ausblenden. Was ist am Ende stärker?
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Predigtcoach hat mich bestärkt in meinem Anliegen, die theologische Spannung des Textes stark zu machen, auszuhalten und zu gestalten. Die sprachliche Gestaltung konnte ich in diesem zugewandten Rahmen kritisch überarbeiten (positive Formulierungen anstelle von negativen – also: was tut Gott, und nicht: was tut er nicht; Füllwörter weglassen; mehr „ich“ als „wir“).