Prozession zur Krippe
Die Predigt gestaltet einen gedanklichen Pilgerweg zur Krippe. Zur Sprache kommen Dichtungen, weihnachtliches Besinnen, Innehalten, Gegenhalten, wo Welt von Sinnen.
Wir erzählen zur Weihnacht vom Allmächtigen,
der sich in seine Schöpfung hineinbeugt.
Wir erzählen in poetischen Bildern des Sterns, des Engels,
der Hirten und Weisen, die aus der Nacht kommen,
um Gaben ins Stroh zu legen.
Wir erzählen, weil Poesie jenseits ihrer Bilder
auf das Herz unserer Wirklichkeit weist:
Wir erzählen von Weihnacht, weil von der Hoffnung in Gott wir nicht lassen,
dass diese Welt anders sein könnte, als sie ist – da Gott nicht von ihr lässt.
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Gnade sei mit Euch und Friede in dieser Heiligen Nacht.
Liebe Weihnachts-Gemeinde!
Die Weihnachtsgeschichte, soeben gehört. Alte vertraute Worte.
Inmitten der Lichter, die dunklen Dezember durchdringen.
Inmitten der Düfte weihnachtlichen Marktes vor der Tür –
von Lebkuchen, heißgebrannten Mandeln und Sternen aus Zimt.
Im Mittelpunkt ein Kind.
Wie nähern wir uns dem Großen im Kleinen?
Ich möchte Sie mitnehmen auf einen kurzen Pilgerweg zur Krippe,
in mehreren Schritten.
Welche Gefühle beschleichen?
Lassen wir ein paar Dichter sich vergleichen.
1.
Der kecke Kästner sprach mit sich selber:
“Warst aúch ein Kind. Hast sélbst gefühlt,
wie hóld Christbäume blühn.
Hast nún den Weihnachtsmann gespielt
und glaúbst nicht mehr an ihn.”
„Ist viel geschehn. Ward viel versäumt.
Ruht beides unterm Schnee.
Weiß liegt die Welt, die hingeträumt.
Und Wehmut tut halt weh.“
Ebenso Rilke in seinem Weihnachtsgedicht:
“der Kindheit gedenkst du …,
oh, wär es noch ... wie einst!” (aus „Weihnacht“)
Das ist das Eine. Wehmut – beim einen oder der anderen trotz weihnachtsbäckerischem Serotonin-Kick. Aber zur Wehmut warfen wir uns nicht in Schale und kamen zur Christmette.
2.
Deshalb Schritt 2 auf dem Weg zur Krippe. Von Wehmut auf zur Demut! Zum schlichten Blick auf das Wesentliche.
Ein Kind liegt im Mittelpunkt.
Der pfiffige Joachim Ringelnatz dichtete:
„... das alte Lied von Gott und Christ
bebt durch Seelen und verkündet leise,
dass die kleinste Welt die größte ist.“
(aus „Weihnachten“)
Die Weihnachtsgeschichte zoomt auf das Wesentliche im Leben. Auf die kleine Welt einer Geburt. Ohne schützende Ressourcen. Gefährdetes Leben im herodianischen Machtbereich. Schlichtes Überleben im kalten Zug undichter Stalltür. Abgezogen, was ablenkt, zerstreut.
Keine Handies, Social Media, keine Games, nicht einmal fließend Wasser.
Was ist wesentlich im Leben? Wir wünschen uns gegenseitig ein besinnliches Weihnachten. Zur Besinnung kommen, während viele da draußen von Sinnen zu sein scheinen. Besinnen – auf gerechten Frieden, welchen zumindest Engel besingen. Auf Freiheit, die unsere Voreltern für sich und für uns errangen. Auf Liebe, die Hermann Hesse als weihnachtliche Essenz besang:
“…der Moment…, in dem der Mensch zur Lieb' bereit:
Ich glaub, da ist Weihnachten nicht weit,“
dichtete er leichtfüßig. Aber warum nicht? Weihnacht ist Festzeit. Warum nicht tanzen?
Freilich – Frieden, Freiheit, Liebe, das ist mir noch zu abstrakt. Wer liegt denn da in der Krippe und kündet – wie jede Geburt – von Neuem, von Aufbruch? Vom Blick nach vorn statt wehmütigem Zurück.
3.
Schritt 3 auf dem Weg zur Krippe. Für den ukrainischen Bischof Shvarts bieten all die weihnachtlichen Traditionen “Gelegenheit, … zu spüren, dass der Herr nahe ist. Trotz allem, was um uns herum passiert. Er ist nahe.“ Woher nimmt er die Zuversicht, wenn ukrainische Familien an zwölf und mehr Stunden jeden Tages ohne Strom, Heizung, fließend Wasser ausharren, lebensbedroht von Drohnen, Raketen, feindlichen Sternen. Was heißt “Gott nahe” angesichts gottfernen Grinsens des Absurden?
Wir Christgläubigen feiern Weihnacht trotz – oder gerade wegen – der Gottferne vieler Menschen. Wir feiern Weihnacht, um einen Gott zu besingen und zu verkünden, der sich auf seine Schöpfung zubewegt, in sie hinein sich bückt und dabei Opfer bringt. Ich lese aus dem uralten neutestamentlichen Hymnus Philipper 2.
Liturgisches Verdichten aus dem zweiten Quartal des 1. Jahrhunderts:
„... Jesus Christus,
obgleich in Gestalt Gottes,
hielt das Gottgleichsein
nicht wie einen Raub fest.
Vielmehr entleerte er sich selbst,
indem er Knechtsgestalt annahm.
Er ward Menschen gleich,
wie ein Mensch gestaltet.
Er erniedrigte sich selbst,
indem er sich (unserem Menschsein) auslieferte[i] bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.“
Die frühen Christen verkündeten mit solchen und ähnlichen Worten das Krippenkind als Immanuel, als „Gott-Mit-Uns“, wie der Name sich übersetzt (Matth 1,23/Jes 7,14). Ein Gott-Mit-Uns, der unsere Welt nicht verloren gibt. Mit tastenden Worten formten die ersten Jesusanhänger-Innen die mutige Botschaft, dass Gott selbst – in dem Menschen Jesus von Nazareth – sein Wesen aufscheinen lässt. Paulus, der die spätantike Trinitätslehre und ihre philosophischen Voraussetzungen nicht kannte, nennt Jesus Christus ein „Abbild Gottes“ (2 Kor 4,4). In Jesus spiegele sich das Wesen Gottes und sei Gott den Menschen besonders nahegekommen.
Was erfahren wir über das Wesen Gottes, wenn wir das Leben des Jesus bedenken, dessen Geburtstag alle Welt begeht – von Japan bis Kalifornien? In seinem Reden, Tun und Erleiden verkündete dieser Jesus einen sich barmherzig öffnenden Gott, der Niedergeschlagene aufrichtet und Verstoßene sammelt, Schuldigen ihre Last nimmt. Dieses Gottesbild – des Psalters und der Propheten – dieses Gottesbild führte Jesus zu einem Leben, das mit Konventionen brach und Schranken in den Köpfen zu öffnen suchte. Anders als die Frommen im Lande rümpfte der Nazarener nicht die Nase über die Gottfernen in Israel, über die Geschlagenen, über die, die an den Rand gedrängt waren. Denen gehörte sein Herz. Einer Frau aus Magdala, die sich mit psychischen Problemen herumschlug, half er, indem er sie in seinen Freundeskreis aufnahm. Viele erhofften in der Nähe seiner charismatischen Persönlichkeit Lindern von Leiden. In einem provokanten Gleichnis behauptete er, dass einer der Samaritaner, auf die fromm-jüdische Gläubige herabblickten, dass einer dieser Leute mit
seiner barmherzigen Tat Gott näher stünde als die religiösen
Eliten der Priester und Tempeldiener. Gängige Werteskalen
stellte Jesus in seinen Gleichnissen in Frage. Als Poet deutete er seine Bilderreden nicht, vielmehr drehte er sich um und ließ seine Hörerschaft mit seinen Stories allein, um sie selbst Sinn kreieren zu lassen aus dem Erzählten.
Aber da hörte seine Provokation nicht auf. Jesus hielt dafür,
dass sich der zuwendende Gott hautnah in den helfenden
Händen verspüren ließe, die Jesus selbst und seine Anhänger-Innen
den Menschen entgegenstreckten. „Wenn ich mit dem Finger
Gottes Dämonen austreibe, ist die Königsherrschaft Gottes
schon bei euch da!“ (Lukas 11,20; vgl. 10,18). Diese Gottesherrschaft
war für Jesus punktuell da, wo er selbst – zusammen
mit seiner Anhängerschar – „Niedergeschlagene aufrichtete“
(vgl. Psalm 145,14), „Lahme aufsammelte, Verstoßene
willkommen hieß“ (vgl. Micha 4,6-8; Lukas 10,9, Q). In diesem Wirken Jesu und seiner Anhänger-Innen ließ und lässt sich Gott erfahren.
4.
Das gilt bis heute für das Tun der Christgläubigen – unser 4. Schritt. Matthäus hält fest: Auch wenn wir hier und jetzt einem Menschen uns liebevoll öffnen, begegnet Christus, begegnet Gott. Dies mag beginnen zu Weihnachten, wenn Verwandte, Schwiegereltern, Freunde aus verschiedenen Himmelsrichtungen zusammenfinden, das Haus sich (über)füllt, wenn Freude und nervliches Anspannen, Erwarten und Enttäuscht-Werden nah beieinander liegen. Um ein Stück Weihnachten zu erfahren, bedarf es vielleicht nur der sich ausstreckenden Hand nach dem Menschen neben uns in der Kirchenbank. Vielleicht der Partner, die Partnerin? Wann haben wir das letzte Mal einander gesagt: „Ich habe Freude an Dir! An Deinen Ideen. An den Entwicklungen, die Du durchlebst“? „Ich habe Freude an Euch, meine Töchter, meine Söhne. Daran, dass Ihr Euren Weg findet, auch wenn er nicht der meinige ist.“ „Ich bin dankbar Euch Eltern, freue mich an Eurer Lebenserfahrung, Euren Geschichten.“ Solche Sätze kommen nicht immer leicht über die Lippen, bedürfen oft langen Arbeitens. Denn soziale Umfelder sind nicht nur Oasen, sondern oft Orte des Aufreibens, Verletzens, der Tränen.
Dennoch, zum weihnachtlichen Menschwerden Christi gehört
auch (auch!), dass Christus in dem neben mir Stehenden
zum Menschen wird (Matthäus 25). Ja, dass wir selbst zu Menschen werden – das Humanum in uns entfaltend in unsere sozialen Umfelder hinein. Das kann wie bei Jesus unkonventionell und kantig geschehen, wenn es darum geht, menschenverachtendem Tun und Denken entgegenzutreten, dem gottlosen Grinsen des Absurden entgegenzuwirken. Gelegenheit dazu bieten unsere Gesellschaften leider zuhauf; auch Christenkreise an Rändern, die vermehrt mit völkischem Nationalismus sich verbinden. Unsere Courage ist gefragt, unser Gegenhalten, unser Zuhören, unser Zuwenden zu den Menschen, aber kantiges Abgrenzen von hasspropagierenden Posen.
5.
Schritt 5, mit dem wir an der Krippe ánkommen. Alle Christologien, die die Christenheit im Laufe der Geschichte entfaltete – mit hehren antiken Titeln wie „Gottessohn“, „Gott wesensgleich“, „Weltenrichter“, „Messias“, „Schöpfungsmittler“ – all diese hohen Christologien umkreisen in menschlichen Denkkategorien und daher nur mit Analogien das Analogielose der Gottesgegenwart in der Welt. Sie umzirkeln, mehr nicht. Als ihren gemeinsamen Nenner erkennen wir die schlichte Botschaft, dass Gott im Menschen Jesus uns besonders nahekommt, Gott sein Wesen in ihm aufscheinen lässt. Belassen wir es auf der Schwelle des Bethlehemstalls bei dieser schlichten Ansage, ohne in der heutigen Nacht in das Geheimnis des Wie der Gottespräsenz in der Welt weiter eindringen zu wollen. Die Heilige Nacht möge dem Geheimnis Raum geben. Dem Staunen. Der Einsicht in die Souveränität Gottes – so souverän und frei, dass er seine Freiheit zugunsten seiner Geschöpfe einzuschränken vermag. Ich trage hier das Hemd eines Pastors, übersetzt: eines Hirten, der sich zum Stall aufmachte. Eines Unbedarften, der nicht alles zu wissen meint, sondern staunt. Der in dieser Heiligen Nacht nicht wehmütig auf eigene Kindheit zurückschaut, sondern mit zuversichtlichem Blick nach vorne geht, weil Gott nahe ist, „mit uns“, was mich hoffen lässt, dass wir nícht verloren sind.
Staunen möchte ich mit Euch an der Schwelle der Heiligen Nacht, dem Geheimnis Raum geben und dann – anbeten, loben. So kommen wir an der Krippe an. Amen.
Der Friede Gottes, liebe Gemeinde, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christo Jesu, dem „Gott–
Mit–Uns“. Amen.
Lied EG 37 Verse 1—4, 9: Ich steh an Deiner Krippen hier ...
[i] γενόμενος ὑπήκοος bedeutet wörtlich „unter (jemandem) hörend geworden“,
„untergeben geworden“, dann auch „gehorsam geworden“ (so die
meisten deutschen Übersetzungen). Doch geht es um Gehorsam gegenüber
einem Gottesplan? Mindestens genauso gut kann der Ausdruck
in der Parallelität zu Vers 8a bedeuten, dass Christus sich uns und
unserem Menschsein unterwarf mit offenen Sinnen, offenem Gehör für
dieses. Dafür mag die am ehesten modale Partizipialkonstruktion sprechen:
Die Selbsterniedrigung (8a) geschieht durch Selbst-Ausliefern an unser
elendes Menschsein (8b).