Liebe Gemeinde,
wir beginnen heute nicht im Licht.
Nicht im warmen Glanz der Kerzen.
Nicht bei der Hoffnung, die sich leicht sagen lässt
und schnell Zustimmung findet.
Wir beginnen in der Nacht.
In jener Nacht, die nicht einfach nur dunkel ist,
sondern schwer.
Zäh.
Eine Nacht, die sich nicht klar abgrenzt,
sondern sich ausbreitet:
über Tage,
über Gedanken,
über Gespräche,
über Nachrichten,
über das, was wir hören –
und über das, was wir nicht mehr hören können.
Eine Nacht, die nicht einfach vergeht,
wenn man sie ignoriert.
Eine Nacht, die bleibt,
auch wenn der Tag längst begonnen hat.
Denn Jochen Klepper beginnt dort.
Und er tut es nicht aus literarischer Dramaturgie,
nicht, weil Dunkelheit ein besonders eindrucksvolles Motiv wäre,
sondern aus Erfahrung.
Als Klepper dieses Lied im Advent 1937 schrieb, war es bereits dunkel geworden in Deutschland.
Politisch.
Gesellschaftlich.
Persönlich.
Er lebte in einer sogenannten „Mischehe“.
Seine Frau war Jüdin.
Seine Töchter ebenso.
Was zunächst nur als leiser Druck begann,
wurde Schritt für Schritt existenziell bedrohlich.
Gesetze veränderten sich.
Formulare entschieden über Lebenswege.
Blicke wurden feindselig.
Freundschaften verstummten.
Zukunft wurde unplanbar.
Klepper wusste:
Diese Nacht ist nicht nur ein Bild.
Sie ist ein Zustand.
Ein Zustand, der sich nicht einfach abschütteln lässt.
Wenn er schreibt:
„Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld“
dann ist das keine fromme Allgemeinheit.
Kein religiöser Gemeinplatz,
keine dunkle Kulisse für eine schnelle Erlösungsbotschaft.
Es ist ein nüchterner Satz.
Ein Satz ohne Illusionen.
Ein Satz, der nichts beschönigt.
Die Nacht – sie fällt.
Nicht wie ein Vorhang nach einer Vorstellung.
Nicht geordnet, nicht planbar.
Sie fällt wie eine Last.
Wie etwas, das sich über Menschen legt.
Über Körper.
Über Seelen.
Über Beziehungen.
Nicht einmal.
Sondern immer wieder.
Und vielleicht kennen wir das.
Die Nächte, die uns unvermittelt erreichen.
Nächte, in denen Gedanken nicht zur Ruhe kommen.
Nächte, in denen Sorgen schwerer wiegen als der Tag.
Nächte, in denen man wach liegt und merkt,
wie verletzlich das eigene Leben ist.
Nächte, in denen Schuld plötzlich Gewicht bekommt –
die eigene,
die fremde,
die strukturelle Schuld,
die sich nicht einfach lösen lässt.
Nächte, in denen wir erfahren,
dass Leid nicht gerecht verteilt ist.
Dass es Menschen trifft,
die nichts „dafür können“.
Dass die Welt nicht so funktioniert,
wie wir sie gerne verstehen würden.
Klepper nimmt diese Nacht ernst.
Er überspielt sie nicht.
Er verkürzt sie nicht.
Er erklärt sie nicht schnell weg.
Und genau darin ist er dem Johannesevangelium näher,
als man auf den ersten Blick meint.
Denn auch Johannes beginnt nicht harmlos.
Er beginnt nicht idyllisch.
Er beginnt nicht bei der Krippe.
Er beginnt kosmisch –
und dunkel.
„Das Licht scheint in der Finsternis.“
Nicht: Es scheint nach der Finsternis.
Nicht: Es scheint statt der Finsternis.
Sondern: in ihr.
Die Finsternis ist real.
Sie wird nicht geleugnet.
Sie wird nicht relativiert.
Sie wird nicht theologisiert, bis sie harmlos ist.
Christliche Hoffnung beginnt nicht mit Verdrängung.
Sie beginnt mit Wahrhaftigkeit.
Und genau in diese Realität hinein
setzt Klepper einen Satz,
der fast zu leise ist, um ihn zu glauben:
„Die Nacht ist schon im Schwinden.“
Schon.
Dieses Wort ist klein.
Und gerade deshalb so stark.
Nicht: irgendwann.
Nicht: vielleicht.
Nicht: hoffentlich.
Sondern: schon.
Das ist kein Triumph.
Kein Jubel.
Kein Durchbruch.
Es ist ein leises Trotzdem.
Als würde jemand in einem völlig dunklen Raum sagen:
Ich sehe noch nichts –
aber ich spüre,
dass sich etwas verändert.
Und hier berühren sich Klepper und Johannes ganz unmittelbar.
Denn Johannes schreibt:
„Und das Licht scheint in der Finsternis,
und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“
Das ist kein Siegessatz.
Es ist ein Widerstandssatz.
Das Licht scheint –
aber die Finsternis bleibt da.
Sie verschwindet nicht einfach.
Sie ist real, massiv, widerständig.
Und doch:
Sie kann das Licht nicht festhalten.
Nicht verschlingen.
Nicht ersticken.
Genau das meint Kleppers „schon“.
Nicht: Die Nacht ist vorbei.
Sondern: Sie hat nicht mehr die ganze Wirklichkeit auf ihrer Seite.
Denn etwas ist geschehen.
„Macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden…“
Der Stall.
Ein Bild, das wir so oft gehört haben,
dass es beinahe seine Sprengkraft verloren hat.
Aber der Stall ist kein romantischer Ort.
Kein Ort der Macht.
Kein Ort der Sicherheit.
Kein Ort der Kontrolle.
Ein Stall ist ein Ort des Provisorischen.
Ein Ort der Nähe.
Ein Ort der Verletzlichkeit.
Ein Ort, an dem man nicht vorbereitet ist.
Und genau hier wird Johannes konkret.
Denn das „Licht“, von dem er spricht,
ist keine Idee.
Keine Stimmung.
Keine religiöse Metapher.
„Und das Wort ward Fleisch
und wohnte unter uns.“
Das Licht geht in den Stall.
Es wird verwundbar.
Angreifbar.
Ausgesetzt.
Gott entscheidet sich nicht für Distanz,
sondern für Nähe.
Nicht für Übersicht,
sondern für Beteiligung.
Klepper lenkt den Blick nicht weg von der Dunkelheit –
sondern hinein in einen Raum,
in dem Gott selbst Nacht riskiert.
Und das ist der Wendepunkt.
Nicht, weil plötzlich alles gut wäre.
Nicht, weil Leid verschwindet.
Nicht, weil Schuld erledigt ist.
Sondern weil Gott selbst in diese Nacht eintritt.
„Nun hat sich euch verbündet,
den Gott selbst ausersah.“
Das ist Johannes mit dichterischen Mitteln.
Der Gott, der sich verbündet.
Der nicht fern bleibt.
Der nicht abstrakt bleibt.
Das Licht bleibt nicht am Himmel.
Es kommt nahe.
Und doch – Klepper bleibt realistisch.
„Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.“
Das ist keine Rücknahme der Hoffnung.
Es ist ihre Erdung.
Auch Johannes verspricht keine Nachtfreiheit.
Er sagt nicht: Die Finsternis verschwindet.
Er sagt nur:
Sie kann das Licht nicht halten.
Christlicher Glaube verspricht keine Abkürzung.
Kein Leben ohne Brüche.
Keine einfache Lösung.
Aber er verspricht Begleitung.
„Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.“
Der Stern –
nicht als Dekoration,
sondern als Weglicht.
Er wandert.
Er bleibt nicht stehen.
Er geht mit.
Wie das Licht bei Johannes:
nicht überwältigend,
nicht blendend,
aber gegenwärtig.
Ein Licht,
das nicht alles erhellt,
aber genug,
um den nächsten Schritt zu gehen.
Und deshalb heißt es:
„Hält euch kein Dunkel mehr.“
Nicht: Es gibt kein Dunkel mehr.
Sondern: Es hat nicht mehr das letzte Wort.
Denn:
„Von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.“
Nicht aus unserer Stärke.
Nicht aus unserem Optimismus.
Nicht aus unserer Moral.
Sondern aus der Nähe Gottes.
Jochen Klepper hat diese Hoffnung
am Ende seines Lebens selbst
nicht mehr aushalten können.
Das macht sein Lied nicht schwächer.
Es macht es ehrlicher.
Denn Hoffnung ist kein Besitz.
Sie ist Gabe.
Und manchmal auch nur ein geliehenes Licht.
Vielleicht ist das heute genug.
Nicht die große Lösung.
Nicht die schnelle Erlösung.
Sondern die Zusage:
Das Licht scheint in der Finsternis.
Und die Finsternis hat es nicht ergriffen.
Der Stern wandert mit.
Still.
Beharrlich.
Unaufdringlich.
Und vielleicht –
ist genau das Advent.
Amen.