Das Leben streicheln - Predigt zu 1.Johannes 1,1-4 von Christine Hubka
1,1-4

Das Leben streicheln - Predigt zu 1.Johannes 1,1-4 von Christine Hubka

Das Leben streicheln

Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens – und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –,
was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.
Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.


Ich habe das Leben betastet –
Man könnte auch übersetzen: ich habe das Leben gestreichelt.
So oft habe ich das gemacht, das Leben betastet:

Wenige Minuten nach der Geburt hielt ich mein erstes Enkelkind im Arm.
Und im Lauf der Jahre dann die anderen.

Ich habe das Leben betastet – ich habe das Leben gestreichelt.
Die Hände der sterbenden jungen Kollegin aus meiner Stammschule.
Im Hospiz am Rennweg lag sie in einem Einzelzimmer.
Ich habe ihre Hand gehalten und ihr gesagt,
wie sehr ich sie schätze.
Wie gut mir ihre Gegenwart im Konferenzzimmer getan hat.

Ich habe das Leben betastet – und auch gestreichelt.
Ein Strafgefangener wurde aus der Justizanstalt Wien Josefstadt
in ein anderes Gefängnis verlegt.
Zum Abschied umarmten wir uns.
Meine Hände auf seinem Rücken spürten sein unterdrücktes Weinen.

Ich habe das Leben betastet – ich habe das Leben gestreichelt.
Nicht nur diese drei Male, sondern immer wieder.
Immer wieder.

Für mich ist es ein Privileg, dass ich dem Leben so nahe kommen darf,
dass ich es mit meinen Händen berühren kann.
Und jedes Mal empfinde ich das Gleiche:
Meine Hände berühren Gott.
Meine tastenden Fingerspitzen, meine streichelnden Handflächen
verstehen Gott anders als mein Verstand.
Den Händen genügt es, das Leben zu betasten, zu berühren.

Einen Moment schweigen dann auch die Gedanken.
Sie verharren ehrfurchtsvoll.
Sie verzichten darauf, das zu kommentieren, wofür es keine Worte gibt.

Religion, ganz gleich welche, ist unter uns in Verruf gekommen.
Nicht erst seit Leute mordend den Koran schwenken.

Religion ist auch in Verruf gekommen,
als zu Beginn dieses Jahrtausends Politiker  mit der Bibel in der Hand
die Staatenwelt in Schurkenstaaten auf der einen Seite
und die Guten auf der anderen Seite einteilten.
Als sie es für eine gottgewollte Verpflichtung hielten,
diese sogenannten Schurkenstaaten mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Bei öffentlichen Gebetsfrühstücken haben sie das verkündet.
Die tödlichen Geschoße danach
trafen auch Zivilisten, Hochzeitsgesellschaften, Krankenhäuser, Kinder.

Religion ist bereits zur Zeit der Aufklärung in Verruf gekommen.
Als etwas, was der Vernunft widerspricht.
Weil das, was Religion meint,
angeblich nicht angeschaut und betastet werden kann.

Wie sehr hat die Aufklärung da geirrt!

Und wie sehr hat die Christenheit geirrt,
als sie sich und ihren Glauben reduziert hat
auf Streitigkeiten über Lehrsätze und Lehrmeinungen.
Wie sehr  hat die Christenheit nicht  nur geirrt,
sondern sich an ihrem Christus versündigt,
als sie begonnen hat,
Theorien über Leben und Tod aufzustellen,
anstatt das Leben zu betasten und zu betrachten.

Mir scheint, die Angst vor der islamischen Religion heute
ist nicht zuallererst die Angst vor einer terroristisch geprägten Abart.
Die Angst vor der islamischen Religion scheint mir dieselbe zu sein,
die sich noch vor ein paar Jahrzehnten
gegen die jüdische Religion gewandt hat.
Beide Religionen prägen, durchweben den Alltag der Menschen.

Von der Küche bis ins Schlafzimmer.
Weil der Mensch durchdrungen ist von diesem Glauben,
kann und soll kein Lebensbereich ausgespart sein.
Ob Gott nun Allah genannt wird, was nichts anderes als Gott heißt.
Oder Adonai, also Herr.

Oder eben Vater Jesu Christi. Unser Vater.
Denn auch in der Nachfolge Jesu gibt es keine religionsfreien Räume.
Auch in der Nachfolge Jesu geht es nicht um Theorien und Ideen,
sondern darum zu hören, zu sehen, zu betrachten, zu betasten.
Und manchmal auch zu streicheln.

Bleiben wir in der Küche.
Unser tägliches Brot gib uns heute,
beten wir heute, bevor wir Brot und Wein empfangen.
Wie beeinflusst dieses Gebet den täglichen Umgang mit Brot?
Heute Mittag, vielleicht schon. Oder am Abend.
Spätestens aber morgen zum Frühstück.

Bevor meine Oma den Brotlaib angeschnitten hat,
hat sie mit dem großen Sägemesser ein Kreuz auf das Brot gezeichnet.
Ein Brot betrachten, es angreifen, mit dem Zeichen des Kreuzes vorbereiten, und erst danach es endlich anschneiden, sorgsam, ehrfurchtsvoll, dankbar, das ist gelebte Religion.
Gelebte Religion drückt sich aus in der Sorgsamkeit gegenüber den Dingen.
Diese Sorgsamkeit setzt sich dann fort.
Von dem Brot hin zu den Menschen.
Wenn ich das Brot ansehe, betaste, wert schätze, würdige,
dann spüre ich auch Respekt gegenüber den Menschen,
die so früh aufstehen, wie ich nie aufstehen wollte,
um dieses Brot zu backen.
Und für die Landwirte, auf deren Feldern das Getreide gewachsen ist.
Und für die Verkäuferinnen und Verkäufer,
die mir das Brot im Papiersack reichen,
oder es ins Regal geschlichtet haben.

Und dann habe ich das Leben gesehen, betastet, gespürt.
Und in diesem Leben einen Hauch von Gott erfahren.

Aber:
Brot, das älter ist als einen Tag wird heute „entsorgt“,
so das Fachwort für einen Vorgang,
den man früher einfach „Wegwerfen“ genannt hat.
Warum sagt niemand, dass das Brot weggeschmissen wird?
Vielleicht ist da noch eine Erinnerung an das, was nicht nur meine Oma,
sondern wohl alle Omas ihrer Generation
den Enkelkindern eingeschärft haben:
Brot wirft man nicht weg!

Aus Respekt gegenüber dem Leben,
das in – mit – und unter diesem Brot zu betrachten und zu betasten ist.
Brot wirft man nicht weg,
aus Respekt gegenüber den Menschen,
die am Entstehen dieses Brotes mitgewirkt haben.
Aus Respekt vor den hungrigen Menschen,
die alles für dieses hart gewordene, aber genießbare Brot geben würden.

Vielleicht können wir nicht die ganze Welt versorgen.
Aber wir können dafür sorgen, dass unter uns nichts verkommt,
was Menschen am Leben halten kann.

Ich habe das Leben betastet – ich habe das Leben gestreichelt.
Vom Brot, dem schmackhaften Lebensmittel,
finde ich zu den Menschen.
Statt Menschen kann ich auch sagen die Geborenen.
Wir alle sind Geborene.
Ins Leben hineingeboren ohne unser Zutun,
auch ohne gefragt zu werden.

Darin sind wir alle gleich.
Egal, ob jemand mit einer Behinderung auf die Welt gekommen ist,
oder hochbegabt.
Egal, ob es jemand im Leben zu etwas gebracht hat,
oder gescheitert ist.
Jesus, der Christus, er war ein Geborener unter Geborenen.
Darin ist ihm jeder Mensch gleich.
Egal, was sonst noch über diesen Menschen zu sagen ist.

Hast du, haben Sie in letzter Zeit einem Menschen mit Behinderung
die Hand gegeben?
Einem Menschen ohne Arbeit oder Obdach.
Einem der im Gefängnis gewesen ist?
Einem, der bettelt oder den Augustin verkauft?
Und wenn nicht die Hand gegeben,
dann vielleicht ein paar Worte gewechselt.
Ein kleines Gespräch geführt.

Nicht um Gutes zu tun,
sondern  um das Leben zu spüren, zu betasten, manchmal auch zu streicheln, und um dadurch selber beglückt zu werden.
Oder, wie Johannes schreibt, damit unsere Freude vollkommen sei.