Rut – die Story.
Sie beugt sich über den Brunnenrand, um Wasser in einen Krug zu schöpfen. Sie lässt den Tonkrug vorsichtig über den Brunnenrand ins Wasser eintauchen. Sie summt leise ein Lied vor sich hin. Der Krug füllt sich mit dem frischen Wasser. Bis an den Rand. Ein Lächeln huscht ihr über die Lippen. Sie ist mit ihrer Schwiegermutter Noomi aus Moab nach Bethlehem gekommen. Das liegt nun schon eine Weile zurück. Elimelech war vor Jahren mit seiner Frau Noomi und ihren beiden Söhnen nach Moab gekommen. Dort fanden sie ein gutes Auskommen – sie brauchten keinen Hunger mehr leiden. Selbst im fremden Land konnte man überleben.
Die Entscheidung, aus der vertrauten Welt in Moab in die Heimat der Schweigermutter in Bethlehem in Kanaan umzuziehen war keine einfache. Rut war in Moab glücklich verheiratet gewesen, mit ihrem ersten Mann, Machlon. Die Ehe war allerdings kinderlos geblieben. Irgendwann drängte Noomi darauf in ihre Heimat zurückzugehen, denn der Ewige, der HERR über alles Leben, hatte Regen gegeben, Gerste und Weizen standen ausreichend zur Verfügung. Die Menschen hatten dort, in Bethlehem, genug Brot zu essen. Rut schöpft den Krug mit frischem Wasser und hob ihn auf ihre Schulter. Einer jungen Frau fällt das nicht so schwer – sie war harte Feldarbeit von Kindheit an gewohnt. In Moab war das nicht anders als in Kanaan – die Frauen teilten sich oft genug die Feldarbeit mit Männern und hatten in Haus und Hof auch sonst genug zu tun. Bedroht wurde das Leben von Hunger und Krieg, wer konnte, suchte sich ein Auskommen – und wenn es im Ausland war. Rut erinnerte sich plötzlich wieder daran. Damals, als sie mit ihrer Schwägerin Orpa mit Noomi an die Grenze gegangen war, um Abschied zu nehmen – aber Abschied wovon? Drei Witwen – allein, ohne Auskommen, ohne gesicherte Zukunft. Noomi hatte ihre beiden Schwiegertöchter gebeten, sich doch lieber in ihrer Heimat, in Moab ein neues Leben aufzubauen, sich einen neuen Mann zu suchen, Kinder zu haben, eine Existenz aufzubauen. Weder für Rut noch für ihre Schwägerin Orpa war das leicht gewesen sich zu entscheiden. Dann aber fiel die Entscheidung – Orpa blieb in Moab, während Rut sich für den weiteren, gemeinsamen Weg mit Noomi entschlossen hatte. Sie lächelte, als sie an ihr Versprechen dachte: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bliebst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch…“ So war es gekommen, dass Rut mit Noomi nach Bethlehem zog – aus Sicht von Rut in ein fremdes Land mit fremden Gebräuchen, Sitten und Glauben. Aber: Rut hatte sich darauf eingelassen und sogar die Religion ihrer Schwiegermutter angenommen – sie erfährt dadurch den Segen des Ewigen in ihrem Leben.
II. Auch „Zugereiste“ haben einen Platz vor Gott.
„Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bliebst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch…“ (= Rut 1,16b-17a). Was für Rut ein Treueschwur, vielleicht auch eine Konversion in eine andere Religion war, wird in unserer Zeit manchmal als Trauspruch gewählt. Sich unter ein Bibelwort als Leitmotiv zu stellen oder als Losung zusprechen zu lassen – es soll Segen wirken. Heute geschieht das manchmal auf andere Weise als damals bei Rut.
Rut begleitet ihre Schwiegermutter nach Bethlehem. Interessant ist das zu beobachten: Eine biblische Geschichte, die ganz aus der Perspektive von Frauen gesehen und erzählt wird! Zwei Witwen entscheiden sich, ihr Schicksal gemeinsam selbst in die Hand zu nehmen. Das klingt einigermaßen einfach. Es bedeutet aber für Rut: Ich ziehe in ein mir fremdes Land. Für Rut musste klar sein, diese Entscheidung mit Noomi zu gehen, würde für sie nicht zu persönlichem Gewinn, Popularität oder Privilegien führen. Rut geht also ein hohes Risiko mit ihrer Lebensentscheidung ein. Wird sie je Kinder haben? Rut weiß nicht, ob es weiterhin in der Gesellschaft eine alten, verbitterten Witwe einen normalen Verlauf ihres Lebens geben würde. Die eine Witwe zu alt, um Kinder zu bekommen, die andere eine Ausländerin. Wer sorgt für ihren Unterhalt, wenn die alte Noomi mal nicht mehr ist? Und wie sicher sieht es überhaupt mit ihrer Sicherheit in der Fremde als Zugereiste aus? Scham und Selbstzweifel könnten in ihr geistiges Wohlbefinden eingegriffen haben. Andere Sitten und Gebräuche kamen auf sie zu. Eine andere Religion.
Rut wird sich als „Zugereiste“, wie wir hier auf den Dörfern von Neuankömmlingen sprechen, einstellen müssen, auf das, was in Bethlehem geschieht: Die Gepflogenheiten der Dorfbewohner, wie sie miteinander reden, welche Regeln, welche Rituale und welche Tabus es im Dorf gibt. Wie die Menschen dort lieben, leben, sterben, trauern und ihre Toten begraben. Sie ist aber bereit sich zu assimilieren, in der neuen Gemeinschaft aufzugehen.
Sicher – manches wird Noomi ihren Kindern und Schwiegertöchtern in glücklicheren Jahren erzählt haben: Das Haus in Bethlehem. Die Felder voller Weizen und Gerste. Die Nachbarn, das große Erntefest, die Lieder vom Brunnen und die Erzählungen aus alter Zeit. Die Sache mit dem Ewigen, der sein Volk in das Land geführt hatte. Der hatte versprochen, seine Barmherzigkeit niemals abzuwenden. Er ist es, der Menschen ohne Hoffnung neue Hoffnung schenkt; ja, der seine Barmherzigkeit nicht abwendet von Lebenden und Toten. Was unmöglich scheint, kann trotzdem möglich werden. Aber es sind am Ende erst einmal zwei Witwen, deren Zukunft in Bethlehem nicht klar vor Augen war. Sie sind keine Glaubensheldinnen, die Bibel schildert sie nicht als besonders frommen Leute. Aber wo Gott am Werk ist, wird es auf alle Fälle anders kommen, als die beiden Witwen es sich je hätten vorstellen können. Gott wendet sich ihnen in seiner Güte zu. Der Ewige ist zu allen Zeiten gegenwärtig, auch wenn es manchmal gar nicht danach aussieht.
III. Das eigene Leben in Ruts Geschichte spiegeln.
Die Wechselfälle unseres Lebens können wir in der Erzählung aus dem Buch Rut spiegeln - Gott ist unter allen Lebensumständen bei und mit uns. Wie eine junge, aus dem Ausland stammende Frau mit Namen Rut von den Realitäten ihrer Zeit beeinflusst wurde, sind auch wir in die gesellschaftlichen Herausforderungen dieses neuen Jahres 2021 eingetaucht und sehen noch nicht vor uns, ob wir Privilegien und Wohlstand oder Krankheit und bittere Erfahrungen vor uns haben. Das wir leben, als wären wir tot. Wir bleiben zuversichtlich: Gott ist mit uns. „Wo Du hingehst…“ heißt es bei Rut. Vielleicht kommt uns das bekannt vor. Da war plötzlich ein Krieg, eine Flucht und ein neues Auskommen, dort, wo wir hingeführt wurden. In einem anderen Dorf. In der Fremde, die zur neuen Heimat wurde. Wie haben Sie das erlebt? Wie war das, sich auf Unbekanntes einzulassen? Viele haben ihre Hoffnung auf Gott gesetzt und von ihm Zuversicht geschenkt bekommen. Da muss sich jemand plötzlich auf eine ungewohnte Situation einstellen – nach einiger Zeit gelingt es. Mit der neuen Situation umzugehen – mit Gottes Hilfe. Noomi hat das erfahren, Rut nicht weniger.
Wir erkennen daran: Jede und jeder von uns mag zuerst darauf Acht haben, was Gott mit ihr / mit ihm in seiner Güte wirkt. Gottes Werke kommen im Übrigen unter allen Umständen zum Ziel und scheitern nicht an unseren Unzulänglichkeiten oder an dem was wir unbedacht sagen oder tun. Gott kommt bleibt uns zugewandt, auch wenn das nicht gleich oder immer vor Augen haben.
Was Gott wirkt geschieht ist manchmal gar nicht so offensichtlich und außerordentlich, so die Erfahrung vieler Christen und Juden, die vor uns lebten. Wer nur auf das Spektakuläre schaut wird schnell unzufrieden und eine gewisse Bitterkeit greift um sich. Heil und Gutes wird daran erkannt, was Gott an Ihnen, Dir und mir wirkt. Aus dem Wirken Gottes an Dir, an mir, an uns folgt dann unser Loben Gottes. Dieses Lob erklingt in den Psalmen, wie am heutigen Sonntag aus Psalm 86,5+9: „Denn, Du, Herr, bis gut und gnädig, von großer Güte allen, die dich anrufen. … Alle Völker, die Du gemacht hast, werden kommen und vor Dir anbeten, Herr, und deinen Namen ehren, der du so groß bist und Wunder tust.“ Das gilt entsprechend auch für Rut, der Frau aus Moab. Sie sagte zu Noomi: „Dein Gott ist mein Gott“. Was damals ein Versprechen von Witwe zu Witwe war, hat sich gewandelt zu: Gottes Güte im eigenen Leben erlebt zu haben.
Das Wirken Gottes geschieht meistens unspektakulär. Gott sorgt für das Recht und für ein Auskommen im Leben der Witwen Noomi und Rut. Er gibt seinen Segen, ohne dass Menschen dieses sofort erkennen und sich auf den ersten Blick erschließen. Mit Macht kann Gott das tun und wendet sich besonders denen zu, die vor der Welt ohne Ansehen sind und ganz und gar nichtig.
IV. Ende gut, alles gut!
Rut trägt den Krug mit Wasser auf der Schulter nach Hause. Sie summt ein Lied, ein Brunnenlied und wechselt zu einem anderen Lied, einen Psalm. Sie besingt damit was Gott an ihr getan hat. Jetzt, wo das Kind des Boas, Obed, geboren wurde, spielte die das Vergangene keine Rolle mehr. Der Ewige Gott hatte auf sein Weise, ganz und gar unspektakulär in das Leben der Witwen eingegriffen. Die Witwe Rut ist neu verheiratet und damit rechtlich und sozial in ihrer Zeit abgesichert. Es ist ein Kind geboren, das nun auf dem Schoß der glücklichen, altgewordenen Noomi spielt.
Benutzte Literatur: Urtext (BHS) und Tanakh online mit Auslegungen, Zakovitsch Yair: Das Buch Rut, SBS 177, Gerlemann Gillis, Ruth, BK XVIII, Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Reihe III, Berlin, 2020; Zuversicht und Stärke, Zeitschrift für Gottesdienst und Verkündigung, Reutlingen 2020, Predigtimpulse, DtPfBl 120(2020)12;
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich bin Pfarrer in zwei ländlich geprägten Gemeinden in der Lüneburger Heide. Vor Au-gen sind mit Menschen mit Fluchterfahrungen und Menschen mit Migrationshinter-grund. Von Gottes Zuwendung, Güte und Barmherzigkeit zu sprechen – mitten in ei-nem „harten“ Lockdown ist mir wichtig. Vermutlich sind eher Menschen über 50 in den Gottesdienten zu erwarten, sofern es einen Präsenz-Gottesdienst gibt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Geschichte von (drei) zwei Witwen aus der Perspektive von Frauen aus dem Ers-ten, Alten Testament zu erkunden beflügelte mich. Ich orientiere mich gerne auch an jüdischer Exegese; hierzu gab es aufschlussreiche Entdeckungen zu machen. Ist Rut aus Moab als eine „Konvertitin“ zum Judentum anzusehen? Gottes Handeln be-schränkt sich nicht nur auf Israel, die Völkerwelt wird ebenso in dieser Novelle in den Blick genommen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gottes Handeln in Güte und Barmherzigkeit setzt nicht erst mit der Konversion von Ruth ein. Gerade im unspektakulären Alltag wirkt Gott zu seiner Zeit mit seinem Se-gen. Bei ganz „normalen“ Leuten… Diese müssen keine Glaubensheldinnen oder Glau-benshelden sein.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Predigtcoach (Coachin klingt eigenartig) hat mich ermuntert aus der Perikope selbst die Erkenntnisse der Predigt zu verorten und nicht oder nur sehr vage angedeu-tet aus dem ganzen Erzählzusammenhang des Buches Rut. Ich habe mich gefreut, dass meine Intention, in meiner eher leichten Sprachwahl „dicht am Menschen zu sein“ sich ein wenig zu bewähren scheint. Das Gespräch vorab im Coaching hat mir sehr gut ge-tan und führte zur Präzision in der Darstellung.