Ewiges Leben: Wir haben es schon.
Und das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes.
Wenn wir von „Ewigkeit“ reden, dann denken wir zumeist an eine sehr, sehr lange Zeit. Oft kommt uns diese Zeit dann viel zu lang vor: „Heute Morgen bin ich mal wieder eine Ewigkeit lang im Stau gestanden.“ „Neulich habe ich eine Ewigkeit lang im Wartezimmer gesessen.“ „Die ewigen Baustellen nerven.“
Wenn wir uns solche Redewendungen vor Augen führen, dann leuchtet uns sofort ein, dass eine lange Zeitdauer nicht schon für sich etwas Gutes ist. Bei vielem möchte man eigentlich, dass es möglichst schnell vorübergeht. Wenn wir es zeitlich verstehen, dann ist das ewige Leben nur dann ein erstrebenswertes Gut, wenn es schon in jedem einzelnen Moment attraktiv ist. Ewigkeit muss mehr sein als ein Zustand, der einfach nur lange andauert.
Vom ewigen Leben ist in unserem Predigttext die Rede, einem Abschnitt aus den ersten Brief des Johannes. „Ewiges Leben“: Der Ausdruck scheint rätselhaft zu sein. Wenn man den Briefschreiber aber ernst nimmt, dann sollte eigentlich das Gegenteil der Fall sein: Wir müssten eigentlich nur auf unsere Lebenserfahrung als Christen schauen, und schon wüssten wir, wie das Ewige Leben aussieht, denn wir haben es ja schon: „Das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben gegeben hat.“ Der Briefschreiber redet vom ewigen Leben nicht als von einem Gut, das uns erst in der Zukunft zuteil wird. Für ihn haben wir schon jetzt, schon in der Gegenwart, Anteil am ewigen Leben: Wer den Sohn hat, der hat das Leben.
Wie das ewige Leben aussieht, das sehen wir an Gottes Sohn, an Jesus Christus. Um es mit den Worten des Briefschreiber zu sagen: dieses Leben – gemeint ist: das ewige Leben – ist in seinem Sohn. Wir schauen das Leben Jesu an, und es tritt uns das ewige Leben vor Augen. Was zeichnet das Leben Jesu aus? Nun, er führt ein Leben im stetigen Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Selbst als er am Kreuz an der Gegenwart Gottes zu zweifeln scheint, wendet er sich doch noch an Gott: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Mit dieser Frage ist klar: Noch in der tiefsten Verzweiflung bleibt Gott ihm sein Gesprächspartner.
Es ist nicht nur ein sprachliches Detail, dass der Briefschreiber in dem Abschnitt, den wir heute gemeinsam betrachten, die beiden Ausdrücke abwechselnd verwendet: „ewiges Leben“ und „Leben“. Er wechselt die Ausdrücke nicht nur ab, weil ihm das so im Deutschunterricht bzw. Griechischunterricht beigebracht worden ist: Ausdrücke abwechseln, nicht immer das gleiche Wort verwenden. Nein, mit dieser Abwechslung verbindet sich für den Briefschreiber eine sachliche Pointe: Ewiges Leben, das ist für ihn Leben im Vollsinn. Ein Leben, das nicht verfehlt, verschwendet oder insgesamt vertrödelt wird (so sehr auch zum Leben im Vollsinn eine zeitweise Trödelei durchaus dazugehören darf). Ein Leben im Vollsinn ist ein Leben, das seiner Bestimmung entspricht. Wie solch ein Leben aussieht, das können wir am Leben Jesu ablesen. Zwar können wir ihn nicht in allen Einzelheiten imitieren, das sollen wir auch gar nicht. Er ist er, und wir sind wir. Aber gewisse Grundorientierungen können wir durchaus übernehmen. Die wichtigste Grundorientierung scheint mir die folgende zu sein: Jesus führt sein Leben nicht für sich selbst. Er lebt es zusammen mit anderen, und er lebt es für andere.
Ein Leben mit anderen und für andere: Das ist das christliche Leben, und das ist auch das ewige Leben.
Wir denken in diesen Tagen nach über die beiden biblischen Weihnachtsgeschichten. Zum einen über die Geschichte von der Geburt Jesu im Stall. Und zum anderen über die Geschichte von den drei Sterndeutern aus dem Orient, die, geleitet vom Stern, den neu geborenen Messias besuchen. Beide Geschichten sind einigermaßen reich an Personal. Und dieser erzählerische Zug weist auf schöne Weise darauf hin, dass Jesus von Anfang an sich hinein begibt in das reiche und volle, auch spannungsvolle, Menschenleben. Das ewige Leben scheint nicht unbedingt ein ruhiges Leben zu sein. Nein, ruhig ist das Leben zusammen mit anderen meistens nicht.
Immer wieder in der Religionsgeschichte der Menschheit hat man gemeint, man käme dem ewigen Leben dadurch näher, dass man sich zurückzieht aus den Wirren und aus den Aufregungen der Welt. Man zog sich etwa zurück in die geregelte Stille des klösterlichen Lebens, oder man wurde gar zum Einsiedler. An diesen Rückzugsüberlegungen ist auch durchaus etwas dran. Die Evangelien berichten uns davon, dass auch Jesus sich immer wieder zurückgezogen hat. Er brauchte Zeit für sich allein, genauer: Zeit in der er zusammen mit Gott allein sein konnte. So geht‘s auch uns: Bei allem Engagement und bei aller Freude an der Geselligkeit brauchen wir doch immer wieder Möglichkeiten des Rückzugs. Und es ist schön, wenn die zurückliegenden Feiertage uns zwischen all den damit verbundenen Begegnungen doch auch Möglichkeiten zur Ruhe geboten haben.
In der Ruhe ist es uns vielleicht wieder neu bewusst geworden, dass sich unser Leben nicht unserer Eigenaktivität verdankt. Wir müssen unser Leben nicht selbst hervorbringen, es wird uns gegeben und geschenkt. Ein Leben, das als gegebenes und geschenktes gelebt und genossen wird: Das ist das christliche Leben, und das ist auch das ewige Leben.
Wir können am Leben Jesu ablesen, wie ewiges Leben aussieht. Aber das Bild wird erst vollständig, wenn wir uns mit Jesus nicht einfach identifizieren. Wir müssen, nein: wir dürfen uns auch mit jenen identifizieren, denen Jesus sich zuwendet. Er ist er, und wir sind wir. Und während bei ihm die Hingabe ganz im Vordergrund steht, und uns nur an ganz wenigen Stellen davon berichtet wird, dass auch er Zuneigung und Wohltaten empfangen hat, darf es bei uns anders sein: Wir dürfen im wesentlichen Empfangende sein und die Wohltaten genießen, die Gott uns gönnt.
So sieht das ewige Leben für uns aus: Wir dürfen unser Leben als gegebenes und geschenktes Leben genießen und uns daran erfreuen. Und aus dieser Freude an unserem Leben erwächst dann die fröhliche Zuwendung zu den anderen. Gott gibt, und wir geben weiter. Das ist, wenn man so will, ein „ewiger“ Kreislauf: Dankbares Empfangen, fröhliches Weitergeben.
Ewiges Leben ist etwas anderes als ein Leben, das einfach nur immer weiter und weiter geht. Ewigkeit ist mehr als endlos verlängerte Zeit. Und dennoch kann man von der Ewigkeit nicht ganz ohne Bezug auf die Zeit reden. Irgend etwas hat die Ewigkeit doch mit der Zeit zu tun. Ja, die Ewigkeit tut etwas mit der Zeit: An Weihnachten kommt die Ewigkeit in die Zeit hinein - und damit verändert sich die Zeit. Denn nun ist die Zeit erfüllt, erfüllt durch die Gegenwart Gottes in Christus. Ohne Christus können wir uns über Gott immer nur ganz abstrakte Gedanken machen. Ohne Christus rätseln wir über Gott hin und her. Aber nun haben wir ein anschauliches Bild von Gott vor uns. Der Gott, der uns einst verboten hat, dass wir uns ein Bild von ihm machen, der hat nun selber eine anschauliche Gestalt angenommen. Wir müssen nun keine Zeit mehr darauf verschwenden, uns zu überlegen, wie wir uns denn Gott vorstellen sollen. Wir schauen auf Christus und haben damit Gott vor unserem Angesicht. Die Zeit des Rätselratens ist vorbei.
Und nun fühlt sich das Leben für uns anders an: Unsere Sehnsucht hat ihre Erfüllung gefunden, unser Leben sein Ziel. Mehr können wir eigentlich nicht wollen, als Gott zu begegnen. Und in Christus sind wir ihm begegnet. Deshalb ist nun alle Zeit, die noch vor uns liegt, keine Zeit des Suchens mehr. Wir wurden gefunden, und damit hat unsere Suche ein Ende. Wir leben zwar noch auf Erden, wir tragen noch die Mühen des Erdenlebens, aber unser Leben ist schon zu einem ewigen Leben geworden: Wer den Sohn hat, der hat das Leben. Er hat es schon jetzt, und er wird es nicht mehr verlieren, auch nicht durch den Tod.
Sehr abstrakt redet unser Predigttext von dem ewigen Leben, das an Weihnachten in die Welt gekommen ist. Sehr viel anschaulicher und sehr viel gefühlvoller singen die schönen Lieder vom ewigen Leben, die wir in diesen Tagen so gerne anstimmen. Darum lasst uns nun singen…