Hauptsache gesund!? Die Täuschung, ein Recht auf Gesundheit zu haben. Predigt von Petra Schautt

Hauptsache gesund!? Die Täuschung, ein Recht auf Gesundheit zu haben. Predigt von Petra Schautt

Seither hat sie ein ganz normales Leben geführt. Bis zu ihrer Diagnose: Krebs! Das kann doch nicht sein. Sie ist doch wie all die Jahre vorher mit einem guten, mit einem sicheren Gefühl zur Routineuntersuchung gegangen. Und dann der Schock: Was bisher immer nur anderen widerfahren ist, was sie schon dutzend Mal von andere Frauen gehört hatte, jetzt hat es sie selber getroffen: Brustkrebs.
  
  Wie eine Seifenblase ist ihre Sicherheit zerplatzt. Hat sie in ihrem Alter nicht ein Recht darauf, gesund zu sein, einen unversehrten funktionierenden Körper zu haben. Hat sie nicht ein Recht darauf, ihr Leben zu leben, inmitten ihrer Familie? Wo die Menschen heute doch so alt werden... Welche Ent-Täuschung! Der Boden unter ihren Füßen wankt. Sie gerät in unglaubliche Turbulenzen.
  Sofort läuft vor ihrem inneren Auge der ganze Film ab: leidvolle Chemotherapien, Metastasen, ein elendes Ende, der Tod. Ihr kommt es vor wie ein Alptraum und sie hofft, dass dieser Alptraum sich nach dem Aufwachen in Luft auflöst.
  Leise nur vernimmt sie die Stimmen der anderen: Es gibt Heilungschancen, es muss kein Todesurteil sein. Viele haben diese Krankheit schon überlebt, sogar zwei Mal. Gott kann heilen. Gott kann Wunder wirken.
  Im Lauf der nächsten 3, 4 Tage gewinnt sie Hoffnung: es muss nicht unbedingt eine Chemotherapie sein, es gibt andere Therapieformen. Und selbst wenn. Zwischen den einzelnen Chemogaben, lässt sich ein recht normales Leben aufrechterhalten...
  Gott sei Dank: Die Brustoperation ist gut verlaufen, der Tumor und viele Lymphknoten wurden vollständig entfernt. Es folgen Wochen der Therapie – Bestrahlungen, Medikamente. In ihr keimt die Hoffnung, dass die Krankheit besiegbar ist... Danach Wochen eines relativ normalen Lebens.
  Und es ist ja auch so: Menschen pendeln zwischen „gesund“ und „krank“. In jedem gesunden Menschen ist ein kranker Bereich und in jedem kranken ein gesunder.
  Auch als kranke Frau merkt sie, dass sie Begegnungen erlebt, in denen sie sich in nichts unterscheidet von denen, die als „gesund“ gelten. Sicher, sie ist oft müde und braucht viel Schlaf. Aber so viel anderes funktioniert wie vorher: Sie richtet den Kindern das Mittagessen, schreibt emails an Freundinnen, liest, geht spazieren... Langsam merkt sie, dass nicht jede Minute ihres Lebens von der Krankheit geprägt ist.
  Das gibt ihr Kraft um ihr Leben zu kämpfen, zu kämpfen für ihre Familie, für ihre Kinder. Sie darf sie nicht allein lassen. Sie spürt den Druck der Erwartungen.
  Sie ringt mit Gott, ringt um ihr Leben, kämpft um Gottes Segen, so wie Jakob damals am Jabbok. Vor allem in den Nächten ringt sie mit Gott. Sie kämpft darum, ihren Glauben nicht zu verlieren. Sie zweifelt an Gottes Liebe und daran, ob er überhaupt existiert und gegenwärtig ist. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. Wenn die Sonne aufgeht, wird es meistens besser, da kann die Angst der Hoffnung weichen. Dann kann sie weitergehen, wie Jakob damals mit seiner steifen Hüfte. Hinkend, aber gesegnet.  So fühlt sie sich. Hinkend, aber doch irgendwie getragen. Ohne Wunden geht dieses Ringen nicht.
  
  Bei der nächsten Kontrolluntersuchung dann die Enttäuschung und die schleichende Erkenntnis: Es wird nicht wieder ganz gut. Sie muss sich auf Einschränkungen einstellen. Sie muss sozusagen mit dem Hinken leben. Sie muss sich mit ihrem versehrten Körper anfreunden. „Hauptsache gesund!“, so sagen alle. Und was macht sie nun, wenn sie nicht mehr gesund ist? Wenn sie vielleicht nie mehr gesund wird. Was ist dann die Hauptsache? Wie kann sie trotz ihrer körperlichen Krankheit heil werden, gesund sein? Heißt heil werden, Frieden zu machen mit der Krankheit, mit ihrem kranken Körper?
  
  Kann sie ihren Körper akzeptieren, ja sogar lieben, ohne die amputierte Brust? Kann sie auch für diesen schwachen Körper danken? „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin, wunderbar sind deine Werke...“
  
  Kann sie für sich einen Sinn ergründen, einen Sinn für diese Wüstenerfahrung, eine Antwort auf die Frage nach dem Warum? Warum das mir? Warum mir das?
  Kann sie ihre Krankheit als ungewollte Lebensaufgabe akzeptieren, die ihr auferlegt wurde, als Entwicklungsraum? Gibt es die Chance, dass sie trotz und gerade im Leiden einen Sinn findet?
  Vielleicht, mit der Zeit, vielleicht in der Rückschau. Oder weil andere eine positive Veränderung an ihr wahrnehmen. Dinge gewinnen einen neuen Wert. Andere, die sie bisher unheimlich wichtig genommen hat, verlieren an Bedeutung. Sie wird dankbar für menschliche Zuwendung, treue Freundschaft, Geduld, gute Zeit. Sie wagt es Dinge anzugehen, die sie seit langem ändern wollte.
  Wer nie Brüche erlebt hat, weiß weniger vom Leben als diejenigen, die durch die Täler von Einsamkeit und Krankheit gegangen sind, durch die Täler von Angst und Verletzung und Fragen.
  Seit sie diesen Krebs hat, merkt sie, wie viele an dieser Krankheit leiden. Oft erzählt ihr eine Frau: Ich habe das auch“. Sogar Frauen, mit denen sie bisher kaum zu tun hatte. Vielleicht weil sie denken: „Die weiß, wie das ist. Die versteht mich.“ Und so ist es ja auch. Diesen Sinn ihrer Krankheit hat sie sich nicht gewünscht. Aber er ist für sie selber sichtbar geworden.
  Als Kind ging es ihr so: Nach einer Woche mit Fieber im Bett waren die Ärmel und die Hosenbeine zu kurz geworden? Sie war während der Krankheit gewachsen.
  Wächst sie als Erwachsene auch während ihrer Krankheit? Vielleicht kann sie in diesem Wachstum eine ganz eigene Art der Heilung erfahren? Natürlich wünscht sie sich, dass ihr Körper wieder gesund wird, heilt. Aber nicht nur das bedeutet Heilung. „Heilung bedeutet ja nicht, dass alles wieder wird wie früher, sondern dass sich etwas ändert in uns... bis wir so geworden sind, wie Gott uns gedacht hat, als er uns das Leben gab.“ (Jörg Zink). Heilung als eine Veränderung dessen, was ihr wichtig ist, was sie schätzt und welche Ziele sie hat. Heilung ist auch, dass sie eine neue Beziehung zu sich selber bekommt, dass sie offener, wacher, liebevoller und dankbarer das Leben als Geschenk wahrnimmt, das ihr anvertraut wurde. Bedeutet Heilung also auch, Frieden zu machen mit der Krankheit?
  
  Die Krankheit schreitet fort. Sie muss vielleicht sogar dem Tod ins Auge sehen, dem nahen Ende. Wieder ringt sie mit Gott. Wieder bekommt sie keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Warum machst du meinen Körper nicht gesund? Das ist nicht gerecht! Tränen. Enttäuschte Hoffnung, Zweifel, ob Gott es wirklich gut mit ihr meint.
  Doch sie merkt, sie muss das „Warum“ loslassen, es ist nicht lösbar. Wie kann sie es bloß schaffen, dieses Warum loszulassen? Sie spürt, sie kämpft nicht mehr gegen Gott, sondern gegen ihren eigenen Willen, gegen ihr eigenes Fragenstellen. Gegen ihren Wunsch, ein Recht auf Leben zu haben.
  Ist sie bereit, dieses Leben, diese Krankheit anzunehmen? Ist sie bereit zu akzeptieren, dass das Leben unverfügbar ist, angefochten und gefährdet, begrenzt, trotz der modernen Medizin? Kann und will sie sich fügen?
  
  Sie bekommt keine klaren Aussagen darüber, welche Lebenserwartung sie mit einer neuen Therapieform hat und weiß auch nicht, wie sehr diese dann ihre Lebensqualität beeinträchtigen wird. Sie kann nicht einschätzen, was welche Alternative bedeutet: Was ist besser? Weniger Lebenszeit, wenn sie die Therapie nicht macht und dafür weniger Nebenwirkungen, ein Leben zuhause, ohne die vielen Krankenhaustermine. Wie soll sie sich entscheiden? Spürt sie noch, was ihr und ihrem Körper gut tut? Und traut sie sich, selbst zu bestimmen, wo für sie die Grenze liegt?
  Wer unterstützt sie dabei?
  Was tröstet in dieser Situation? Die Menschen um sie herum? Die Familie? Sie will sie doch nicht beunruhigen mit ihrer Angst, sie will ihnen doch nicht die Hoffnung nehmen. Lieber behält sie ihre große Sorge für sich.
  
  „Die schwersten Wege
  werden alleine gegangen“,
  schreibt Hilde Domin in ihrem Gedicht
  „Die schwersten Wege
  werden alleine gegangen,
  die Enttäuschung, der Verlust,
  das Opfer,
  sind einsam.“
  
  Nein, Einspruch, das will sie so nicht akzeptieren. Sie will nicht alleine gehen. Und die schwersten Wege müssen auch nicht allein gegangen werden. Im Gebet fleht sie Gott an, sie ruft ins Dunkel hinein, wie Jesus damals im Garten Gethsemane und am Kreuz. „Nimm diesen Kelch von mir! Schenke mir Genesung! Höre mein Gebet! Warum hast du dich von mir abgewendet, mich mutterseelenallein gelassen! Antworte mir doch, schweige nicht zu meinen Tränen.“
  Und durch ihre Verzweiflung hindurch dringen auch die anderen altvertrauten Worte wieder an ihr inneres Ohr: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, betet sie,...
  Und langsam sprechen diese Worte zu ihr, sie werden zu Resonanzräumen für ihre Einsamkeit:
  
  Denn du bist bei mir.
  
  Im Keller des Krankenhauses
  Auf der Liege im kalten Raum
  Unter dem lärmenden Großapparat
  Der Strahlentherapie
  Bist du bei mir.
  
  Du hast deine Nacktheit
  Mit gelbem Handtuch bekleidet...
  Stumm rinnen Tränen
  Aus Deinen Augenwinkeln.
  
  Du liegst auf dem Rücken.
  Du hoffst auf Heilung.
  Du hast Krebs
  Mit mir.
  (Petra Fietzek, Ins eigene Leben geschrieben. Psalmen für heute. S.14)
  
  Gott hat Krebs mit ihr. Gott teilt ihre Not, ihre Ängste, ihre Tränen. Gott liegt mit ihr auf der Liege im kalten Raum. Die Nacktheit mit einem gelben Handtuch bekleidet, hofft Gott mit ihr auf Heilung.
  Diesem Gott vertraut sie, diesem Gott, der in Gethsemane darum flehte, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge. Dieser Gott weiß, was es heißt, schwach zu sein. Diesem Gott öffnet sie ihr Herz und spürt, sie ist in ihrer Not nicht allein. Durch all ihre Zweifel hindurch, lernt sie neu, Gott in ihrem Leben wahrzunehmen. Sie merkt, dass sie nicht nur ihre enttäuschte Hoffnung hat, sondern einen Gott, der mit ihr trauert um das Leben, das sie nicht mehr leben kann.
  
  „Keins seiner Worte glaubte ich“, so liest sie in einem Gedicht.
  „Keins seiner Worte glaubte ich, hätte er nicht geschrien:
  Gott, warum hast du mich verlassen.
  Das ist mein Wort,
  das Wort des untersten Menschen.
  Und weil er selber so weit unten war, 
  ein Mensch, der "Warum" schreit 
  und schreit "Verlassen", 
  deshalb könnte man auch die andern Worte, 
  die von weiter oben, 
  vielleicht
  ihm glauben.“  (Rudolf Otto Wiemer)
  
  Genau deshalb wagt sie es auch, diesem Gott zu vertrauen. Weil Gott sie kennt, diese Angst, diese Hilflosigkeit, weil Gott das selbst zitternd, erschüttert und zagend erlebt hat, Blut schwitzend, deshalb wagt sie es, die anderen Worte vorsichtig und zaghaft zu betrachten, ob sie auch mitschwingen mit ihrer Situation: die Worte des Trostes, die Worte des Erbarmens. Die Worte vom Bleiben im Hause des Herrn immerdar, die Worte, dass Jesus auferstanden ist, die Worte, dass Gott in der Schwachheit mächtig ist.
  
  „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Hinzuhören auf das, was Gott spricht, ist der Anfang einer neuen Geschichte Gottes ihr.
  
  Gott hat eine Schwäche für das Schwache, Verletzliche, Unvollkommene in uns. Gott hat eine so große Schwäche für uns, dass er selbst schwach wurde. So weiß sie, dass sie in ihren schwersten Stunden nicht allein ist. Vorsichtig versucht sie zu vertrauen und betet:
  
  (Er führte mich hinaus ins Weite Ps18,20)
  Als ich
  Von meinem Leben
  Nichts mehr erwartete,
  schenktest du mir
  überraschend
  Himmelsschlüssel.
  
  Ich erschrak.
  
  Erst
  Als ich mit Dir gerungen hatte
  Und mit mir gerungen hatte,
  ließ ich Dich gewähren.
  
  Du führtest mich hinaus ins Weite...
  (Petra Fietzek, Ins eigene Leben geschrieben. Psalmen für heute. S.12)
  Amen.