Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! - Predigt zu Hiob 19,19-27 von Andreas Pawlas
19,19-27

Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Liebe Gemeinde!

Das kennen wir doch, dass wir Klagen hören - gerade in der jetzigen von der Pandemie geprägten Zeit. Und wer unter uns könnte nicht einstimmen, etwa in die Klage darüber, dass wir uns mit unseren Lieben nur im kleinen Kreis treffen und uns nicht umarmen dürfen, oder dass wir nicht in die Museen können, oder auch dass die Cafés geschlossen sind. Oder bestimmt auch, dass der Betrieb mit üblen Gewinn-Einbußen kämpft. Sicherlich weiß jeder von uns genug, was hier noch an aussprechbaren und unaussprechlichen Klagen hinzuzufügen wäre. Aber, in welch einer Not muss sich ein Mensch befinden, um so zu klagen und zu schreien, wie wir es hier von Hiob hören!

Wo wir heute und unter uns solche oder vergleichbare Nöte antreffen? Nein, meist stoßen wir nicht direkt darauf. Denn meist sind doch diese Nöte vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Nein, wir kommen nicht ohne weiteres hinein, etwa auf die Intensivstationen oder in die Sterbezimmer zu Haus. Oder wer lässt uns anteilnehmen an seinem Überlebenskampf während durchwachter und durchweinter Nächte im eigenen Schlafzimmer?

Aber vor allem, wer kann dann, wenn sich das Fieber-Karussell nur zu schnell dreht, wenn alles im Leben drunter und drüber geht und wenn kein Vertrauter mehr Zugang zu mir hat, noch so bildhafte Worte finden, wie Hiob? Bleibt da meist nicht nur ein Aufschreien, ein Stöhnen, ein Wimmern? Wie oft habe ich solche Klänge mitgenommen von meinen Besuchen bei Schwerverletzten oder Sterbenden in Krankenzimmern oder auf Intensivstationen. Aber sicherlich kommt es auch gar nicht auf die Macht der Formulierungen an, wenn es derart um das nackte Leben, und um das Sterben und Vergehen geht, wie bei Hiob.

Aber warum nur hat denn das Gottesvolk damals alle diese herzzerreissenden Klagen festgehalten und für uns Heutige weiter überliefert? Sicherlich, es kann hilfreich sein, sich in einer Gemeinschaft der Klagenden zu wissen, manchen kann es wirklich stärken, sich gemeinsam all diesem Leid und der Verzweiflung ausgesetzt zu sehen. Macht das nicht auch viel von dem Hilfreichen in einer Selbsthilfegruppe aus?

Sollte das Gottesvolk wirklich deshalb alle diese Klagen festgehalten haben, um uns Heutige in eine Selbsthilfegruppe der Klagenden mit einzubeziehen? Jedoch haben Selbsthilfegruppen meist zu Intensivstationen oder Sterbezimmern keinen Zugang. Darum ist die Botschaft der heutigen Zeit: Die tiefe Verzweiflung und die schwarze Ausweglosigkeit trifft uns meist allein - mutterseelen allein.

Wer mich da noch hört? Wem ich da noch etwas bedeute?

Ich bin fest davon überzeugt, dass das Gottesvolk alle diese Klagen Hiobs für uns Heutige festgehalten hat, weil in diesen Verzweiflungsschreien Hiobs ein Bekenntnis steckt. Es ist das Bekenntnis: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Und daran glaube ich fest, dass wir dieses Bekenntnis über Zeiten und Räume hinweg für uns gelten lassen dürfen:

So manches Mal hatte ich schwere Beerdigungen auf unserem Friedhof zu halten. Und dann ging es die altbekannte Strecke aus der Kapelle heraus bis zur Grabstelle. Aus dem Trauerzug hinter mir konnte ich dann meist noch so manches Schluchzen hören. Und allen stand noch bevor, wie sich der Sarg dann in die dunkle Erde senken würde, wobei Sekunden zu Ewigkeiten würden, und wo dann die Erdwürfe auf den Sarg diesen deprimierend dumpfen Klang ergeben würden, bevor dann alles vorbei wäre.

Aber vorher, ja vorher hatten wir auf diesem Weg von der Kapelle zur Grabstelle am Grab meines Vorvorgängers vorbei zu kommen Und dort, genau dort, da stand diese Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“.

Und für mich bedeutete das: Ich atme durch! Und still danke ich diesem alten Pastor in meiner Seele, dass er die Gestaltung seines Grabsteins in dieser Weise verfügt hatte! Ja, so oft habe ich diese Inschrift als verständnisvollen hilfreichen Gruß von ihm verstanden, der mich ermutigte und mir Kraft gab, um Gottes willen auch dem schlimmsten Elend beizustehen. „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“.

Denn so tief sich auch die Verzweiflung ausbreiten will, so beklemmend und lähmend sich auch die Ausweglosigkeit auf unseren ganzen Leib legen und uns den Atem nehmen will, um Gottes willen darf ich noch anderes denken. Ich darf noch anderes fühlen, nämlich: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“.

Es ist diese Gewissheit, ja diese Ostergewissheit „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, die uns schon heute, an diesen Sonntag in der Passionzeit, mit auf unseren eigenen Lebensweg mitgegeben werden darf.

Nein, die Passion ist nicht alles. Gewiss, die Leidenszeit gehört mit zu unserer Weltenzeit. Aber sie wird bedacht und tief ernst genommen, weil am Ende das Kreuz steht, das Kreuz der Beendigung des Leidens, das Kreuz als Weg zu Auferstehung und Leben: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“.

Wenn auch ich in meinem Leben und Leiden nicht mehr in der Lage sein sollte, klar denken zu können, und wenn mir es auch Schläuche und Masken wären, die meinen einzigen Lebenshorizont bildeten und es mir unmöglich machen sollten, noch Worte zu meinen Lieben zu sagen, mit jedem Atemzug könnte ich dennoch hauchen: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“.

Und wenn mir meine Haut auch noch so zerschlagen ist, wenn ich keine Kraft mehr haben sollte, mich irgendwie zu regen, so will ich doch fest daran glauben, dass ich auch ohne mein Fleisch und seine Kraft Gott sehen werde. Ich selbst und kein Fremder. Ich will fest daran glauben, weil Jesus Christus an mich glaubt, weil Christus in seiner Passion für Dich und mich den Weg des Leidens zur Auferstehung gegangen ist, damit Du und ich genauso auferstehen wie er. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!“ Gott sei Dank!

Amen

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor i.R. Dr. Andreas Pawlas

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist eine Vorstadt-Gemeinde versammelt, Alt und Jung sind beieinander. Kinder sind zuerst beim Gottesdienst dabei, dann aber kommt nach dem Evangelium der Auszug der Kinder zum parallelen Kindergottesdienst.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das eigene Erleben mit dem Hiob-Wort „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!“ auf dem Friedhof.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Bitte und die Hoffnung, mich auch im eigenen Vergehen derart über dieses Hiob-Wort auf Christus verlassen zu können.

4.Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
ch habe gern Anregung des Predigtcoaches zu Vermeidung von Doppelungen und zur thematischen Konzentration aufgenommen.

Perikope
21.03.2021
19,19-27