"Müde" - Predigt über Hiob 14,1-6 von Klaus Pantle
14,1
Müde.
Predigt über Hiob 14,1-6 am Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe,
geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!
Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann:
Schau weg von ihm! Lass ab, damit er sich seines Tages freue wie ein Tagelöhner.
1
Müde. Er war einfach nur müde. Am liebsten würde auf dem Sofa liegen bleiben und versinken in eine stille Dunkelheit. Seit langem schlief er schlecht. Seine Gedanken kreisten immer um dieselben Themen. Wie ein Krake hielt die Krankheit ihn in ihren Fängen und verstärkte unbarmherzig den Druck. Dieser Schrecken, der sonst alte Männer ergriff und am Ende aus dem Leben schüttelte, hatte ihn im fünfzigsten Lebensjahr erwischt, mitten in einer seiner schlimmsten beruflichen Krisen. Er hatte immer viel gearbeitet. Fraglos war er ehrgeizig. Nach Gesellenprüfung im Handwerk, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg und technischem Studium, hatte er sich spezialisiert auf den Betrieb hochkomplexer Maschinenanlagen und im Laufe der Jahre bei wechselnden Arbeitgebern hochgearbeitet. Seine Arbeitskraft war begehrt. Er reiste rund um die Welt, wo er in Sechzehnstunden-Arbeitstagen für seine Arbeitgeber fast schon abgestürzte Riesenprojekte rettete. Gesehen hatte er von dieser Welt außer Fabrikhallen und Hotels wenig. Gesundheitsförderlich war das nicht und auch nicht beziehungs- und familienfreundlich. Einmal war er für ein Jahr von zu Hause aus-, dann wieder eingezogen. Seine Frau und er mochten sich immer noch, aber die Leichtigkeit, die einst zwischen ihnen herrschte, hatte sich in eine Leere verwandelt. Der Sohn studierte und war außer Haus, die Tochter besuchte die 12. Klasse, das kostete, wie das Haus, das sie gebaut und noch nicht abbezahlt hatten. Sein beruflicher Abstieg war schleichend verlaufen. Mit zunehmendem Alter war seine Bereitschaft, sich alle Zumutungen von Seiten des Arbeitgebers bieten zu lassen, gesunken. Plötzlich galt er als schwierig und eines Tags fand er sich – eben noch gelobt für seine letzte Rettungstat in Brasilien – zu seiner Verblüffung vom neuen Chef gekündigt. Sein Anwalt schlug eine hohe Abfindung heraus, aber seine Branche kriselte. Es verbrachte ein halbes Jahr voller Panik, bis er eine neue Stelle fand. Die war schlechter als seine vorhergehenden. Trotzdem stürzte er sich in die Arbeit und spürte, wie sie ihn auslaugte. Von Jugend an hatte er Sport getrieben, war gelaufen, mehrmals sogar Marathon, Fahrrad gefahren und hatte Alpen-Gipfel erklommen. Die Müdigkeit danach genoss er. Das waren die einzigen kurzen Ruhepausen, in denen er sich entspannt fühlte.
Jetzt zwang ihn sein Körper zur äußeren Ruhe, die er innerlich nicht ertrug. Im Betrieb wurden schon seltsame Fragen gestellt. Warum er hinkte, ob er sich beim Sport verletzt hatte? Einige Jahre musste er noch durchhalten als Alleinverdiener, obwohl er wusste, dass seine Prognose miserabel war. Freunde bräuchte er, aber wer Freundschaften über so viele Jahre so lausig pflegte wie er? Jetzt lag er auf dem Sofa, so müde, dass selbst die Panik im Blick auf die Frage, was kommt, verschwunden war. Was war das für ein Scheißleben? Wofür hatte er sich so angestrengt? Für einen Arbeitgeber, die ihn ausgepresst hatte wie eine Zitrone und dann weggeworfen? Für das blöde Haus, für die Kinder, die er liebte und auf die blickte wie auf Fremde, die sich hinter einer Milchglasscheibe bewegten? Für sein Ego, um sich und anderen zu beweisen, dass er, der aus bescheidenen Verhältnissen stammte, „es konnte“ und zu „etwas gebracht“ hatte? Um als Wrack zu enden und an einer scheußlichen Krankheit auf scheußliche Weise zugrunde zu gehen? Müde. Er war einfach nur müde. Am liebsten würde auf dem Sofa liegen bleiben und versinken in eine stille Dunkelheit.
2
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Blicken wir uns um in unserer Stadt, dann sehen wir eine Menge sogenannte Leistungsträger, die sich bewegen zwischen Fitnessstudios, Bürokomplexen, Banken, Fabrikhallen, Flughäfen und Shopping Centren. Diese Leistungsträger sind Unternehmer ihrer selbst in einer Arbeitswelt, die auf Eigenmotivation, Initiativgeist und Selbstverantwortung setzt. Es geht darum, ihre Leistung und Produktivität ständig zu steigern. Sie zu halten ist schon zu wenig. In ihren Lebens- und Arbeitsprozessen reagieren sie nach Möglichkeit sofort auf jede Anfrage, jede Anforderung, jeden Impuls. Zögern, Abwägen, Pausen, Unterbrechungen werden in dieser Welt als Störungen betrachtet. Rasant beschleunigte Kommunikation und permanente Erreichbarkeit gehören dazu. Man muss möglichst vieles gleichzeitig erledigen in diesem Wirbel an Reizen, Informationen und Impulsen. Das erfordert eine spezielle Aufmerksamkeitstechnik. Man kann sich nicht mehr auf eine einzelne Aufgabe oder auf etwas Elementares Nichtgeschäftliches wie das Essen oder das Lieben konzentrieren. Alles, was einen betrifft oder betreffen könnte muss man nebenher im Blick und im Kopf haben, um gegebenenfalls sofort zu reagieren. Diese Aufmerksamkeitstechnik, die heute erwartet wird, gleicht der, die unerlässlich ist für Tiere zum Überleben in der Wildnis. So konditioniert wird der Mensch als ganzer zur Leistungsmaschine, die fortwährend läuft. Als Kehrseite sind exzessive Müdigkeit und Erschöpfung fast zwangsläufige Folgen. Nicht nur für einzelne, für viele ist Erschöpfung zu einem Grundzustand ihres Daseins geworden. Es ist nicht nur so, dass viele Menschen in unserer Stadt in dieses System der Leistungsgesellschaft gar nicht erst hineinfinden. Ist man drinnen, fällt man leicht aus ihm heraus.
Zeittypische Krankheiten sind heute psychische Infarktkrankheiten, die durch Überforderung hervorgerufen werden: Depression, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Borderline-Persönlichkeitsstörung und das, was man als Burnout bezeichnet, was ich lieber Erschöpfungsdepression nenne. Leistungsträger müssen Können können. Können sie nicht mehr Können, brechen sie ein, verzweifeln an sich selbst, stürzen ab in Depression. Permanenter Leistungsdruck führt zu Einsamkeit und Bindungsarmut. Kommt es zum Infarkt der Seele, erfährt man sich isoliert.Es ist eine böse, eine „entzweiende Müdigkeit“, eine „Alleinmüdigkeit“, die das zur Folge hat. Solche Müdigkeit schlägt den Menschen „mit Blickunfähigkeit und Stummheit“. Sie brennt ihm „das Sprechenkönnen aus der Seele aus“ (Peter Handke).
3
Hiob kann wenigstens noch sprechen. Seine Erschöpfung fasst er in Worte und seine Resignation wird zur Klage. Was ist das menschliche Leben? Nichts als vergebliche Mühe und Arbeit, Sorge und Qual. Am Ende steht der Tod. Hiob musste sich darüber wenigstens nicht selbst anklagen. Gott hält er vor, dass er für dieses fatale Schicksal des Menschen verantwortlich ist und den bedauernswerten Menschen im Laufe seiner irdischen Existenz (eine andere gibt es für Hiob nicht) fortwährend schikaniert und ihm nicht einmal kurze Momente der Ruhe gönnt.
Und Hiob bekommt wenigstens auch eine Antwort auf seine Klagen. Am Ende seiner Litanei antwortet ihm Gott in zwei großen Reden. Gott hält ihm darin die ganze große weite Welt vor Augen. Es ist eine bunte Welt, und diese farbige Welt kann keine heile Welt sein. Wo es Löwen gibt, brauchen die auch Futter. Der Löwe muss nicht Gras fressen in dieser Welt. Wo es Sonne gibt, muss es auch Regen geben, sonst würde aus der Erde nichts wachsen, und somit existieren auch Hagel und Sturm. Die Welt ist herrlich und schrecklich zugleich. Sie ist voller Widersprüche. Aber sie ist nicht als Ganzes Chaos, nur weil Hiob den Zustand der Welt an seinem momentanen individuell schlechten Ergehen bemisst. Zum Leben in dieser Welt gehört das Glück genauso wie das Unglück. Das eine gibt es nicht ohne das andere. (Wäre ein Leben ohne Liebeskummer ein besseres Leben?) Damit rechtfertigt Gott nicht das Böse, auf das er Hiob auch hinweist, wenn er in seiner zweiten Rede auf die mythischen Gottesfeinde, Behemot und Leviathan, mit ihrer vernichtenden Gewalttätigkeit verweist. Deshalb muss Hiob unterscheiden lernen: Es gibt erträgliches Leiden und unerträgliches Leiden. Es gibt Leiden, das man in sein Leben integrieren kann und Leiden, das das Leben zerstört. Das eine hat man. Das andere hat einen. Und das letzte ist und bleibt böse und sinnlos. Die Welt ist ein Ort voller gelebter Solidarität und Liebe. Und sie ist ein Ort des Fressens und Gefressenwerdens. Gott garantiert keine heile Welt, wohl aber, dass diese Welt nicht im Chaos versinkt und der Einzelne auch nicht. Hiobs Leiden haben keinen Sinn. Aber am Ende des Buches wird vom Ende des momentanen individuellen Leiden Hiobs erzählt und davon, dass Hiob wieder zurück findet in ein glückliches, sozial intaktes Leben. Ob der „kranke“ Hiob wieder körperlich ganz gesund wird, davon ist nicht die Rede. Nur davon, dass dieser „Fall Hiob“ ein gutes Ende erfahren hat.
4
Insofern zeigt auch uns das Hiob-Buch im Gesamten etwas zeitlos Wesentliches: Man muss die Welt im Ganzen betrachten. „Die Welt ist herrlich – die Welt ist schrecklich. Es kann mir nichts geschehen – ich bin in großer Gefahr“ (Helmut Gollwitzer). Diese doppelte Wirklichkeit, die ich manchmal nebeneinander oder gar ineinander erfahre, muss ich aushalten. Neben dem Schlechten, das ich erleide, gilt es, das Gute und Schöne, das es auch gibt, nicht aus dem Blick zu verlieren.
So könnte man es auch mit der Müdigkeit in unserer „Müdigkeitsgesellschaft“ (Byung-Chul Han) halten. Denn es gibt ja nicht nur die zerstörerische „Alleinmüdigkeit“. Daneben gibt es auch eine gesunde Müdigkeit, eine Müdigkeit, die sich - zugelassen - ins Positive wendet, die Pausen, Lücken und Zwischenräume eröffnet. Das wäre eine „weltvertrauende Müdigkeit“, die, wie Gott es Hiob zeigt, dazu verhülfe, vom Ich wegzuschauen und hinzublicken auf die große, bunte Welt. Man käme darin ins Schauen und Lauschen, man sähe darin und würde gesehen, berührte und würde berührt. Etwas davon mag Hiob erahnt haben, wenn er zu Gott sagt, dass er ihn doch wenigstens gelegentlich einfach in Ruhe lassen soll, damit er die Müdigkeit des Tagelöhners nach getaner Arbeit erfahren kann. Wenn man zur Ruhe kommt nach getaner Arbeit, dann kann dies auch ein befriedigendes Gefühl hervorrufen, das Empfinden, etwas geschafft zu haben und jetzt loslassen zu können. Am Schönsten ist es, wenn man diese Müdigkeit mit anderen teilen kann, wenn sie zu einer „Wir-Müdigkeit“ wird mit anderen, die an der Arbeit beteiligt waren.
An vielen Stellen erzählt die Bibel von der Tradition des Sabbat, von der Müdigkeit der Sabbat-Gesellschaft mit ihrer Kultur des Aufhörens, der Unterbrechung, des Nicht-Tuns, des Lassens mindestens an einem Tag der Woche. Und die Bibel erzählt auch von der Pfingstgesellschaft, wie sie müde und erschöpft zusammen saß nach der großen Krise nach Jesu Verschwinden und wie sie gerade in dieser Müdigkeit offen war, den Geist Gottes zu empfangen. Sabbat-Gesellschaft und Pfingstgesellschaft sind Modelle, die unserer Aktivgesellschaft diametral entgegen gesetzt sind.
Für geschäftige Vielflieger und betriebsame Leistungsträger wie den, von dem ich eingangs erzählt habe, gäbe es auch noch einen alternativen Umgang mit der durch ihr Reisen und ihre Geschäftigkeit bedingten Müdigkeit. Peter Handke erzählt, wie er nach langwierigem Nachtflug völlig übermüdet in New York landete. Statt sich im Hotel schlafen zu legen, ging er in den Central Park, setzte sich ins Café in die Frühherbstsonne und tat stundenlang nichts anderes als sitzen und schauen. Darin erfuhr er eine Verwandlung. Unweit toste der Verkehr und vor seinem Auge gingen unerhört schöne Frauen vorbei. „Aber keine Idee, daß wir, eine von ihnen und ich, darüber hinaus miteinander etwas anfingen; ich wollte nichts von ihnen, es genügte mir, ihnen endlich einmal so zuschauen zu können… Das Schauen dieses Müden war eine Tätigkeit, es tat etwas, es griff ein: die Akteure des Spiels wurden besser durch es, noch schöner – zum Beispiel, indem sie sich vor solchen Augen mehr Zeit ließen. Dieser langsame Lidschlag ließ sie gelten – brachte sie zu ihrer Geltung. Dem dergestalt Schauenden wurde von der Müdigkeit seinerseits das Ich-Selbst, das ewig Unruhe stiftende, wie durch ein Wunder von ihm weggenommen…: das selbstlose Schauen wurde tätig weit über die schönen Passantinnen hinaus, bezog ein in sein Zentrum der Welt alles, was lebte und sich regte.“ (Peter Handke, Versuch über die Müdigkeit, in: Die drei Versuche, Ffm. 2001 S.39)
Pfarrer Klaus Pantle, Stuttgart (klaus.pantle@t-online.de)
Predigt über Hiob 14,1-6 am Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe,
geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!
Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann:
Schau weg von ihm! Lass ab, damit er sich seines Tages freue wie ein Tagelöhner.
1
Müde. Er war einfach nur müde. Am liebsten würde auf dem Sofa liegen bleiben und versinken in eine stille Dunkelheit. Seit langem schlief er schlecht. Seine Gedanken kreisten immer um dieselben Themen. Wie ein Krake hielt die Krankheit ihn in ihren Fängen und verstärkte unbarmherzig den Druck. Dieser Schrecken, der sonst alte Männer ergriff und am Ende aus dem Leben schüttelte, hatte ihn im fünfzigsten Lebensjahr erwischt, mitten in einer seiner schlimmsten beruflichen Krisen. Er hatte immer viel gearbeitet. Fraglos war er ehrgeizig. Nach Gesellenprüfung im Handwerk, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg und technischem Studium, hatte er sich spezialisiert auf den Betrieb hochkomplexer Maschinenanlagen und im Laufe der Jahre bei wechselnden Arbeitgebern hochgearbeitet. Seine Arbeitskraft war begehrt. Er reiste rund um die Welt, wo er in Sechzehnstunden-Arbeitstagen für seine Arbeitgeber fast schon abgestürzte Riesenprojekte rettete. Gesehen hatte er von dieser Welt außer Fabrikhallen und Hotels wenig. Gesundheitsförderlich war das nicht und auch nicht beziehungs- und familienfreundlich. Einmal war er für ein Jahr von zu Hause aus-, dann wieder eingezogen. Seine Frau und er mochten sich immer noch, aber die Leichtigkeit, die einst zwischen ihnen herrschte, hatte sich in eine Leere verwandelt. Der Sohn studierte und war außer Haus, die Tochter besuchte die 12. Klasse, das kostete, wie das Haus, das sie gebaut und noch nicht abbezahlt hatten. Sein beruflicher Abstieg war schleichend verlaufen. Mit zunehmendem Alter war seine Bereitschaft, sich alle Zumutungen von Seiten des Arbeitgebers bieten zu lassen, gesunken. Plötzlich galt er als schwierig und eines Tags fand er sich – eben noch gelobt für seine letzte Rettungstat in Brasilien – zu seiner Verblüffung vom neuen Chef gekündigt. Sein Anwalt schlug eine hohe Abfindung heraus, aber seine Branche kriselte. Es verbrachte ein halbes Jahr voller Panik, bis er eine neue Stelle fand. Die war schlechter als seine vorhergehenden. Trotzdem stürzte er sich in die Arbeit und spürte, wie sie ihn auslaugte. Von Jugend an hatte er Sport getrieben, war gelaufen, mehrmals sogar Marathon, Fahrrad gefahren und hatte Alpen-Gipfel erklommen. Die Müdigkeit danach genoss er. Das waren die einzigen kurzen Ruhepausen, in denen er sich entspannt fühlte.
Jetzt zwang ihn sein Körper zur äußeren Ruhe, die er innerlich nicht ertrug. Im Betrieb wurden schon seltsame Fragen gestellt. Warum er hinkte, ob er sich beim Sport verletzt hatte? Einige Jahre musste er noch durchhalten als Alleinverdiener, obwohl er wusste, dass seine Prognose miserabel war. Freunde bräuchte er, aber wer Freundschaften über so viele Jahre so lausig pflegte wie er? Jetzt lag er auf dem Sofa, so müde, dass selbst die Panik im Blick auf die Frage, was kommt, verschwunden war. Was war das für ein Scheißleben? Wofür hatte er sich so angestrengt? Für einen Arbeitgeber, die ihn ausgepresst hatte wie eine Zitrone und dann weggeworfen? Für das blöde Haus, für die Kinder, die er liebte und auf die blickte wie auf Fremde, die sich hinter einer Milchglasscheibe bewegten? Für sein Ego, um sich und anderen zu beweisen, dass er, der aus bescheidenen Verhältnissen stammte, „es konnte“ und zu „etwas gebracht“ hatte? Um als Wrack zu enden und an einer scheußlichen Krankheit auf scheußliche Weise zugrunde zu gehen? Müde. Er war einfach nur müde. Am liebsten würde auf dem Sofa liegen bleiben und versinken in eine stille Dunkelheit.
2
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Blicken wir uns um in unserer Stadt, dann sehen wir eine Menge sogenannte Leistungsträger, die sich bewegen zwischen Fitnessstudios, Bürokomplexen, Banken, Fabrikhallen, Flughäfen und Shopping Centren. Diese Leistungsträger sind Unternehmer ihrer selbst in einer Arbeitswelt, die auf Eigenmotivation, Initiativgeist und Selbstverantwortung setzt. Es geht darum, ihre Leistung und Produktivität ständig zu steigern. Sie zu halten ist schon zu wenig. In ihren Lebens- und Arbeitsprozessen reagieren sie nach Möglichkeit sofort auf jede Anfrage, jede Anforderung, jeden Impuls. Zögern, Abwägen, Pausen, Unterbrechungen werden in dieser Welt als Störungen betrachtet. Rasant beschleunigte Kommunikation und permanente Erreichbarkeit gehören dazu. Man muss möglichst vieles gleichzeitig erledigen in diesem Wirbel an Reizen, Informationen und Impulsen. Das erfordert eine spezielle Aufmerksamkeitstechnik. Man kann sich nicht mehr auf eine einzelne Aufgabe oder auf etwas Elementares Nichtgeschäftliches wie das Essen oder das Lieben konzentrieren. Alles, was einen betrifft oder betreffen könnte muss man nebenher im Blick und im Kopf haben, um gegebenenfalls sofort zu reagieren. Diese Aufmerksamkeitstechnik, die heute erwartet wird, gleicht der, die unerlässlich ist für Tiere zum Überleben in der Wildnis. So konditioniert wird der Mensch als ganzer zur Leistungsmaschine, die fortwährend läuft. Als Kehrseite sind exzessive Müdigkeit und Erschöpfung fast zwangsläufige Folgen. Nicht nur für einzelne, für viele ist Erschöpfung zu einem Grundzustand ihres Daseins geworden. Es ist nicht nur so, dass viele Menschen in unserer Stadt in dieses System der Leistungsgesellschaft gar nicht erst hineinfinden. Ist man drinnen, fällt man leicht aus ihm heraus.
Zeittypische Krankheiten sind heute psychische Infarktkrankheiten, die durch Überforderung hervorgerufen werden: Depression, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Borderline-Persönlichkeitsstörung und das, was man als Burnout bezeichnet, was ich lieber Erschöpfungsdepression nenne. Leistungsträger müssen Können können. Können sie nicht mehr Können, brechen sie ein, verzweifeln an sich selbst, stürzen ab in Depression. Permanenter Leistungsdruck führt zu Einsamkeit und Bindungsarmut. Kommt es zum Infarkt der Seele, erfährt man sich isoliert.Es ist eine böse, eine „entzweiende Müdigkeit“, eine „Alleinmüdigkeit“, die das zur Folge hat. Solche Müdigkeit schlägt den Menschen „mit Blickunfähigkeit und Stummheit“. Sie brennt ihm „das Sprechenkönnen aus der Seele aus“ (Peter Handke).
3
Hiob kann wenigstens noch sprechen. Seine Erschöpfung fasst er in Worte und seine Resignation wird zur Klage. Was ist das menschliche Leben? Nichts als vergebliche Mühe und Arbeit, Sorge und Qual. Am Ende steht der Tod. Hiob musste sich darüber wenigstens nicht selbst anklagen. Gott hält er vor, dass er für dieses fatale Schicksal des Menschen verantwortlich ist und den bedauernswerten Menschen im Laufe seiner irdischen Existenz (eine andere gibt es für Hiob nicht) fortwährend schikaniert und ihm nicht einmal kurze Momente der Ruhe gönnt.
Und Hiob bekommt wenigstens auch eine Antwort auf seine Klagen. Am Ende seiner Litanei antwortet ihm Gott in zwei großen Reden. Gott hält ihm darin die ganze große weite Welt vor Augen. Es ist eine bunte Welt, und diese farbige Welt kann keine heile Welt sein. Wo es Löwen gibt, brauchen die auch Futter. Der Löwe muss nicht Gras fressen in dieser Welt. Wo es Sonne gibt, muss es auch Regen geben, sonst würde aus der Erde nichts wachsen, und somit existieren auch Hagel und Sturm. Die Welt ist herrlich und schrecklich zugleich. Sie ist voller Widersprüche. Aber sie ist nicht als Ganzes Chaos, nur weil Hiob den Zustand der Welt an seinem momentanen individuell schlechten Ergehen bemisst. Zum Leben in dieser Welt gehört das Glück genauso wie das Unglück. Das eine gibt es nicht ohne das andere. (Wäre ein Leben ohne Liebeskummer ein besseres Leben?) Damit rechtfertigt Gott nicht das Böse, auf das er Hiob auch hinweist, wenn er in seiner zweiten Rede auf die mythischen Gottesfeinde, Behemot und Leviathan, mit ihrer vernichtenden Gewalttätigkeit verweist. Deshalb muss Hiob unterscheiden lernen: Es gibt erträgliches Leiden und unerträgliches Leiden. Es gibt Leiden, das man in sein Leben integrieren kann und Leiden, das das Leben zerstört. Das eine hat man. Das andere hat einen. Und das letzte ist und bleibt böse und sinnlos. Die Welt ist ein Ort voller gelebter Solidarität und Liebe. Und sie ist ein Ort des Fressens und Gefressenwerdens. Gott garantiert keine heile Welt, wohl aber, dass diese Welt nicht im Chaos versinkt und der Einzelne auch nicht. Hiobs Leiden haben keinen Sinn. Aber am Ende des Buches wird vom Ende des momentanen individuellen Leiden Hiobs erzählt und davon, dass Hiob wieder zurück findet in ein glückliches, sozial intaktes Leben. Ob der „kranke“ Hiob wieder körperlich ganz gesund wird, davon ist nicht die Rede. Nur davon, dass dieser „Fall Hiob“ ein gutes Ende erfahren hat.
4
Insofern zeigt auch uns das Hiob-Buch im Gesamten etwas zeitlos Wesentliches: Man muss die Welt im Ganzen betrachten. „Die Welt ist herrlich – die Welt ist schrecklich. Es kann mir nichts geschehen – ich bin in großer Gefahr“ (Helmut Gollwitzer). Diese doppelte Wirklichkeit, die ich manchmal nebeneinander oder gar ineinander erfahre, muss ich aushalten. Neben dem Schlechten, das ich erleide, gilt es, das Gute und Schöne, das es auch gibt, nicht aus dem Blick zu verlieren.
So könnte man es auch mit der Müdigkeit in unserer „Müdigkeitsgesellschaft“ (Byung-Chul Han) halten. Denn es gibt ja nicht nur die zerstörerische „Alleinmüdigkeit“. Daneben gibt es auch eine gesunde Müdigkeit, eine Müdigkeit, die sich - zugelassen - ins Positive wendet, die Pausen, Lücken und Zwischenräume eröffnet. Das wäre eine „weltvertrauende Müdigkeit“, die, wie Gott es Hiob zeigt, dazu verhülfe, vom Ich wegzuschauen und hinzublicken auf die große, bunte Welt. Man käme darin ins Schauen und Lauschen, man sähe darin und würde gesehen, berührte und würde berührt. Etwas davon mag Hiob erahnt haben, wenn er zu Gott sagt, dass er ihn doch wenigstens gelegentlich einfach in Ruhe lassen soll, damit er die Müdigkeit des Tagelöhners nach getaner Arbeit erfahren kann. Wenn man zur Ruhe kommt nach getaner Arbeit, dann kann dies auch ein befriedigendes Gefühl hervorrufen, das Empfinden, etwas geschafft zu haben und jetzt loslassen zu können. Am Schönsten ist es, wenn man diese Müdigkeit mit anderen teilen kann, wenn sie zu einer „Wir-Müdigkeit“ wird mit anderen, die an der Arbeit beteiligt waren.
An vielen Stellen erzählt die Bibel von der Tradition des Sabbat, von der Müdigkeit der Sabbat-Gesellschaft mit ihrer Kultur des Aufhörens, der Unterbrechung, des Nicht-Tuns, des Lassens mindestens an einem Tag der Woche. Und die Bibel erzählt auch von der Pfingstgesellschaft, wie sie müde und erschöpft zusammen saß nach der großen Krise nach Jesu Verschwinden und wie sie gerade in dieser Müdigkeit offen war, den Geist Gottes zu empfangen. Sabbat-Gesellschaft und Pfingstgesellschaft sind Modelle, die unserer Aktivgesellschaft diametral entgegen gesetzt sind.
Für geschäftige Vielflieger und betriebsame Leistungsträger wie den, von dem ich eingangs erzählt habe, gäbe es auch noch einen alternativen Umgang mit der durch ihr Reisen und ihre Geschäftigkeit bedingten Müdigkeit. Peter Handke erzählt, wie er nach langwierigem Nachtflug völlig übermüdet in New York landete. Statt sich im Hotel schlafen zu legen, ging er in den Central Park, setzte sich ins Café in die Frühherbstsonne und tat stundenlang nichts anderes als sitzen und schauen. Darin erfuhr er eine Verwandlung. Unweit toste der Verkehr und vor seinem Auge gingen unerhört schöne Frauen vorbei. „Aber keine Idee, daß wir, eine von ihnen und ich, darüber hinaus miteinander etwas anfingen; ich wollte nichts von ihnen, es genügte mir, ihnen endlich einmal so zuschauen zu können… Das Schauen dieses Müden war eine Tätigkeit, es tat etwas, es griff ein: die Akteure des Spiels wurden besser durch es, noch schöner – zum Beispiel, indem sie sich vor solchen Augen mehr Zeit ließen. Dieser langsame Lidschlag ließ sie gelten – brachte sie zu ihrer Geltung. Dem dergestalt Schauenden wurde von der Müdigkeit seinerseits das Ich-Selbst, das ewig Unruhe stiftende, wie durch ein Wunder von ihm weggenommen…: das selbstlose Schauen wurde tätig weit über die schönen Passantinnen hinaus, bezog ein in sein Zentrum der Welt alles, was lebte und sich regte.“ (Peter Handke, Versuch über die Müdigkeit, in: Die drei Versuche, Ffm. 2001 S.39)
Pfarrer Klaus Pantle, Stuttgart (klaus.pantle@t-online.de)
Perikope