Nora sucht den Weihnachtsfrieden
Liebe Gemeinde,
letztes Jahr im Januar, nach den stillen Tagen der Jahreswende, fand ich in meinem Briefkasten einen großen Umschlag, der mit roten Herzen, Sternen und grünen Tannenzweigen bemalt war. Ein Absender fehlte. Ich legte den Umschlag zuerst beiseite. Erst abends fand ich Zeit, den Brief zu öffnen. Als ich ihn gelesen hatte, war ich so gerührt, daß ich beschloß, den Brief aufzubewahren. Ich nahm mir vor, ihn in diesem Jahr im Weihnachtsgottesdienst vorzulesen:
„Hallo zusammen! Ich bin Nora. Meine Mama nennt mich: mein liebes Noralein, aber nur, wenn sie mich besonders liebhat oder ich sehr, sehr nett zu ihr bin. Nicht immer habe ich Lust, nett zu sein. Viel zu langweilig. Ich bin sieben Jahre alt und habe rote Haare, die ich am liebsten in Zöpfen trage. Das heißt, wenn Mama Zeit hat, sie mir zu flechten.
Und wenn es kalt ist, ziehe ich am liebsten meinen quietscheorangenen Anorak an, dazu knallgelbe Gummistiefel. Mamilein sagt dann: Dich kann niemand übersehen.
Neulich, an Heiligabend war es eiskalt. Draußen schneite es leicht. Mamilein und Papa waren mit Geschenkepacken beschäftigt. Meine älteren Geschwister hängten Lametta und rote Kugeln an den duftenden Tannenbaum.
Meine Schwester sagte: Hau ab, ich will nicht, daß du überall störst. Da war sie aber bei mir an der falschen Adresse: Du kannst dir ja das Lametta in die Haare flechten! Und die Kugeln an die Ohren hängen! Und ich drehte ihr eine Nase.
Dann achtete keiner mehr auf mich. Da war es leicht, mich davonzuschleichen. Ich mußte nämlich unbedingt etwas ausprobieren.
Ich wollte herausfinden, ob das mit Weihnachten stimmt. Vor drei Wochen hatte uns unsere Lehrerin, die nette Frau Sommerbier, eine Hausaufgabe gegeben. Wenn Frau Sommerbier Hausaufgaben gibt, finde ich sie gar nicht mehr so nett.
Die Frage lautete: Wieso ist dir Weihnachten wichtig?
Ich mußte nicht lange nachdenken. Ich beschloß, den Aufsatz selbst zu schreiben anstatt meine peinliche Schwester mit den Weihnachtskugeln am Ohr zu fragen.
Ich schrieb also: ‚Waihnachtehn ist mir wichtig, weil ich viele Geschenke bekommen will. An Waihnachtehn kommen Oppa und Omma zu Besuch. Dann essen wir zusamhen Würstchen mit Kahtoffelsalat. Danach gibt mir Omma die Geschenke, die ich mir gewünscht habe. Manchmal ärgert sich Papa an Waihnachtehn, weil wir dauernd unsere Verwandten besuchen müsen. Sagt er. Aber mir gefällt es, die Kassel-Oma und die Köln-Tante zu besuchen. Beide können viel besser spielen als Papa und Mama, besonders die Köln-Tante. Aber es gibt noch etwas, das ist viel wichtiger als die Geschenke. Waihnachtehn ist ein Fest des Friedens. An Waihnachtehn hören alle Streitereien und Kriege auf.‘ So ging es noch weiter.
Ich gab am nächsten Tag das Deutschheft mit dem blauen Umschlag ab. Und drei Tage später gab mir Frau Sommerbier das Heft zurück. Mit roter Tinte hatte sie darunter geschrieben: „Liebe Nora, bitte schreibe das Wort WEIHNACHTEN zwanzig Mal in dein Heft, damit du es endlich lernst. Wir haben das doch viele Male an der Tafel geübt. Du machst zu viele Rechtschreibfehler. Bitte korrigiere alles, was ich angestrichen habe. Was du erzählst, hat mir gefallen. Aber findest Du es nicht übertrieben, daß an Weihnachten alle Menschen Frieden schließen? Sie wünschen sich das vielleicht, aber in Wahrheit ist es mit dem Frieden nicht so weit her.“
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich über das Wort Frieden noch nie richtig nachgedacht. Ich beschloß herauszufinden, ob die Menschen am Heiligen Abend Frieden halten. Ich zog los, zur besten Gelegenheit, am Heiligen Abend. Sollten sich doch die anderen um Krippe, Plätzchen und Weihnachtslieder kümmern.
Ich fror, während ich durch die Straßen ging. Als erstes kam ich zum Weihnachtsmarkt mitten in der Stadt. Ich war sehr erstaunt. Die Lichter brannten gar nicht mehr. Die Buden waren alle geschlossen. Ich konnte mir gar keine gebrannten Mandeln kaufen. Dann sah ich einen Mann im blauen Overall, der sich an einer der Buden zu schaffen machte. Er achtete nicht auf mich.
Ich zupfte ihn an seinem Overall und fragte ihn: Was machen Sie denn da? Sind Sie dabei, Frieden zu stiften? Er starrte mich mit offenem Mund an, als ob er eine silberne Weihnachtskugel verschluckt hätte.
Frieden stiften, meinte er. Papperlapapp. Du lenkst mich von der Arbeit ab. Für mich ist Weihnachten vorbei. Viel zu wenig verdient habe ich in diesem Jahr. Jetzt muß ich nur noch abbauen. Wenn du mich nicht weiter ablenkst. Hier nimm einen roten Luftballon und geh weiter.
Ich lief zehn Schritte weiter und dachte über den schlecht gelaunten Mann nach. Der war ja schlechter gelaunt als Papa, wenn er Mama von der Gymnastik abholen muß.
Das alles beobachtete ein anderes Kind, ein Junge, mit schwarzem Haar und einem schäbigen blauen Anorak. Er winkte, und ich ging hinüber zu ihm.
Ich fragte ihn: Wie heißt Du? Aber er antwortete nicht. Er sah mich nur aus großen Augen an. Ich fragte: Sprichst du Deutsch?
Wo ist deine Familie?
Wo wohnst Du?
Hast du den Frieden an Weihnachten gesehen?
Aber er beantwortete keine meiner Fragen. Er schwieg und lächelte scheu.
Als ich schon gehen wollte, nahm er mich an der Hand. Er führte mich ein paar Straßen weiter. Eigentlich lasse ich mich nicht gerne an der Hand führen, besonders nicht von Mamilein, wenn sie es eilig hat. Aber in diesem Fall machte ich eine Ausnahme. Ich befand mich ja auf der Suche nach dem Weihnachtsfrieden. Ich wollte auf keinen Fall, daß Frau Sommerbier recht behält.
Der Junge führte mich zu einem großen Haus, das hell erleuchtet war. Er murmelte etwas, was ich nicht verstand, aber ich folgte ihm weiter. In einem großen Raum saßen vielleicht zehn alte Damen, noch viel älter als die Kassel-Oma. Die meisten hatten einen Latz um den Hals. Den Jungen schienen sie zu kennen, denn manche hoben ganz leicht ihre Hand. Sie begrüßten ihn mit einem Winken.
Ich hob auch die Hand. Es sollte aussehen wie ein Winken, aber ich war mir nicht sicher. In dem Raum standen ein Adventskranz und ein Weihnachtsbaum, beide mit elektrischen Kerzen. Ich ging zu einer alten Frau und fragte Sie: Weißt Du, wo ich den Weihnachtsfrieden finde? Sie lächelte mich an, aber sie sagte kein Wort. Sie hatte so viele Runzeln und Falten im Gesicht. Sie ergriff meine Hand und streichelte sie. Das war alles. Und ich störte mich gar nicht daran.
Kannst Du nicht reden, fragte ich. Aber ich erhielt keine Antwort. Ich holte der Frau ein Plätzchen, das in einer bemalten Schale auf dem Tisch lag. Da nahm sie mich in den Arm, und ich durfte mich auf ihren Schoß setzen. Der Junge, mein neuer Freund, saß bei zwei anderen Frauen. Nach einer Viertelstunde waren die Plätzchen gegessen. Wir winkten nochmals und gingen.
Ich brachte meinen neuen Freund zum Bahnhof, vier oder fünf Straßen weiter. In der großen Halle stand ein Chor und sang Weihnachtslieder. Aber die wenigen Reisenden beachteten den Chor gar nicht.
Danach sprach ein Mann in einem langen schwarzen Kleid, mit einem weißen Lätzchen am Hals. Das Lätzchen war so klein, das hätte keinen Saucenfleck verhindert. Der Mann im schwarzen Abendkleid redete vom Christkind, vom Weihnachten, von den Hirten. Er sprach auch vom Frieden. Aber ich verstand nicht, was er sagen wollte.
Als wir gingen, winkten wir noch einmal in Richtung des Chors, und einige der Sänger winkten zurück.
Ich wollte mich auf den Heimweg machen. Mein neuer Freund wich nicht von meiner Seite. Wir kamen an dem Festplatz vorbei, wo jetzt das große Zelt für die Flüchtlinge aufgebaut ist. Davor standen zwei Polizeiautos mit blinkenden Lichtern.
Mein Freund zog mich in Richtung des Zeltes. Er brachte mich durch den Eingang, der offen stand, zu seiner Familie. Dort warteten schon mehrere Polizisten, meine Eltern, meine Geschwister und eine andere Familie. Mein Mamilein war in Tränen aufgelöst und schloß mich in ihre Arme: Nora, ich bin so froh, daß wir dich wiederhaben.
Im Hintergrund sagte der Polizist: Wir hatten zwei Vermißtenmeldungen. Ein Mädchen mit einem orangenen und ein Junge mit einem blauen Anorak. Dann rief uns die Schwester aus dem Pflegeheim an, daß beide dort die alten Damen besucht hatten.
Ich sagte: Ich bin doch nicht verlorengegangen. Ich habe nur den Weihnachtsfrieden gesucht. Wegen des Aufsatzes in der Schule und wegen des Kommentars von Frau Sommerbier.
Mein Vater fragte: Wieso kommst du jetzt auf Frau Sommerbier? Du hast doch Ferien.
Um mich herum herrschte plötzlich große Aufregung. Stimmen drangen von überall auf mich ein: Das arme, arme Kind. Sie als Eltern sollten besser aufpassen. Ich hörte auch Wörter in fremden Sprachen, die ich nicht verstand. Meine Schwester sagte: Die will doch nur mehr Geschenke haben.
Ganz hinten standen die Eltern des Jungen mit dem blauen Anorak. Der Junge hieß Nadim. Seine Eltern kommen aus Syrien, erklärte mir eine Frau in einer blauen Uniform.
Mir wurde das alles zu viel. Ich setzte mich auf einen Hocker, zog mir den Anorak über den Kopf und fing an zu weinen: Ich wollte doch nur den Weihnachtsfrieden suchen.
Ich schluchzte. Und es dauerte eine Weile, bis das Stimmengewirr nachließ. Dann holte sich der Kassel-Opa, der Ehemann der Kassel-Oma, der auch mitgekommen war, einen Stuhl und legte den Arm um mich.
Er sagte: Liebe Nora, ich finde es wunderbar, daß du den Weihnachtsfrieden suchst. Aber wir haben uns alle Sorgen gemacht um dich, weil wir nicht wußten, wo du bist. Die Polizei, deine Eltern und die Eltern von Nadim haben euch beide gesucht. Wir dachten an ganz Schlimmes.
Er fuhr fort: Weihnachten besteht nicht nur aus Geschenken, dem Tannenbaum und einem guten Essen, fuhr er fort. Wir wünschen uns alle Frieden auf Erden, wie es der Engel den Hirten gesagt hat. Aber wir alle fühlen uns manchmal ohnmächtig. Wir wollen Frieden, aber wir tun zu wenig dafür. Wir merken manchmal, daß wir das mit dem Frieden aus eigener Kraft nicht schaffen. Deswegen haben wir ganz große Sehnsucht danach. Wir bringen diese Sehnsucht vor Gott. Und wir sind überzeugt: An Weihnachten wird das Jesuskind geboren, um uns Menschen den Frieden zu bringen.
Und Großvater fragte: Was ist Frieden? Frieden, das sind lauter Kleinigkeiten. Du gibst der greisen Frau im Pflegeheim ein Plätzchen. Du singst in der Bahnhofshalle: O du fröhliche. Du befreundest dich mit einem Flüchtlingsjungen, dessen Sprache du nicht verstehst. Gott wird ein Kind, damit wir dann erkennen, wenn wir anderen Menschen etwas Gutes tun. Und das kann eine Kleinigkeit sein.
Das ist der Weihnachtsfrieden. Und wir hoffen, daß der kleine Weihnachtsfrieden immer weiter wächst. Daß Gott Frieden stiftet, damit wir ihn weitergeben können. Das Kind in der Krippe erinnert uns daran. Meine Gedanken, liebe Nora, sind vielleicht ganz kindlich und naiv.
Aber glaube einem alten Mann wie mir: Diesem kleinen Kind in der Krippe werden nur kindliche Gedanken gerecht. Handeln und Denken für den Frieden.
Mittlerweile war es ganz still geworden. Alle hörten meinem Großvater zu. Die anderen Gespräche waren verstummt. Und er hörte auf mit Reden, und ich umarmte ihn. Und er umarmte mich.
Von irgendwoher hörte ich das Schlagen von Kirchenglocken.
Wir blieben an diesem Abend in dem Zelt und feierten gemeinsam, mit Nadims Familie, mit den Helfern und den beiden Polizisten.
Ich dachte: Ich habe einen kleinen Zipfel des Weihnachtsfriedens gefunden. Ich will ihn nie wieder loslassen.“
Damit ging der Brief zu Ende. Liebe Gemeinde, Nora erklärte mir dann noch etwas umständlich, wieso sie am Heiligen Abend nicht zum Krippenspiel kommen konnte. Aber das war mir nicht mehr wichtig. Nora hatte den Weihnachtsfrieden an einem anderen Ort gefunden. Ich war froh darum und mir gefiel das sehr.
Ich hoffe, das rührt Sie so wie mich das gerührt hat.
Amen.