Nur ein Traum? - Predigt zu Sach 8,20-23 von Sonja Wiedemann
8,20-23

Nur ein Traum?

Liebe Gemeinde,
um mich sind Menschen. Sie stehen in der Hitze der Sonne auf dem beige-gelb leuchtenden, riesigen Platz. Wortfetzen verschiedenster Sprachen fliegen durch die Luft. Koreanisch, Arabisch, Englisch, Griechisch, Russisch. Alle sind sie hierhergekommen, weil sie diesen Ort sehen möchten. Ob sie selbst beten oder nur aus Neugier gekommen sind, ist dabei nicht wichtig. Es ist eine Faszination, die sie und alle anderen, die über Jahrhunderte hierher angereist sind, verbindet: Die Faszination, die diese Wand, die Westmauer des lange zerstörten Tempels, in christlichen Kreisen auch „Klagemauer“ genannt, auf die Menschen ausstrahlt. Manche sind selbstbewusst, berühren die Steine mit den Händen. Manche stecken kleine Zettelchen hinein. Die, die vorne stehen, laufen rückwärts zurück – man soll schließlich dem Heiligtum und damit Gott nicht den Rücken zudrehen. Manche stehen weiter hinten und beobachten die anderen beim Beten. Manche sind überfordert mit der Besonderheit dieses Ortes. Und doch wurden sie alle angezogen von der Kraft, die dieses Heiligtum, diese Stadt ausmacht. Die so viele ins Heilige Land zieht.

Safe Space

Es ist ein jüdischer Safe Space mitten in der Altstadt Jerusalems. Die Muezzin-Rufe sind hier leiser als anderswo, auch die Kirchenglocken sind nicht so dominant wie draußen in den Gassen. Während jüdische Menschen in der arabischen Altstadt eine Minderheit, ja aus politischen Gründen gar eine Provokation darstellen, sind sie hier die dominierende Gruppe: Kippaträger mit und ohne Schaufäden neben den Beinen, mit und ohne Schläfenlocken. Jüdische Frauen in bodenlangen Röcken, mit und ohne bunten Tüchern auf dem Kopf. Ganz in schwarz, mit Hut oder als Soldat*innen in Uniform, das Maschinengewehr lässig über die Schulter geworfen. Hier fühlen sie sich sicher. Nur 2 Meter Luftlinie von hier, auf der anderen Seite der Western Wall, sind sie nicht mehr sicher: Jüdische Menschen haben Zutrittsverbot auf dem muslimisch dominierten und kontrollierten Tempelberg. Aber der Platz westlich der Mauer ist ihr Bereich. Der Bereich, wo Menschen anderer Religionen ihnen interessiert beim Beten zuschauen, fasziniert von der Institution Judentum.

So spricht der HERR Zebaoth: Es werden noch Völker kommen und Bürger vieler Städte.

Ausgeträumt!

Nach dem 7. Oktober des vergangenen Jahres war es fast leer an der Western Wall. Keine Fetzen verschiedener Sprachen, keine Rufe. Nur die leisen Gebete derjenigen, die in Jerusalem wohnen und täglich an die Klagemauer kommen. Der 7. Oktober 2023 ist ein Einschnitt in der Geschichte des Volkes und des Staates Israels. Denn was an diesem Tag passiert ist, zeigt, dass die Friedensvision des Sacharja noch lange nicht die Realität widerspiegelt.

Und die Bürger der einen Stadt werden zur andern gehen und sagen: Lasst uns gehen, den HERRN anzuflehen und zu suchen den HERRN Zebaoth; wir wollen mit euch gehen.

Liebe Gemeinde,

dieser biblische Text ist eine Wunschvorstellung. Eine Hoffnung, dass sich auch andere zum Gott Israels bekehren mögen. Dass das Volk Israel von anderen Völkern bewundert wird, ihr Gottvertrauen als Vorbild gilt. Ganz ohne missionarische Bemühungen, die dem Judentum bis heute fremd sind. Niemand wird zum Glauben Israels gedrängt, niemand wird überredet. Die Menschen der anderen Völker, anderer Sprachen kommen aus freien Stücken, aus eigener Überzeugung nach Jerusalem, um Israels Gott zu verehren. Dieser Text gehört jedoch in eine Zeit, in der das ganz und gar nicht so war. In der die Perser über Israel herrschten. Eine Zeit, in der die Anhänger*innen des Volkes Israel immerhin ihre Religion frei ausüben durften. Aber dass Menschen aller Nationen nach Jerusalem kommen, um mit Israel ihren Gott anzubeten, ist damals wie heute keine Realität.

Ein paar Zahlen

So werden viele Völker und mächtige Nationen kommen, den HERRN Zebaoth in Jerusalem zu suchen und den HERRN anzuflehen.

Denn die meisten, die kommen, gehen zwar aus Interesse auch mal zur Klagemauer. Aber das Ziel ihrer Reise ist für die allermeisten nicht die Klagemauer, sondern die Grabeskirche. 2,6 Milliarden Christ*innen gibt es auf der Welt. 16,8 Millionen Juden. Im Jahr 2024 sind es ungefähr so viele wie vor der Shoah. Auf eine Jüdin kommen heute weltweit 155 Christinnen.

So spricht der HERR Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.

In der Welt leben heute über 8 Milliarden Menschen. 16,8 Millionen davon sind jüdisch. 2 Prozent der Weltbevölkerung sind jüdisch. Von einer Faszination am Judentum der restlichen 98 Prozent ist momentan wenig zu spüren. Schon gar nicht hängen 10 Anhängerinnen anderer Religionen am Rockzipfel einer Jüdin. Vielmehr sehen sich diese 98 Prozent seit dem 7. Oktober mehr denn je im Recht, Gewalt auszuüben. Jüdische Menschen, die überwiegend nicht mal in Israel leben, werden verantwortlich gemacht für die Gräueltaten im Gazakrieg. Vom anfänglichen Mitgefühl nach dem schrecklichen Angriff der Hamas, wenn es denn da war, ist nichts mehr übrig. Anstatt jüdischen Menschen am Rockzipfel zu hängen und ihnen hinterherzulaufen, werden sie auf der Straße brutal zusammengeschlagen.

Christlicher Minderheitenschutz

Liebe Gemeinde,
heute ist Israelsonntag. Der Tag im Jahr, der Christ*innen an die bleibende Erwählung des Volkes Israel erinnert. Der darauf aufmerksam macht, dass unsere Religion aus einer anderen hervorgegangen ist. Die uns hier in dieser Kirche daran erinnert, dass wir ohne das Fundament von Volk und Gott Israels nicht hier wären. Jesus Christus gehörte diesem Volk an, all seine Jünger*innen, Paulus. Sie alle sind mit der jüdischen Kultur aufgewachsen. Unser Beten, Singen, Essen geht aus dieser Kultur, aus diesem Glauben hervor. Ja, es kam bei der Entstehung des Christentums schnell zu Abgrenzungen. Abgrenzungen, die in den folgenden Jahrhunderten immer wieder in Gewalt umgeschlagen sind. Die Israel-Sonntage ermahnen uns Christ*innen, dass wir freundlich, respektvoll und bescheiden zu unserer Schwesterreligion sein sollen, die uns begleitet und geprägt hat, seit unsere christliche Kultur in den Kinderschuhen steckte.
Antisemitismus ist kein neues Phänomen. Aber er tritt alle paar Jahrhunderte im neuen Gewand auf. Mittlerweile werden jüdische Menschen nicht mehr beschuldigt, die Brunnen zu vergiften und nachts Kinder zu töten. Durch viel Aufklärungsarbeit ist es sogar nicht mehr Konsens, dass sie für den Tod Jesu verantwortlich sind. Neue Formen von Antisemitismus stellen aber den Staat Israel in Frage und machen die jüdische Bevölkerung dieser Welt (ja, auch außerhalb Israels und Palästinas) für die Kriegsverbrechen in Gaza verantwortlich. Seit dem 7. Oktober führt uns die Weltbevölkerung eindringlicher als in den letzten 79 Jahren vor Augen, dass diese zwei Prozent jüdischen Lebens besonders geschützt werden müssen.
So geschützt wie immer. Die kleinen Königreiche Israel und Juda waren dauernd strategisches Gebiet, ständig Schauplätze von Eroberungen durch Ägypten, Assur, Syrien und andere Großmächte ihrer Zeit. Andere Nationen waren daher immer gefährlich, brachten fast immer Not und Leid über die Menschen. Der Predigttext dreht das um: Nicht Gewalt, Machtspiele und Leid kommen mit den anderen Nationen, sondern Bewunderung, Respekt, Frieden. Mitmenschlichkeit. Ein Traum oder doch Hoffnung für die Realität?

Ein Traum

Liebe Gemeinde,
lassen Sie uns mit dem Predigttext träumen. Eine Zukunftsvision entwickeln, die der Sacharjas entspricht – nur eben anders: Es wird eine Zeit kommen, da werden die Waffen schweigen. Da werden zwischenmenschliche Konflikte von Anfang an durch gelingende Kommunikation ausgetragen und behoben. Menschen verschiedener Nationen, Herkunft und Sprache werden sich nicht mit Angst und Misstrauen, sondern mit Freundlichkeit und Wärme begegnen. Gastfreundschaft und Zugewandtheit wird die Welt prägen. Im Gazastreifen, in Jerusalem und in ganz Israel-Palästina werden jüdische und palästinensische Menschen friedlich nebeneinander wohnen, die Kinder werden in dieselbe Klasse gehen und zweisprachig aufwachsen. Die Mauer, die aktuell das Westjordanland von Israel trennt, wird mit großen Baggern eingerissen. Entlang dieser Strecke werden Olivenbäume gepflanzt als Zeichen der ewig andauernden palästinensisch-israelischen Freundschaft. Checkpoints werden zu Begegnungszentren, in denen Jugendliche gemeinsam Sport machen. Tunnel werden zu Kinderspielplätzen. Es wird mehr und mehr interreligiöse Einrichtungen geben, in denen friedlich über Religion und Politik diskutiert wird. Alle werden ihre jeweils eigene Religion ausüben dürfen, weil sie davon selber profitieren und niemand anderem schaden. Toleranz, Respekt und Wertschätzung wird den Nahen Osten prägen. Die Menschheit wird in Frieden leben – be-Esrat Hashem, insh’Allah, mit Gottes Hilfe. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Sonja Wiedemann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine klassische Stadtgemeinde. Die viel zu große Kirche ist fast leer, die meisten sind im Urlaub. Manche haben Bezüge zum gelebten Judentum und kennen Jüd*innen, die meisten gar nicht. Einige haben bereits eine Reise durchs Heilige Land gemacht und haben die Bilder im Kopf, andere malen sie sich aufgrund ihrer Phantasie in den Kopf.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Als stark im jüdisch-christlichen Dialog engagierte Person ist mir der 10. Sonntag nach Trinitatis ein wichtiges Anliegen. Dass der Israel-Sonntag kaum Menschen erreicht, weil fast alle im Urlaub sind, ärgert mich jedes Jahr aufs Neue. Umso schöner sind die Bilder, die aus dem Sacharja-Text in die Predigt gewandert sind.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Vorstellung, dass Menschen anderer Religionen Jüd*innen am Rockzipfel hängen, lässt mich nicht los. Was wäre diese Welt ohne Jahrtausende der Judenverfolgung und des Antisemitismus'? Wie würden wir heute auf den Nahostkonflikt blicken?

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Angedeutete Bilder wurden plastischer, holprige Formulierungen wurden ebener. Vor allem kam viel Bestärkung in einem politisch wie religiös heiklen Themenfeld. Vielen Dank für die Unterstützung!

Perikope
04.08.2024
8,20-23