Das Adventstheater hat begonnen.
Der Vorhang ist auf.
Der erste Akt wurde bereits gespielt
Heute folgt der zweite.
Was erwartet uns?
Erhofftes, Unverhofftes?
Dass der Himmel aufreißt?
Und „Schloss und Riegel“ fallen,
Dass Frieden wird?
Wird düstere Tristesse von einem neuen Schein ausgeleuchtet?
Keine Frage, die Sehnsucht ist da.
Und in der Tat, der zweite Akt ist anders.
Der zweite Advent bietet unerwartetes: One love.
Wo die Liebe ist, Caritas und Amor, Eros und Agape, da ist Gott.
Ersehnte, erhoffte Liebe unter uns Menschen
Und in ihr: Gottes Liebe zu uns Menschen.
Sehen und hören Sie selbst den zweiten Akt unseres diesjährigen Advents:
(Von weiblicher Stimme gesprochen:)
8Hör ich da nicht meinen Liebsten?
Ja, da kommt er auch schon!
Er springt über die Berge,
hüpft herbei über die Hügel.
9Mein Liebster gleicht der Gazelle
oder einem jungen Hirsch.
Schon steht er an unserer Hauswand.
Er schaut durch das Fenster herein,
späht durch das Fenstergitter.
10Mein Liebster redet mir zu:
(Von männlicher Stimme gesprochen:)
»Schnell, meine Freundin,
meine Schöne, komm doch heraus!
11Denn der Winter ist vorüber,
der Regen vorbei, er hat sich verzogen.
12Blumen sprießen schon aus dem Boden,
die Zeit des Frühlings ist gekommen.
Turteltauben hört man in unserem Land.
13Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen.
Die Reben blüh‘n, verströmen ihren Duft.
Schnell, meine Freundin,
meine Schöne, komm doch heraus!
Die Zeit des Frühlings ist gekommen.
Das ist für uns im mitteleuropäischen Dezember nicht so ganz nachvollziehbar.
Und dennoch:
Wer Anfang Dezember der alten Barbartradition folgt und einen Kirsch- oder Forsythien-Zweig in die Vase stellt, darf an Weihnachten Frühlingsblüten erwarten.
Frühlings erwachen – in der Natur,
Frühlings Erwachen – an Weihnachten.
Frühlingserwachen – im Advent.
Frühlings erwachen – weil ersehntes Heil erblüht.
Frühlingserwachen. Das ist auch erotisches Begehren.
So wie es in der biblischen Poesie des hohen Lieds spürbar wird.
Da sprießt es. Es wird geturtelt. Düfte werden versprüht. Früchte reifen.
Da ist körperliches Verlangen und dichterisches Schwelgen.
Nichts Adventliches – so wie wir es kennen und erwarten.
Es fehlt. So scheint es.
Allein das mehrfach wiederholte „Kommen“ lässt eine Verbindung zum Advent erahnen.
Doch in welchem unbewachten Augenblick – so mag man sich fragen –
ist diese Poesie in die Heilige Schrift hineingeschlüpft?
Wer von den Bibelredakteuren hat da nicht aufgepasst?
Einige Kirchenväter taten sich später reichlich schwer damit.
Die Puritaner, züchtige Moralapostel und Gläubige aus den Bibelgürteln dieser Welt machen lieber ein Bogen um dieses Hohelied der Liebe.
Aber schauen wir doch mal, was sich auf der uns vertrauten, traditionellen Adventsbühne sonst abspielt:
Paul Gerhardt dichtet hemmungsfrei:
Nichts, nichts hat dich getrieben
(In deinem liebenden Begehren) -
zu mir vom Himmelszelt
als das geliebte Lieben,
damit du alle Welt
…so fest umfangen
also:
in deine Arme genommen hast.
Und er dichtet er weiter:
Er kommt, er kommt, mit Willen,
ist voller Lieb und Lust,
all Angst und Not zu stillen,
die ihm an euch bewusst.
Das sind:
Sehnsuchtsklänge, Worte eindeutigen Begehrens –
nach Erlösung, nach Befreiung.
Worte der Sehnsucht, nach Amor und Caritas, nach One love, nach erhoffter Rettung.
Nach Aufatmen und Entspannung.
Worte der Sehnsucht, nach Liebe, unter den Menschen seines Wohlgefallens,
in den Straßen und Nachbarschaften, in der Ukraine, in den Elendsvierteln, an Europas Außengrenzen.
Worte der Sehnsucht, dass endlich die dunklen Schatten vom Licht verzehrt sind,
dass Schwere leicht geworden ist,
dass die Zeit angekommen ist,
in der die Träume sich erfüllt haben.
Hauswände durchbrochen
Mauern überwunden
Gitter entfernt
Fenster offen
Gräben zugeschüttet
und Stacheldrähte entfernt sind,
dass Not, Flucht, Krieg, Gewalt und Armut
überwunden sein werden.
Dass es vorbei ist, dass Menschen
entzweit, getrennt, verfeindet sind und
hassen, schießen, gieren und ausbeuten.
Es ist die Sehnsucht des Volkes,
das im Finstern wandelt,
es ist die Sehnsucht der Völker,
die in Dürre verdursten oder durch Überflutungen waten.
Es ist unsere Sehnsucht, die wir genug haben von Krisen.
Es ist die Sehnsucht
einer eingewanderten mittelosen Ährenleserin
namens Ruth,
nach Caritas et Amor
nach täglich Brot und Existenzsicherung
nach menschlicher, körperlicher Nähe
nach einem Retter
nach einem besseren Leben
und nach einer verloren gegangenen Liebe zum Leben.
Das treibt uns Menschen zueinander, in eine Umarmung und zu noch mehr.
da kommt er auch schon
– mein Liebster
sagt sie!
komm doch heraus – meine Schöne,
ruft er
Wand und Gitter
wollen überwunden
und weggenommen werden.
Im aufeinander Zugehen, im Annähern und Näherkommen, von beiden Seiten, auf Augenhöhe.
Im sich Begegnen, da geschieht es, da ereignet sich Gott, da kommt Gott nahe, da kommt Gott auf uns zu,
da ist Gott da.
Sehen wir hin, auf Kleinigkeiten.
Schauen wir hin, auf Unscheinbares.
Seien wir gespannt, auf Überraschendes.
Er springt über die Berge,
hüpft herbei über die Hügel.
er gleicht der Gazelle
Gott ereignet sich,
Gott kommt
da wo Liebe ist, und wo die Liebe Mensch ist, wo Liebevolles passiert.
Da und dort. Weit weg und nah bei uns.
So lasst uns endlich wieder auf den Geschmack kommen,
auf den guten Geschmack und das Gute Schmecken und riechen und hören und uns erfreuen.
Blumen sprießen aus dem Boden,
Turteltauben sind zu hören
Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen.
Die Reben blüh‘n, verströmen ihren Duft.
Gott geschieht, Liebe ereignet sich, Caritas et Amor.
Seltenst in einem großen Ereignis, aber da und dort.
In freier Natur, in der Nacht, in einer Scheune, auf der Suche nach einer neuen Heimat und nach Sicherheit.
Wenn Fußballspieler nicht singen und andere die Hand vor den Mund halten.
Gott geschieht, Liebe ist da:
In uns, als angenommene, bejahte Wesen. Indem wir selbst andere annehmen, lieben, den Frieden fertigen und Gerechtigkeit üben.
So erwacht der Frühling – im Dezember. So wirds Advent – dieses Mal anders.
In einen solchen Advent wollen wir uns verlieben. Gerade jetzt, in diesem Jahr.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein Teil traditionelle Kirchgänger:innen, ein Teil, der bewusst in die alte romanische Kirche kommt, ein weiterer wachsender Teil, die ganz spezifisch, predigerorientierte Erwartungen hat, inhaltlich, inspiriert, angeregt und überrascht werden will. Der diesjährige Advent wird von der eher betrüblichen Stimmung der Nach-Coronazeit, dem Ukrainekrieg, der Einschränkung kirchlicher Raumnutzung und der gesellschaftlich verbreitet negativen Kirchenstimmung geprägt. Die Sehnsucht nach Freude und Licht ist dementsprechend groß, wenngleich eine spürbare Zukunftsskepsis besteht.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Irritations- und Überraschungseffekt, den die Liebeslyrik ausgerechnet im Advent auslöst. Die Freiheit und Freizügigkeit, die die biblische Poesie im Gegensatz zu klassischen Adventstexten ermöglicht. Die Verbindung und Zusammengehörigkeit von Eros und Agape. Die Chance, über die Liebeslyrik an die menschliche Erfahrung mit den Schmetterlingen im Bauch andocken zu können. Die aktuelle Debatte über die wunderbare Mehrdeutigkeit von Liebe und ihrer politischen Brisanz in der One Love Aktion.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die emotionale Veranschaulichung der Liebe Gottes als einem Beziehungsgeschehen. Die ausdrucksstarken Sprachbilder in der traditionellen Weihnachtsmusik (P. Gerhardt/J.S. Bach). Die theologische und entfaltbare Essenz des alten Taizéliedes „Ubi caritas et amor, deus ibi est“. Die Relevanz Gottes als Ereignis bzw. als Geschehen. Die Ermöglichung Offenheit der Zuhörenden dafür zu gewinnen sich in der aktuellen depressiven Stimmung in das ungeplante Kommen der Liebe zu verlieben.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Eine unabhängige Begleitung von außen entfiel aufgrund der Kürze der Vorbereitungszeit. Ich habe immer wieder bewusst, aber auch bedingt durch das Alltagsgeschäft, Abstand vom Geschriebenen genommen, redigiert, mich nach und nach durch Lektüre weiter inspirieren lassen, um in eigenen Worten als theologische Botschaft zu formulieren, welches Geschenk uns gerade in heutiger Zeit diese für (süddeutsche) Protestanten so irritierende biblische Liebeslyrik macht.