Predigt über 1. Johannes 1,5-2,6 von Sven Keppler
1,5
I. Liebe Gemeinde, zur Vorbereitung auf unseren Predigttext möchte ich Ihnen von einem Trauerbesuch erzählen. Natürlich nicht aus unserer Gemeinde.
Das Gespräch dauert mittlerweile eine halbe Stunde. Der Verstorbene war noch nicht lange im Ruhestand gewesen. Seine Witwe ist etwa im gleichen Alter, Ende Sechzig. Die Frau ist von Anfang an recht vertrauensvoll. So, wie das oft der Fall ist, wenn man als Pfarrer zu Besuch kommt. Nun jedoch schweigt sie. Der Pfarrer wartet ab.
„Ich habe seine Tagebücher gefunden,“ sagt sie etwas unvermittelt. Und schweigt wieder. „Von früher. Jetzt hat er ja schon lange nichts mehr aufgeschrieben. Aber es sind noch die alten Schulhefte. Ganz vergilbt. Nach dem Krieg hatten wir ja nur das schlechte Papier.“ Und dann erzählt sie ausführlich von den Jahren nach dem Krieg, wie sie zur Schule gekommen war. Wie schwierig es manchmal war, die Hefte zu bekommen. Der Pfarrer hört geduldig zu und wartet, bis sie den Faden wieder aufnimmt.
„Man soll ja eigentlich nicht in fremden Tagebüchern lesen. Aber jetzt, wo er doch tot ist. Manchmal veröffentlichen sie die dann ja sogar. Wenn keiner mehr lebt, der darin erwähnt wird. Aber soweit ist es ja noch nicht.“
Der Pfarrer versucht, ihr das schlechte Gewissen zu nehmen. Er spürt, dass sie über etwas sprechen möchte, das sie im Heft ihres Mannes gefunden hat. Dass sie aber nicht die richtigen Worte findet. „Es gab sicher Dinge, über die er nie gesprochen hat.“ Schweigen. Das ist es also. „Und jetzt können Sie mit ihm auch nicht mehr darüber reden.“
„Er ist damals ja im Osten gewesen. Als kleiner Junge noch. Bevor sie dann über die Ostsee geflohen sind. Der Onkel und die Tante haben ihn mitgenommen. Die Mutter war da schon tot. Sie wollten sich gerade dem Treck anschließen. Da ist sie gestorben. Da hat sein Onkel ihn dann mitgenommen. Der war schon älter und kein Soldat, wie sein Vater.
Herr Pfarrer, ich habe nie gewusst, was damals genau geschehen ist. Er hat nie darüber gesprochen. Und jetzt weiß ich auch, warum. Er glaubt, er hat seine Mutter umgebracht. Also nicht er selbst. Aber als die Russen kamen, da haben sich alle versteckt. Er und sein Bruder und seine Mutter. Der bepackte Wagen war schon beim Onkel. Sie hatten sich nur noch einmal vom Hof verabschieden wollen. Da war der Russe plötzlich da.
Ihn haben sie als ersten gefunden. Fünf Jahre war er alt. Haben ihn geschlagen. Und immer wieder angeschrien. Er verstand natürlich nichts. Hat laut geweint. Und nach seiner Mutter gerufen. Aus ihrem Versteck hat sie ihm ein Zeichen gegeben, dass er ruhig sein soll. Da hat er zu ihr hingestarrt. Die Russen sind seinen Blicken gefolgt. Den Rest können Sie sich denken.“
II.Liebe Gemeinde, vielleicht haben Sie selbst ja ganz ähnliche Geschichten gehört. Manche Motive kehren ja immer wieder. Besonders was den Umgang mit der Schuld angeht.
Da ist einmal das Schweigen. Schon der Witwe fiel es schwer, zu reden. Bei ihr natürlich auch deshalb, weil das Lesen in den Tagebüchern ihr Schuldgefühle bereitete. Aber auch das zeigt: Schuld lässt verstummen. Auch zwischen Eheleuten oder anderen Menschen, die sich nahe stehen.
Schuld wirkt dadurch entfremdend. Nicht nur, weil ein Mensch nicht über das reden kann, was ihn belastet. Sondern auch, weil sein Gegenüber spürt, dass da etwas ist. Etwas, was der andere verheimlichen möchte. Schnell legt man das als mangelndes Vertrauen aus. Und ist beleidigt. Und dann haben beide ein Problem: Derjenige, der schweigt, und derjenige, mit dem nicht geredet wird.
Was man an unserer Geschichte aber auch sehen kann, ist, dass kaum jemand das Schweigen völlig durchhält. Irgendwie muss man das Belastende loswerden, um nicht schwermütig zu werden. Der Verstorbene hat sein Tagebuch gewählt. Es ist der perfekte Kompromiss: Man kann sagen, was einen belastet. Man kann es sogar schriftlich festhalten. Man kann es immer wieder lesen und sich vergewissern, dass man die Gedanken wirklich nach außen gegeben hat.
Und dennoch gibt es niemanden, dem man nachher nicht in die Augen sehen kann. Man hat ja keinen Mitwisser. Zumindest dann nicht, wenn die Bücher gut versteckt sind oder man seiner Umgebung vertraut.
Mit der Beichte verhält es sich ganz ähnlich. Wenn man sich einem Geistlichen anvertraut, dann kann man sicher sein: Er wird niemals drüber reden. Das Beichtgeheimnis ist unverbrüchlich. Selbst vor Gericht darf ein Pfarrer nicht über das reden, was ihm ein Mensch anvertraut hat. Nicht einmal, wenn dieser Mensch es ihm im Nachhinein erlaubt.
Und wenn man seinem Pfarrer nach dem Beichtgespräch im Alltag begegnet, dann soll es sein, als hätte man nie etwas gesagt. Denn eigentlich ist das Beichtgespräch ein Gespräch mit Gott. Ein Gebet sozusagen. Der Pfarrer ist nur dazu da, um dieses Gespräch zu unterstützen. Damit man in der Beichte auch offen wird für die Freisprechung durch Gott. Dadurch gewinnt das Beichtgespräch seine befreiende Kraft für die Seele.
Und ein Drittes kann man an unserer Geschichte sehen: Bei Schuldgefühlen geht es keineswegs immer um Moral. Unser Mann hat moralisch gesehen nichts verkehrt gemacht. Er wollte seine Mutter nicht verraten. Er hat als Kind nur unglaubliche Angst gehabt. Hat sich nach Hilfe gesehnt, nach Hilfe durch seine Mutter. Hat mit den Augen nach ihr gesucht und sie dadurch verraten.
Man könnte sagen: Das entlastet ihn doch von seiner Schuld. Eigentlich könne man ihm doch gar nichts vorwerfen. Aber er spürte selbst, dass dies so einfach nicht ist. Er hat zwar keine böse Absicht gehabt. Und vielleicht wäre seine Mutter ja sowieso gefunden worden. Aber mit seinen suchenden Blicken hat er sie nun einmal verraten. Dieses Wissen hat ihn sein Leben lang gequält.
Schuld lässt verstummen. Gleichzeitig möchte sie unbedingt zur Sprache kommen. Sie hat keineswegs immer mit Moral zu tun. Und es ist nie zu spät für eine Befreiung.
Das, liebe Gemeinde, ist der letzte Aspekt, den ich hervorheben möchte. Man könnte ja das Gegenteil vermuten. Man könnte meinen, mit dem Tod des Mannes war die letzte Chance verstrichen, um die Schuld zu benennen. Man könnte meinen, er habe eine Lebenslüge mit ins Grab genommen. Und die Entfremdung zwischen ihm und seiner Frau wäre damit unaufhebbar geworden.
Ich glaube das nicht. Ich glaube, die Frau hat ihren Mann im Nachhinein verstehen können. Sie hat nachempfunden, warum das geheime Wissen für ihn so furchtbar war. Sicher hätte sie ihm gegönnt, dass er sich all das einmal von der Seele geredet hätte. Aber das konnte man nun mal nicht mehr ändern.
Stattdessen hat sie stellvertretend für ihn gesprochen. Sie hat es getan, um ihre eigene Seele zu befreien. Aber sie hat damit im Nachhinein auch ihrem Mann einen Dienst erwiesen. Niemand wird ihn deshalb schlechter in Erinnerung haben müssen. Nach dem Gespräch mit dem Pfarrer sowieso nicht. Denn auch das war ein Beichtgespräch. Und falls sie später anderen Menschen diese Geschichte erzählt haben sollte, dann haben diese sicher vor allem Mitleid empfunden.
III.Liebe Gemeinde, in dieser Geschichte war viel von Schuld die Rede. Ich hätte jedes Mal auch Sünde sagen können. Das wäre eigentlich sogar das treffendere Wort gewesen. Aber durch den heutigen Sprachgebrauch führt es häufig auf die falsche Fährte. Sünde ist heute irgendetwas zwischen Über-rote-Ampeln-fahren, Seitensprung und zu viel Sahne auf dem Kuchen. Oder man denkt bei Sünde an Zeigefinger und moralisierende Predigten.
Eigentlich meint Sünde aber etwas ganz anderes. Sie meint, dass die Beziehung zwischen einem Menschen und Gott gestört ist. Und dass sich diese Störung schädlich auf das eigene Leben auswirkt. Zum Beispiel in Schuld. Sünde hat nicht unbedingt etwas mit Moral zu tun. Sie führt in das Schweigen und die Vereinzelung. Aber sie sehnt sich dennoch danach, zur Sprache zu kommen. Und es ist nie zu spät, um über sie zu sprechen. All das, was ich vorhin zur Schuld gesagt habe, gilt also auch für die Sünde.
In unserem heutigen Predigttext ist von der Sünde die Rede. Ich lese aus dem 1. Johannesbrief, am Übergang vom 1. zum 2. Kapitel [1. Joh 1,8-2,2]
Das Gespräch zwischen dem Pfarrer und der Frau ist so ausgegangen, dass die beiden zusammen gebetet haben. Dabei drückten sie die Dankbarkeit aus, dass die Schuld – oder auch: die Sünde – des Mannes endlich zur Sprache kommen konnte. Dass damit endlich eine Lebenslüge aus der Welt geschafft worden ist.
Es ging aber auch um das Vertrauen, in Gott ein treues und gerechtes Gegenüber zu haben. Und einen Fürsprecher in Christus, der für uns eintritt. Gott vergibt uns unsere Schuld und reinigt uns von ihr. Diese Reinigung beginnt, wenn wir das Belastende zur Sprache bringen. Amen.
Perikope