Predigt über 1. Johannes 1,5-2,6 von Thomas Bautz
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Predigt über 1. Johannes 1,5-2,6 von Thomas Bautz

Ein einfacher Lebensentwurf. Licht und Finsternis. Wer im Licht bleibt, lebt in der Gemeinschaft der Gläubigen und lebt ohne Sünde. Wer aber in der Finsternis wandelt und dies noch dazu leugnet, betrügt sich selbst und macht auch Christus oder Gott zum Lügner.
Ein Leben im Licht bedeutet auch, nach Christi oder Gottes Wort zu leben und seine Gebote zu halten. Nur dann ist sein Wort bzw. seine Wahrheit in uns.
Wenn wir doch sündigen, unsere Sünden aber bekennen, wird uns vergeben, und wir erfahren sogar Reinigung von aller Ungerechtigkeit. Dabei „dient“ Jesus Christus als Fürsprecher bei dem Vater und als Versöhnung für unsere Sünden, wie auch für die der ganzen Welt.
Wie gesagt, ein (scheinbar) einfaches Programm. Doch wir alle wissen, dass das Leben nicht so einfach ist. Jede und jeder Einzelne von uns entstammt einer je verschiedenen Familie, die eine bestimmte Herkunft und Vorgeschichte hat. Manchmal verschafft uns ein Rückblick auf unsere Vorfahren einen gewissen Aufschluss über unser eigenes Gewordensein.
Bereits in der Kindheit gibt es entscheidende Weichenstellungen. Viele Menschen bekommen gar nicht erst die Chance, ihre Gaben – ganz zu schweigen von Begabungen – zu entdecken. Sie bleiben verschüttet und verkümmern, wo Kinder sich selbst überlassen bleiben oder selbstherrlichen Erzieherinnen und Pädagogen in die Hände fallen, um einer Maschinerie standardisierender Testverfahren bereits ab dem vierten Lebensjahr unterworfen zu werden.
Wenn das Erlernen einer Fremdsprache (Englisch) immer früher beginnt, sollten wir uns als Eltern fragen, wann unsere Kinder gutes Deutsch lernen. Außerdem lässt die Qualität des Englischunterrichts ohnehin zu Wünschen übrig, wenn entweder Lehrer zu wenig Auslandserfahrung mitbringen und/ oder keine native speakers zur Verfügung stehen.
Die PISA-Studien haben in Deutschland eine starke Nervosität und ein falsch verstandenes Wettbewerbsdenken in der Bildungspolitik ausgelöst. Wo können Eltern ihr Kind heute noch „normal“ einschulen lassen – ohne dass Kinder begutachtet werden und Pseudopädagogen von vornherein nach einem Makel oder nach Defiziten suchen, um sonderpädagogischen Bedarf oder erhöhte Betreuungsbedürftigkeit anmelden zu können. Dennoch müssen Kinder an manchen Grundschulen bereits das erste Schuljahr wiederholen. Wie unkompliziert war es doch vergleichsweise in unserer Schulzeit!
An Fachhochschulen und Universitäten seufzen Dozenten und Studierende darüber, dass vornehmlich „Module“ (Lernbausteine) abgearbeitet werden müssen, um obligatorische  Punkte für den Studienabschluss zu sammeln. Freie Gestaltung Lehrplans sei kaum noch gegeben.
Schreibt man in der Fachliteratur schon seit Jahren über „PISA und die Folgen“ und sehr differenziert über Entwicklungsdiagnostik, so scheint die Bildungspolitik davon kaum Kenntnis zu nehmen, und die pädagogischen Praxisfelder offenbar überhaupt nicht. Spricht man es – u.a. als besorgter Vater, etwa bei der Einschulung – gegenüber der Schulleitung an, wird sofort das Thema gewechselt, oder man reagiert sogar brüskiert.
Ich nenne „Sünde“ das, was mir, anderen Menschen, einer Gesellschaft, einem Land, einem Volk im Wege steht. Ein bewusst gesetztes oder herbeigeführtes Hindernis (obstacle). Manchmal steht man sich auch selbst im Wege. Das kann relativ harmlose Gründe haben; es können aber auch sehr ernste Ursachen dahinter stecken, die schon lange bedrückend auf Leib und Seele eines Menschen einwirken.
Die Psychosomatik kann viel dazu beitragen, dem Betroffenen zu einem relativ befreiten, unbeschwerten Leben zu verhelfen. Zumindest kann ein besseres Verständnis für bestehende Zusammenhänge und bisher unbemerkte Hindernisse geweckt werden.
Manche Hindernisse im Leben lassen sich ausräumen, auch wenn es manchmal lange dauert. Andere versperren uns zeitlebens den Weg, hindern uns daran, so zu sein, wie wir es im tiefsten Grunde unserer Seele sein möchten. Es könnte eine Charakterschwäche sein oder ein Temperament – wir wollen es partout los sein, uns davon lösen. Wir versuchen es, aber wir können einfach nicht – im positiven Sinne – aus der Haut fahren!
Ich denke aber auch an Menschen, besonders an Künstlernaturen und an sog. Freigeister, die es nicht schaffen, ihre Begabungen, ihren geistigen Hunger, ihre Kreativität gleichsam in eine Form zu gießen, die auch beruflich und gesellschaftlich integer ist, ohne dass sie sich selbst verbiegen müssen.
Ich bezeichne es als „Sünde“, wenn Menschen sich selbst – ihrer Wahrheit – nicht mehr treu bleiben können, weil sie sich nach einer allmählichen, aber folgenschweren Entwicklung nicht mehr mit dem identifizieren können, wovon sie im Wesentlichen einmal überzeugt waren. Sie haben dann die Wahl zwischen Anpassung oder Ausstieg. Wenn ihre wirtschaftliche Existenz davon abhängt, bleibt ihnen keine Wahl. Dann entstehen Lebenslügen.
Und solche Lebenslügen sind wahrlich keine Kavaliersdelikte, keine Bagatellen! Freilich thematisieren wir letztere viel lieber – entweder weil sie gesellschaftlich einigermaßen sanktioniert sind: Begriffe wie Verkehrssünder und Schwarzfahrer weisen darauf hin. Oder die als „Sünde“ apostrophierten Handlungen sind tatsächlich vergleichsweise harmlos: „Heute habe ich wieder gesündigt“, heißt es etwa nach dem Genuss einer üppigen Mahlzeit oder dem Verspeisen eines zweiten Sahnetörtchens.
Tragisch aber ist es, wenn ein Mensch das eigentliche, das ihm zu eigene Ziel, sein Lebensziel verfehlt. Damit meine ich das, was ein Mensch von seinen Veranlagungen her, von seinem Gewordensein und seinem Werden her größtmöglich verwirklichen könnte.
Das altgriechische Wort für „Sünde“ bedeutet „Zielverfehlung“ (hamartia); die Herleitung des deutschen Wortes von „sund“ gleich „Trennung“ ist eine „Etymogelei“, die Herkunft unklar.
Gestatten Sie noch einige Gedanken zur Polarität „Licht und Finsternis“, welche das Denken der Menschen seit dem Alten Orient und dem Altertum geprägt hat. Religion und Kultur, Literatur, bildende Kunst, Theater, Film, ja sogar unser alltägliches Leben werden bestimmt von Licht und Schatten, hell und dunkel, Tag und Nacht.
Während viele Menschen in der Nacht ausruhen, genießen sog. Nachtschwärmer die Ruhe, um ungestört einem Hobby oder kreativer Arbeit nachzugehen oder auch zum Vergnügen. Finstere, zwielichtige oder gar lichtscheue Existenzen oder Gestalten sind für uns Menschen, die uns in keiner Weises vertrauenswürdig oder sogar kriminell erscheinen. Dabei kann uns allerdings der äußere Anschein auch mächtig in die Irre führen. Ein klarer Verstand und eine besonnene Intuition gleichermaßen können uns helfen, einen Menschen bei Licht anzusehen.
Licht und Finsternis sind im griechischen Epos (Homer: Ilias; Odyssee) eng mit Sehen und Erkennen verknüpft. Die Göttin Athene ermächtigt den Menschen zur Gottes- und Menschenerkenntnis. Das bedeutet vor allem die Fähigkeit, den Unterschied zwischen Gott und Mensch zu erkennen. Sollte das ein Sterblicher einmal vergessen oder ignorieren, wird er von Apollon ermahnt: Komme zur Klarheit. Komm zur Besinnung. Der Mensch soll sich so seiner selbst und seiner Verschiedenheit von den unsterblichen Göttern klar werden. Dies ist der Inbegriff seiner Gesinnung.
Bei Homer muss dem Menschen erst die Finsternis von den Augen genommen werden, damit er sehen und erkennen kann. Sehen ist dann ein Klarsehen, ein Durchschauen und Einsehen. Dieses Sehen begründet wiederum als ein alles Vernehmen übergreifendes Sehen jedes Erkennen und Gewahrwerden. Wie das Erkennen aus dem Sehen hervorgeht, so das Wissen aus dem Gesehenhaben.
Zuverlässiges Wissen entsteht nicht durch (bloßes) Hörensagen, sondern durch persönliche Augenzeugenschaft bzw. durch verlässlichen Augenzeugenbericht. Das Wort „Historiker“ leitet sich ab von dem homerischen Wort „histor“, das den Augenzeugen und Schiedsrichter bezeichnet, sofern er bezeugt, was er selbst gesehen hat.
Das Sehen ist in biblischen Traditionen ebenso von großem Gewicht. Oft wird der Mensch auch dort erst von der Gottheit zum Sehen und Erkennen befähigt. Man denke an die Visionen einiger Propheten des AT und an die JohApk. Im JohEv wird ausführlich von der Heilung eines Blinden erzählt – die Bedeutung des Sehen und Erkennens vertieft (Joh 9).
Liest man diese Geschichte nicht (nur) als individuelles Heilungsgeschehen an einem Mann, der blind geboren wurde, sondern als eine Erzählung, die Grundsätzliches über den Menschen zum Ausdruck bringt. Noch ca. 800 Jahre nach Homer wird deutlich, dass wir nicht aus uns sehend werden. Wir können erst sehen, wenn uns die Augen geöffnet werden. Dann zeigen sich Klarsehen, Durchschauen, Durchblick und Erkennen. Wir gelangen von der Finsternis ins Licht.
Erhellend ist auch die Metaphorik von Tag und Nacht in dieser Erzählung: Die Werke Gottes müssen am Tage zum Vorschein kommen oder gewirkt werden. „Es kommt eine Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“ (Joh 9,4.5).
Daran kann der Schreiber des Johannesbriefes anknüpfen (1 Joh 1,7): „Wenn wir im Licht den Weg gehen, wie er selber im Licht ist, haben wir Gemeinschaft miteinander.“ Etwas später entfaltet der Briefschreiber diesen Weg und diese Gemeinschaft als eine lichtvolle, liebevolle (1 Joh 2,8-11). Sehr realistisch wird der Hass als Weg der Finsternis angesprochen: Wer in der Gemeinschaft einen Menschen hasst, bleibt in der Finsternis „und weiß nicht, wohin er geht. Denn die Finsternis ließ seine Augen erblinden.“
Das ist schrecklich, wenn ein Mensch durch sein Verhalten die ihm geschenkte Helligkeit und Klarheit eintauscht gegen Dunkelheit und Blindheit. Solche „Blindgänger“ gibt es vermutlich in jeder Gemeinde. Aber je mehr Klarsicht und Offenheit und liebevolles Miteinander in einer Gemeinschaft dominieren, desto größer die Chance für „Irrlichter“, wieder zur Vernunft zu kommen. Das bedeutet allerdings für alle Beteiligten eine hohes Maß an Konfliktfähigkeit. „Liebe“ darf nicht mit falsch verstandener Nachgiebigkeit verwechselt werden. Vor allem muss es vermieden werden, dass etwaige „Denunzianten“ (auf eigenen Wunsch) anonym bleiben dürfen. Nicht: über jemanden, sondern mit jemanden reden, ist hilfreich!
Was uns von dem Rabbi aus Nazareth überliefert wurde, hat so viel lichtvolles Potential, das uns eigentlich ein fruchtbares Leben im Licht ermöglicht. Allerdings liegen auf diesem Weg der Jesusnachfolge viele große und kleine Steine, mitunter sogar Felsen. Und oft genug haben Dogmen- und Kirchengeschichte den Weg zu einem lebendigen, befreienden Glauben arg verdunkelt. Das Leben Jesu und seine zentrale Verkündigung vom Reich Gottes, vom Königreich der Himmel werden in den einflussreichen Bekenntnissen der Kirchen und im Liedgut kaum thematisiert.
Darüber hinaus wird das Licht der Aufklärung und die Freiheit der Forschung immer wieder verdunkelt und den Gemeinden meist vorenthalten. Viele Menschen hängen an Begriffen, ohne das für ihr Leben wirklich Wichtige zu begreifen. Kirchen waren schon immer offen für Musik; sie haben sich auch wieder verstärkt der bildenden Kunst zugewandt. Doch fehlt es an Sprachräumen, die eine ebenso große Transparenz für Poetisches, Lyrisches, begrifflich Verfremdetes ermöglichen.
Rainer Maria Rilke dichtet mehrdeutig zum Thema Dunkel, Nacht und Licht, z.B.:
  
  Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte
      für Menschen, die nicht schlafen, sind:
      da sind sie alle Ungerechte,
      der Greis, die Jungfrau und das Kind. (...)
  
  Und so, mein Gott, ist jede Nacht;
      immer sind welche aufgewacht,
      die gehn und gehn und dich nicht finden.
      Hörst du sie mit dem Schritt von Blinden
      das Dunkel treten?
      Auf Treppen, die sich niederwinden,
       hörst du sie beten?
      Hörst du sie fallen auf den schwarzen Steinen?
      Du mußt sie weinen hören; denn sie weinen.
      Ich suche dich, weil sie vorübergehn
      an meiner Tür. Ich kann sie beinah sehn.
      Wen soll ich rufen, wenn nicht den,
      der dunkel ist und nächtiger als Nacht.
      Den Einzigen, der ohne Lampe wacht
      und doch nicht bangt; den Tiefen, den das Licht
      noch nicht verwöhnt hat und von dem ich weiß, (...)
  
  Ich schließe mit einer Liedstrophe aus der Mitte des 16. Jh. (EG 440,3):
  
  Treib aus, o Licht, all Finsternis, / behüt uns, Herr, vor Ärgernis, /
  Vor Blindheit und vor aller Schand / und reich uns Tag und Nacht dein Hand,
  
  Amen.
Otto Schwankl: Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften (1995).
Dieter Bremer: Licht und Dunkel in der frühgriechischen Dichtung. Interpretationen zur Vorgeschichte der Lichtmetaphysik (1976).
Der Glaube – erschlossen und kommentiert von Hubertus Halbfas (2010).
Hubertus Halfas: Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss (2011).
Rilke: Das Stundenbuch. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, S. 141262-3 (vgl. Rilke-SW Bd. 1, S. 309-310) http://www.digitale-bibliothek.de/band1.htm