Predigt zu 1. Johannes 3, 1-6 von Jochen Cornelius-Bundschuh
3,1
„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es!
Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie kannte ihn nicht.
Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.
Wer solche Hoffnung auf ihn setzt, reinigt sich, wie auch jener rein ist. Wer aber Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. Und ihr wisst, dass Jesus erschienen ist, um die Sünden zu überwinden. In ihm ist keine Sünde.
Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.“
„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“Weihnachten, liebe Gemeinde, ist Kinderzeit! Nicht nur für die Kleinen, auch für uns Erwachsene. Die Welt wird heil. Liebe breitet sich aus. Hoffnung auf Frieden auf Erden.
Doch noch ist die Zeit nicht erfüllt. Hinter den geschmückten Bäumen ist die Welt gefährdet. Sünde und Unrecht prägen das Leben. „Kindlein hütet euch vor den Abgründen.“ (1. Johannes 5, 21) Ihr seid Kinder Gottes – in einer gefährdeten Welt.
I
Weihnachten ist Kinderzeit. Erinnerungen werden wach: an einen großen, weit ausladenden Weihnachtsbaum, eine grüne Fichte mit glänzenden, roten Äpfeln und strahlenden Kerzen. Der Weihnachtsduft füllt das ganze Zimmer.
Haben Sie auch Erinnerungen, wie das damals war: Weihnachten als Kind. Die Aufregung vor dem verschlossenen Zimmer? Mussten Sie Flöte vorspielen oder ein Gedicht aufsagen? Haben Sie gemeinsam gesungen? Und immer gewartet, gewartet: wann dürfen wir endlich auspacken? Und wer zuerst – oder alle gleichzeitig? Was gab es bei Ihnen zu essen: Würstchen und Kartoffelsalat, weil das schnell geht? Fisch – oder vielleicht Pasteten?
Oder fallen Ihnen eher die Heiligabende ein, an denen sie selbst schon erwachsen waren und Kindern zugeschaut haben? Den eigenen oder den Enkelkindern, vielleicht auch Nichten und Neffen? Wie die Kleinen vor lauter Anspannung nur noch quengeln oder weinen können. Wie sich selbst die Großen aufregen sind und beim Auspacken strahlen – oder eben manchmal auch enttäuscht sind.
II
„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“ Weihnachten ist Kinderzeit!
Aber wir erinnern uns nicht nur an die eigene Kindheit oder schauen den Kindern zu. An Weihnachten sagt uns Gott: Ihr seid meine Kinder, egal wie erwachsen, abgeklärt und alt ihr seid. Ihr bleibt meine Söhne und Töchter, ihr seid Schwestern und Brüder Jesu.
Manch einem klingt das fremd in den Ohren; manche fragt sich wie Nikodemus (Johannes 3): Wie kann ich als erwachsener Mensch neu geboren und wieder Kind werden? Ist das nicht Kinderkram? Nichts für erwachsene Menschen, die ihr Leben im Griff haben; die es im Griff haben müssen? Wie kann ich Kind sein in einer Welt, in der ich stets auf der Hut sein muss, wo so viele Gefahren lauern?
Und außerdem: Sind wir wirklich Kinder Gottes? Unterscheiden wir uns denn? Sind Sie, bin ich als Kind Gottes zu erkennen?
Johannes ist da genauso skeptisch wie wir. Kaum hat er von uns als den Kindern Gottes geredet, spricht er über ein zweites Thema: über Sünde und Unrecht.
III
Jetzt kommen die roten Äpfel noch einmal anders ins Spiel. Sie hängen am grünen Weihnachtsbaum – als Schmuck, als süße Frucht, die uns erfreut.
Aber sie erinnern mich auch an einen anderen wichtigen Baum: den Paradiesbaum! „Von diesen Früchten sollt ihr nicht essen, sonst müsst ihr sterben!“ sagt Gott. Doch Adam und Eva halten sich nicht daran. Sie wollen frei sein, autonom; sie wollen lieber sterben, als dieses Gebot halten; sie wollen sein wie Gott.
Die Sünde begleitet mich durchs Leben. Was ich tue; sie ist dabei! Sie ist nicht nur bei den anderen; sie ist bei mir! Das ist ein Kern des evangelischen Glaubens!
Die Sünde zeigt sich in Übertretungen von Gesetzen: töten, stehlen, falsch Zeugnis reden, Ehe brechen. Sie zeigt sich in vielen einzelnen Taten. Aber die einzelnen Taten sind nicht die Sünde. Denn da finden sich meistens andere, auf die wir zeigen können: der hat gelogen; die hat betrogen; der hat die Mitschülerin gemobbt. Und natürlich entdecke ich mich auch manchmal als einen, der Gesetze übertritt.
Aber das ist noch nicht die Sünde. Johannes verwendet nicht umsonst die Einzahl. Die Sünde ist stärker als jedes einzelne Tun; sie sitzt in meinem Denken und Handeln, sie lockt mich. „Du, es geht doch um dich! Vergiss doch die anderen!“ Sie setzt auf Abgrenzung und auf Abwertung. „Der da, was will der denn hier. Auf unsere Kosten leben.“ Sie setzt auf Herrschaft. „Oben zu sein ist immer besser als unten.“ Sie macht uns lieblos. „Ach, lass die doch, die sind doch selber schuld.“
So denkt und redet die Sünde; auch in mir. Sie setzt sich fest, findet gute Begründungen. Tut so, als wäre die Lieblosigkeit ganz normal. „Machen doch alle so!“ Und widerspricht mal leise, mal laut, auf jeden eindringlich und effektiv der Liebe, die das Gesetz Gottes ist.
IV
Rote Äpfel am grünen Baum! Sie erinnern an die Äpfel im Paradies – sie sind zugleich Zeichen der Liebe Gottes. Auf mittelalterlichen weihnachtlichen Bildern gibt Maria dem Jesuskind den Apfel in die Hand. Die neue Eva – der neuen Adam: Die Trennung zwischen Gott und uns Menschen wird rückgängig gemacht; Gottes Liebe kommt auf die Erde.
Seit Weihnachten sind wir Töchter und Söhne Gottes, Geschwister von Jesus. In der Krippe engagiert sich Gott für uns: Gott will in die Welt, will zu uns und mit uns sein. Jesus wirft uns die rotbäckigen Äpfel zu: nehmt sie, spielt mit den Äpfeln, nutzt eure Freiheit, genießt die Früchte der Erde, die Gott euch schenkt, teilt sie, übernehmt Verantwortung für einander und für die Welt. 
Sein Leben weist uns den Weg. Das beginnt schon hier in der Krippe: Jesus sucht die Armen und ermutigt die Leidenden; er führt die zusammen, die sich streiten; er holt die in die Gemeinschaft, die ausgeschlossen sind. Er tut alles, damit sich die Liebe ausbreitet – bis hin zu den Feinden.
Jesus hat den roten Apfel in der Hand; er wirft ihn uns zu; er will, dass Gottes Glanz sich ausbreitet, der sich darin spiegelt, dass alle an seiner Schönheit und Süße teilhaben.
V
„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“
Sind wir es auch? Wie können wir es werden? Wie können wir als Kinder Gottes leben – in der Doppeldeutigkeit unserer Welt? Das sind die Fragen, die Johannes umtreiben. Er, der uns als Kinder Gottes angesprochen hat, betont jetzt unsere Verantwortung:
„Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. … Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht.“
Wenn ihr Gottes Kinder seid, dann lebt auch so: Erkennt, wo ihr Unrecht tut; gebt es zu. Und überlegt bei allem, was ihr tut: Dient das der Liebe? Macht es mehr Menschen zu Freundinnen und Freunden; führt es zusammen oder trennt es? Öffnet es anderen neue Lebenschancen oder drückt es sie weiter hinunter? Stärkt es die Würde der anderen oder wertet es sie ab?
VI
„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“
Wir sind Gottes Söhne und Töchter. Wir verlassen uns darauf: Wenn schon menschliche Eltern ihr Kind nicht loslassen, auch wenn es Unsinn macht, nervt, etwas anstellt; wenn sie trotzdem an ihm festhalten, wie viel mehr ist das von Gott zu erwarten, der uns liebt wie ein Vater und wie eine Mutter.
Wir sind Geschwister von Jesus. Wir stehen um seine Krippe, wir sind mit ihm unterwegs. Auf den Marktplätzen, in den Häusern, auf den Bergen und in den Straßen. Der Glanz der grünen Bäume mit ihren roten Äpfeln und Kerzen strahlt in die Welt. Gottes Liebe breitet sich aus.
„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“
Perikope