Predigt zu 1. Johannes 3, 1-6 von Matthias Rein
3,1
I.
  
  Fast schon 19 Uhr. Draußen ist es stockdunkel. Ich bin unterwegs in einer Gegend, die ich nicht kenne. Ich suche nach einer Straße und einer Hausnummer. Zweimal bin ich schon falsch gefahren. Anhalten, Licht an, Brille auf, Ortsplan studieren. Hier muss es sein. Ich will meinen Sohn abholen, er besucht eine Spielkameradin.
  
  Ich klingle an der Haustür. Die Tür öffnet sich. Ein Mädchen steht auf der Schwelle. Vielleicht 5 Jahre alt, große schwarze Augen, schwarze Haut. „Bist du der Papa von Anselm?“, fragt sie.“ Ja“, antworte ich. „Ich bin Meggi, komm mit“, ruft sie, fasst meine Hand und führt mich ins Wohnzimmer, „hier kannst Du dich hinsetzen.“
  Meggi steht nicht still und erzählt in einem fort. Kurze Zeit später sitzt sie auf meinem Schoß und erzählt weiter. Sie schaut mich mit ihren großen Augen an. Sie prüft, sie testet mich. Und sie beschließt, mich zu mögen.
  Anselm und seine Spielkameradin tauchen auf. Wir reden noch ein bisschen und dann brechen wir auf. „Wann kommst Du wieder“, fragt mich Meggi beim Abschied.
  
  Beim nächsten Besuch freut sich Meggi, als sie mich sieht. Und sie erzählt sofort los. Meggi ist in Südafrika geboren. Sie kam als Baby in ihre zweite Familie nach Bayern.
  
  Meggi mag mich, Meggi hat mich zu ihrem Freund erklärt, Meggi hat mich adoptiert. Wenn ich vorbeischaue, krabbelt sie sich auf meinen Schoß und erzählt.
  
  Wer bin ich?
  Wo gehöre ich hin?
  Wer freut sich über mich, wenn ich vor der Tür stehe?
  Wer sagt zu mir: Schön, dass Du da bist, komm rein, setz Dich, erzähl mal.
  Zu welcher Familie gehöre ich?
  Wo bin zu Hause?
  
  
  II.
  
  Weihnachten, liebe Gemeinde ist dazu da, dass wir uns vergewissern, wo wir hingehören.
  Karten, Geschenke, Besuche, Telefongespräche, das Festessen, Spiele, Spaziergänge, Rotwein am Abend – alles dies zeigt, wo wir hingehören. All dies will das stärken – das Dazugehören, das Zuhausesein, das Verorten.
  
  Sind Sie, liebe Schwester, lieber Bruder, in diesen Tagen da, wo Sie hingehören? Oder sind Sie in der Fremde, weit weg von der eigentlichen, der wirklichen Heimat?
  Oder ist Ihnen das Zuhause fremd?
  
  Zu Weihnachten merken wir, ob das stimmt mit dem Dazugehören, mit den Bindungen, mit der Heimat.
  Wir merken, dass es schön ist, dazuzugehören.
  Wir merken, dass es weh tut, wenn wir außen vor sind.
  
  Weihnachten feiern wir, wenn die Sonne am niedrigsten steht im Jahr. Wenn die Tage kurz sind. Dann zünden wir die Kerzen an, dann suchen wir das Licht.
  
  Wir merken, wie wenig wir beides in der Hand haben – das Dazugehören und den Lichtschein, vor allem den inneren.
  
  Meggi hat mich zu ihrem Freund erklärt, so habe ich immer mehr gespürt. Sie hat intuitiv entschieden, mit wem sie zusammen sein will. Sie wählt, sie erwählt. Und ich habe die Ehre, adoptiert zu werden, erwählt zu sein.
  
  Wer bin ich?
  Zu welcher Familie gehöre ich?
  Wo bin ich zu Hause?
  
  Wer sind wir?
  
  Wir sind Kinder Gottes, so hören wir an diesem Festtag aus dem Johannesbrief. Wir sind adoptiert, erwählt. „Wir sollen Kinder Gottes sein und wir sind es auch“, so wörtlich. Wir kommen aus dem Dunkel und klingeln an der Tür. Und die Tür geht auf und wir werden herein gebeten in die warme Stube, in das Licht und wir gehören dazu.
  
  Warum gehören wir dazu? Zunächst, liebe Schwestern und Brüder, weil wir getauft sind. Das geschah ohne unser Wissen und Zutun.
  Dahinter stand die Entscheidung der Eltern und Paten, stand ihre Absicht, uns mit Gott sichtbar zu verbinden.
  Und hinter ihrer Entscheidung wiederum stand Gottes Geist, steht Gottes Entgegenkommen:
  Ich möchte, dass Du mein Freund bist. Ich möchte, dass Du zur Familie gehörst, ich möchte, dass Du wiederkommst.
  
  Gottes Liebe steht dahinter. Er mag uns.
  
  Welche Bedeutung hat diese Gotteskindschaft heute, hier und jetzt?
  Wer heute im Gottesdienst Weihnachten feiert, zeigt, dass ihm diese Gotteskindschaft wichtig ist.
  Gotteskindschaft macht sich nicht allein an äußeren Zeichen fest. Kinder Gottes sind alle, die in Gottes Geist handeln. Große und Kleine, Schwarze und Weiße, Arme und Reiche, Kirchensteuerzahler und Nichtkirchenglieder.
  
  Wir sind Gottes Kinder. Weihnachten erinnert uns daran und vergewissert uns.
  
  
  III.
  
  Der zweite Gedanke aus dem Johannesbrief zu Weihnachten, ist verhaltener.
  
  Kindschaft ist schön und teilt alles Wesentliche mit. Kindschaft bedeutet aber auch: Es gibt eine Entwicklung. Wenn ich Kind bin, dann werde ich irgendwann erwachsen sein. Was ist dann?
  „Noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden“, so hören wir aus dem Johannesbrief. „Wenn dies aber offenbar wird, dann werden wir Gott schauen, dann werden wir ihm gleich sein.“
  Große Bögen schlägt der Johannesbrief. Er greift zurück auf den Beginn und schaut nach vorn auf das Ziel, auf das Ende: Gottesschau und Gottesgleichheit.
  
  Gottesschau – der alte Menschheitstraum.
  Gott sehen, nein das können wir Menschen nicht.
  Selbst Mose konnte es nicht, eine Decke schützte ihn vor dem Glanz Gottes, in dem alles Menschliche vergeht.
  Gott sehen können wir immer nur durch einen Filter.
  Gott sehen - das feiern wir zu Weihnachten. In dem Kind, das geboren ist, sehen wir Gott. Aber auch hier bleibt etwas verborgen. Gottes Glanz und Gottes Macht verbergen sich in dem Kind. Nicht jede, nicht jeder erkennt in diesem Kind Gott. Dazu bedarf es des Glaubens. Er ist der richtige Filter, der uns möglich macht, Gott zu sehen.
  
  Und: Sein wie Gott – das wollten schon Adam und Eva und sind gescheitert.
  Gott gleich sind wir Menschen eben nicht. Ach wenn Gott uns seine Kinder nennt.
  Noch ist nicht erschienen, was wir sein werden.
  
  Aber Gott hat eine Erwartung und eine Hoffung in unser Herz gesenkt.
  Das Kind wächst heran, es wird erwachsen. Und es wird erkennen.
  
  Ein großer Gedanke, ein großes Versprechen, ein großer Ausblick auf das Kommende zu Weihnachten: Wir werden Gott schauen und ihm gleich sein.
  
  
  IV.
  
  Worauf können wir uns verlassen hier und heute? Wohin sind wir unterwegs?
  
  Ich bin zwei Stimmen begegnet in den letzten Tagen, die auf diese Fragen antworten. Auf die Frage danach, worauf wir uns verlassen können und wohin wir unterwegs sind.
  
  Die Stimmen gehören einer Schriftstellerin und einem Dichter. Ihre Worte haben mir zu denken gegeben. Ihre Worte greifen wesentliche Gedanken der Weihnachtsbotschaft auf.
  
  Wohin sind wir unterwegs? Mit dieser Frage endet das letzte Buch von Christa Wolf, der großen deutschen Schriftstellerin. Sie starb vor ein paar Tagen.
  Im Traum unternimmt die Erzählerin am Ende des Buches mit ihrem Begleiterengel Angelina einen Flug über das Land. „Meine Arbeit ist getan“, so geht ihr auf. Aber es bleiben Fragen: „War nicht vieles umsonst, war nicht vieles ein Irrtum?“
  Ihr Traumflug zeigt ihr: Worum es eigentlich geht, ist die Gefahr, in der sich die Menschen und die Erde befinden.
  Wohin sind wir unterwegs? Christa Wolfs persönliche und ehrliche Antwort auf diese Frage lautet: Ich weiß es nicht. Das ist das Bekenntnis einer Frau, die in ihrem Leben für Menschlichkeit eintrat, die sich nicht als Christin verstand und doch immer wieder im Gespräch war mit der christlichen Hoffnung auf das Gute, das Bessere.
  
  Tomas Tranströmer, der schwedische Dichter und aktuelle Literatur-Nobelpreisträger, antwortet auf die Frage nach dem Grund des Lebens und dem Wohin anders.
  
  Wir müssen uns auf vieles verlassen können, um zu leben. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass wir gehalten werden, so stellt er fest.
  Und er findet ein schönes Bild für unser Menschsein:
  
  Uns ergeht es, als wenn das Licht im Treppenhaus ausgeht. Wir stehen plötzlich im Dunkel. Unsere Hand greift in die Finsternis, ins Nichts. Findet sie etwas? Findet sie Halt? Plötzlich finden wir das Geländer und das Geländer führt uns Blinde durch das Dunkel ins Licht.
  
  Ich lese einen Abschnitt aus dem Gedicht Schubertiana von Tomas Tranströmer. Das Gedicht bezieht sich auf ein Streichquintett von Franz Schubert:
  
  „Auf wie viel wir uns verlassen müssen, um unseren Alltag leben zu können, ohne durch die Erde zu sinken!
  Uns auf die Schneemassen verlassen, die sich an den Berghang oberhalb der Stadt festklammern.
  Uns auf die Schweigeversprechen und auf das einverständige Lachen verlassen, uns darauf verlassen, dass die Unglückstelegramme nicht uns gelten und dass der jähe Axthieb von innen nicht kommt.
  Uns auf die Radachsen verlassen, die uns auf den Motorgelenken mitten in den dreihundertmal vergrößerten Bienenschwarm aus Stahl tragen.
  
  Aber nichts von dem da ist eigentlich unseres Vertrauens wert.
  
  Die fünf Streicher sagen, dass wir uns auf etwas anderes verlassen können. Und sie begleiten uns ein Stückchen auf dem Weg dorthin.
  
  So, wie wenn im Treppenhaus das Licht ausgeht und die Hand – vertrauensvoll – dem blinden Geländer folgt, das durchs Dunkel führt.“
  
  Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wenn es erscheint, schauen wir Gott und sind ihm gleich – im Licht.
  
  Amen
  
  
  Anregung für die liturgische Gestaltung des Gottesdienstes am 1.Weihnachtsfeiertag:
  
  Ich wähle Weihnachtslieder aus, die das Licht und den Glanz besingen.
  
  Anstelle des Apostolicums sprechen wir das Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel (EG 904) als Glaubensbekenntnis mit den schönen Zeilen: „Gott von Gott, Licht von Licht“ und „Wir erwarten … das Leben der kommenden Welt.“
   
Perikope