I. „Ich danke Gott und freue mich wie ein Kind zu Weihnachten. Ich lebe noch und liebe wieder. Ich fühle mich wie neu geboren. Ich bin ein Sonnenkind für’s ganze Leben – denn da hinten wird’s schon wieder hell.“
Liebe Gemeinde, so hat es eine Frau in ein Gebetsanliegenbuch geschrieben. Sie ist irgendwann in eine offene Kirche gekommen. Hat gebetet und eine Kerze angezündet. Und dann hat sie aufgeschrieben, was sie bewegt.
Ihre Worte klingen nach Neuanfang. Sie scheint eine Krise hinter sich zu haben, die bis ins Innerste ging. Dass sie noch lebt, ist nicht mehr selbstverständlich für sie. Aber sie hat die schwere Zeit hinter sich gelassen. Hat sich neu verliebt und ist voller Hoffnung für die Zukunft.
In ihrem Glück fühlt sie sich wie ein Kind. Ein Sonnenkind für’s ganze Leben. Wie ein Mädchen zu Weihnachten, dem seine Herzenswünsche erfüllt worden sind. Sogar wie ein Neugeborenes, das neu ins Leben starten darf.
Wenn man so ein Gebetsanliegenbuch liest, dann kommt man wirklich ins Staunen. Die intensiven Gefühle der Frau sind keine Ausnahme. Viele Einträge kommen mitten aus dem Leben. Man spürt oft etwas von dem lebendigen Zwiegespräch der Menschen mit Gott.
Dankbarkeit ist die vorherrschende Tonlage. Und das aus den unterschiedlichsten Gründen:
„Danke für diesen schönen Tag.“
„Danke, dass Du mich getragen hast, als alles kaputt ging.“
„Danke dafür, dass Du mir hilfst, meine Familie und mich gesund zu erhalten.“
„Hab Dank für das Kind, das in mir wächst.“
Und ganz oft einfach nur: „Danke für Alles!“
Menschen sind wieder in Kontakt gekommen mit einer Lebensenergie, die brach lag. Sie fühlen sich wieder handlungsfähig. Können beschwingt an Aufgaben gehen, die sie sich gar nicht mehr zugetraut hatten. So, wie es die erste Schreiberin sagt: „Ich fühle mich wie neu geboren!“
II. Liebe Gemeinde, für heute ist ein Predigttext vorgeschlagen, in dem es genau darum geht: wie neu geboren zu sein. Wie ist das gemeint? Was hat das mit Gott zu tun? Und was verändert sich dadurch im Verhältnis zu anderen Menschen? Ich lese aus dem ersten Brief des Johannes, den Anfang des 5. Kapitels [1. Joh 5,1-4].
Geboren sein – immer wieder ist davon die Rede. Genauer gesagt: Von Gott geboren sein. Von Gott das Leben geschenkt bekommen, wie von einer Mutter. Die Geburt gehört zu den intensivsten Erlebnissen einer Frau. Die Wehen. Die Schmerzen. Die Angst, ob alles gut geht. Die unendliche Anstrengung.
Und dann die tiefe Dankbarkeit, wenn die Geburt gelungen ist. Wenn ein zartes, anschmiegsames Baby auf dem eigenen Bauch liegt. Auch für die Väter, die das erlebt haben, ist diese Erfahrung unvergesslich.
Ein berührendes Bild ist das: Gott schenkt uns das Leben. Wir dürfen Gott vertrauen, uns bei ihm geborgen fühlen. Er fühlt sich uns verbunden wie eine Mutter, die ihr Kind mit großer Anstrengung zur Welt gebracht hat. Wenn wir Schutz brauchen, dürfen wir zu ihm kommen.
Aber darf ich so einfach „Wir“ sagen? Darf ich Sie und mich einschließen in diese Gewissheit: „Ich bin von Gott geboren“? Auf den ersten Blick würde ich sagen: das gilt für jeden Menschen. Wenn Gott unser Schöpfer ist, dann verdanken wir ihm doch alle unser Leben. Jeder und jede Einzelne. In der Lesung haben wir davon gehört. Wir werden von Gott ins Leben gerufen und am Leben erhalten. Auch wenn wir alle zugleich noch eine andere Mutter haben, die uns geboren hat.
Aber das ist nicht gemeint im Johannesbrief. Dort steht: „Wer glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist von Gott geboren.“ Es ist also nur von ganz bestimmten Menschen die Rede. Von Menschen, die eine Beziehung zu Gott haben. Und zu Jesus Christus, dem Sohn Gottes.
Im Johannesevangelium ist einmal von denen die Rede, die aus Wasser und Geist geboren sind. Da denkt man natürlich an die Taufe. Bei der Taufe wird ein Mensch in die Gemeinschaft der Christinnen und Christen aufgenommen. Wer getauft ist, kann voller Vertrauen sagen: „Ich bin von Gott geboren.“ Also doch: Wir alle.
Aber ich glaube, dass das nicht nur für die Taufe gilt. Denken Sie an die Worte aus dem Gebetsanliegenbuch. Immer wieder machen Menschen die Erfahrung, behütet worden zu sein. Eine Krise durchgestanden zu haben. Wieder neu anfangen zu können. Eine neue Chance zu bekommen. Dann fühlen sie sich oft wie die Frau: „Ich freue mich wie ein Kind zu Weihnachten. Ich fühle mich wie neu geboren.“
Aus Gott geboren zu werden ist eine Erfahrung, die man immer wieder im Leben machen kann. Immer, wenn einem Menschen ein Neuanfang geschenkt wird – im Großen und im Kleinen. Und wenn es gelingt, diesen Neuanfang als Geschenk Gottes zu verstehen.
III. Auch das zweite große Thema unseres Textes stammt aus dem Familienleben. Es geht um die heikle Frage, wie Geschwister eigentlich miteinander umgehen sollen.
Es gibt ja die älteren Geschwister, die sich auf die Geburt einer kleinen Schwester oder eines Bruders freuen. Die das Wachsen des Bauches ihrer Mamma miterleben und voller Vorfreude sind. Oft fühlen sie sich für das neugeborene Baby verantwortlich und möchten es umsorgen.
Aber nicht selten passiert auch das Gegenteil: Wenn Papa gerade nicht aufpasst, wird ausprobiert, wie die das Geschwisterchen auf einen Kniff reagiert. Oder die eifersüchtige Dreijährige versucht, den neuen Mitbewohner endlich von Mammas Schoß zu entfernen. Eifersucht ist ein Dauerthema. Aggression. Angst, ins Hintertreffen zu geraten. Oder auch Fremdheit zwischen älteren Geschwistern, die ja oft einen völlig unterschiedlichen Charakter haben.
IV. In unserem Text ist die Ansage klar: Ich bin nicht das einzige Gotteskind. Wer den liebt, der ihn geboren hat, der liebt auch den, der auch von ihm geboren ist. Mit anderen Worten: Zur Elternliebe gehört auch die Geschwisterliebe.
Und worin zeigt es sich für Johannes, dass man seine Geschwister liebt? Indem man Gottes Gebote hält. Also: Wenn man so mit seinen Geschwistern umgeht, wie Gott es erwartet.
Was in der Familie gilt, das soll auch in der Gemeinde gelten. Denn darum geht es dem Johannesbrief natürlich. Er will keine Erziehungstipps geben. Auch wenn man sich vielleicht das eine oder andere für die eigene Familie abgucken kann.
Die Gotteskinder, von denen Johannes spricht, sind die Christinnen und Christen. Und deshalb zielt er auf die Frage, wie wir in der Gemeinde miteinander umgehen sollen. Wie eifersüchtige, aggressive Geschwister? Voller Angst, nicht genug beachtet zu werden? Mit Futterneid und Missgunst?
Oder wie? Zum Abschluss der Predigt möchte ich mit Ihnen über diese Frage nachdenken. Was erwartet Gott von uns, wie wir miteinander umgehen sollen? Wie sieht das Gebot aus, das in den Augen von Johannes nicht schwer ist? Und mit dem man das Negative überwinden kann, das die Welt oft mit sich bringt?
V. Ansetzen möchte ich wieder bei dem Gebetsanliegenbuch. Bei fast allen Einträgen spürt man, wie sehr der Glaube der Menschen mit ihren eigenen Lebensthemen zu tun hat. Die einen bitten um Kraft, um die Lösung eines Problems, um neue Handlungsmöglichkeiten. Andere wollen einfach einmal klagen und die eigenen Sorgen loswerden.
Und wieder andere sind dankbar für eine Erfahrung, die sie machen durften. Manchmal ist es zu einer Lebenswende gekommen. Zu einem echten Fortschritt. Dann kann es sein, dass sich die Betroffenen wie neu geboren fühlen. Aber oft geht es um einen der vielen kleinen Schritte, aus denen das Leben nun mal besteht.
Daran kann man erkennen, was Menschen sich von Gott erhoffen. Und welche Erfahrungen sie sich in der Gemeinde wünschen – und zwar zu Recht: Es soll um sie gehen. Um ihre Lebensthemen, ihre Träume und Hoffnungen, ihre Sorgen und ihre Erfahrungen. Um ihre Beziehung zu Gott.
Dazu ist es wichtig, dass Menschen in der Gemeinde füreinander ansprechbar sind. Wie Geschwister, die sich kennen. Aber auch für solche, die seltener zu Besuch kommen. Die Einträge in den Gebetsanliegenbüchern stammen häufig von solchen Menschen.
Viele wollen oder können keine regelmäßigen Verpflichtungen eingehen. Der eigene Alltag ist schon voll genug und die Zeit immer knapper. Aber sie haben ein Gespür dafür, dass bestimmte Zeiten aus dem Alltag herausragen. Wendepunkte im Leben wie das Erwachsenwerden, die Familiengründung oder das Sterben. Höhepunkte im Jahr wie die großen Feste. An diesen Stationen suchen sie religiöse Formen. Das sollte ihnen möglich sein, ohne zu große Hürden überwinden zu müssen.
Es ist wichtig, eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Sprachlosigkeit des Glaubens wächst. Viele Menschen haben eine ganz private Gottesbeziehung. Aber sie sind kaum in der Lage, darüber zu reden. Weil ihnen die Worte fehlen. Weil es oft nicht zum guten Ton gehört. Weil Glaube Privatsache ist. Weil die biblischen Geschichten und Bilder in Vergessenheit geraten.
Dabei zeigen die Einträge in den Gebetsanliegenbüchern, dass sich der Glaube oft in einer ganz modernen, lebendigen Sprache ausdrücken lässt. „Ich bin ein Sonnenkind für’s ganze Leben – denn da hinten wird’s schon wieder hell.“ Die Beziehung zu Gott lebt davon, dass man darüber redet. Dass man sie teilt. Und mit-teilt.
Wenn die Liebe so wichtig ist, dann auch die Liebe zum Leben. Gemeinsam feiern. Sich praktisch unterstützen. Auf Ausflügen und Freizeiten Freude haben und Freundschaften knüpfen. Kunst begreifen und die Schönheit der Schöpfung entdecken – dafür soll Raum sein. Und dann sagen zu können: „Ich freue mich wie ein Kind zu Weihnachten.“
Alles das wäre aber bloß leere Betriebsamkeit, wenn es nicht von etwas anderem getragen würde. Gott liebt uns wie Vater und Mutter und will uns zu einem gelingenden Leben befreien. Er ist als menschlicher Bruder an unserer Seite und sucht das Gespräch mit uns. Wenn wir daran mitarbeiten, erfüllen wir sein Gebot. Amen.
Predigt zu 1. Johannes 5,1-5 von Sven Keppler
5,1-15
Perikope