1. Dantons Tod
Liebe Gemeinde,
eine Gruppe von politischen Gefangenen.
Sie waren alle Teil der Revolution.
Sie hatten den König gestürzt,
ihre Gegner ausgeschaltet
und alle säuberlich mit einer neuen,
schmerzfreien wissenschaftlichen Methode
ums Leben gebracht.
Nach und nach wurden 40.000 Menschen guillotiniert.
Schließlich war keiner mehr da,
der der herrschenden Gruppe widersprach,
und die Revolutionäre begannen sich selbst zu verfolgen.
...
Die Szene spielt in Georg Büchners Drama „Dantons Tod“.
Danton und seine Mitstreiter
sind von ihrem einstigen Kampfgenossen Robespierre
in ein einer nächtlichen Aktion verhaftet worden.
Und nun im Gefängnis
sprechen sie nicht über ihre fehlgeleiteten Ideale,
die Verkehrung der Freundschaft in Hass
oder ihre eigene Angst vor dem Tod - sondern über Gott.
...
Kann der Vollkommene etwas Vollkommenes schaffen
oder muss das Geschaffene nicht etwas weniger vollkommen sein
als der Schöpfer?
Das ist die Frage,
die auf den nicht vorhandenen Tisch kommt.
Und anders herum probieren sie es auch:
Wenn die Welt nicht vollkommen ist,
dann kann es auch keinen vollkommenen Gott geben!
Und so schrecklich die Welt ist,
man kann sie immer so ansehen,
als sei sie vollkommen.
Nicht ideal in unserer Sicht,
aber die beste aller möglichen Welten in Gottes Sicht.
So macht man sich etwas vor im Kopf.
Aber eins erinnert uns immer daran,
dass die Welt unvollkommen ist: Der Schmerz.
Der englische Bürgerrechtler Thomas Payne
ist eine Figur in Büchners Stück und sagt:
Man kann das Böse leugnen,
aber nicht den Schmerz;
nur der Verstand kann Gott beweisen,
das Gefühl empört sich dagegen.
Merke dir es, Anaxagoras:
Warum leide ich?
Das ist der Fels des Atheismus.
Das leiseste Zucken des Schmerzes,
und rege es sich nur in einem Atom,
macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.
[Georg Büchner, Dantons Tod (1835), III., 1]
„Das Leiden ist der Fels des Atheismus“.
Dieser Satz wird Georg Büchner seitdem nachgesagt.
...
2. Gott verlieren
Sofort gehen mir einige Seelsorgesituationen durch den Kopf:
„Wissen Sie, dann ist mein Bruder gestorben,
und das war's dann mit dem Glauben an Gott!“
...
„Und dann hatte ich meinen Unfall.
Da habe ich mein Gottvertrauen verloren!“
...
Wie selbstverständlich kommen diese Sätze,
als ob es das Natürlichste der Welt sei,
dass man, wenn das Leben nicht so läuft,
Gott den Laufpass geben muss.
Er tut seinen Job nicht.
Er passt nicht auf mich auf.
Wenn es mir gut geht,
toleriere ich ihn als Grund und Anker meines Lebens.
Wenn etwas passiert, kann es ihn nicht geben.
Ist es vernünftig,
auf diese Art kurzen Prozess mit Gott zu machen?
Oder hat er einen längeren Prozess verdient?
...
3. Schlachtschafe
Der Apostel Paulus hat es noch schwerer,
Gott vor den Menschen zu verteidigen.
Denn die Christen, zu denen er spricht,
geht es schlecht, weil sie an Gott glauben.
Genauer gesagt: Weil sie an Gott glauben,
wie ihn uns Jesus Christus gezeigt hat.
„Wer Christ wird, wird ein Schlachtschaf“,
formuliert er zugespitzt.
Er weiß, Christ werden birgt für jeden Nachteile.
Und dennoch plädiert er leidenschaftlich dafür,
dass Christen ihre Hoffnung nicht verlieren.
Hören Sie selbst seine Wort aus dem Römerbrief:
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat,
sondern hat ihn für uns alle dahingegeben -
wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?
Gott ist hier, der gerecht macht.
Wer will verdammen?
Christus Jesus ist hier, der gestorben ist,
ja vielmehr, der auch auferweckt ist,
der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.
Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?
Trübsal oder Angst oder Verfolgung?
Oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?
Wie geschrieben steht (Psalm 44,23):
»Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag;
wir sind geachtet wie Schlachtschafe.«
Aber in dem allen überwinden wir weit durch den,
der uns geliebt hat.
Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Mächte noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
...
4. Weder Tod noch Leben
Diese Worte werden oft an den Gräbern gelesen.
Wenn Sie in diesem Jahr einen Menschen verloren haben,
haben Sie sie gehört.
Und heute wieder.
Der Tod ist der extremste Fall,
bei dem die Loyalität Gottes zu uns auf dem Prüfstand steht.
Er lässt uns sterben.
Und das soll freundlich sein?
Das soll mit dem Titel „lieber Gott“ vereinbar sein?
...
Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt,
dass nach dem Tod irgendetwas von uns weiterlebt.
Aber Paulus spricht diese Worte in einem kulturellen Zusammenhang,
in dem das noch nicht so ist.
In der Antike gab es zwar einige religiöse Sekten,
die das Leben nach dem Tod versprachen,
aber in den Körpern war die Furcht vor dem Tod noch gespeichert.
...
Weder Tod noch Leben werden uns von der Liebe Christi scheiden.
Das ist der ungeheuerste Satz unseres Predigttextes.
Der Tod trennt uns nicht von Gott.
Selbst der Tod tut es nicht.
...
Und es heißt: Weder Tod noch Leben.
Also auch das Leben kann uns nicht von Christus trennen.
Der Tod nicht und das Leben nicht.
Hier höre ich das Leiden anklingen, den Schmerz
und alle anderen Dinge, die Menschen vorbringen,
wenn sie sich von Gott entfernt haben.
Von Gott entfernen heißt vor allem auch: von den Gedanken an Gott.
Das heißt, ich habe das Nachdenken verloren,
das Nachdenken darüber, was er mit mir und meinem Leben vorhat.
…
Dagegen stehen die Worte:
Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Mächte noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Zwischen mir und Gott gibt es keine Trennwand.
Wenn ich ihm den Rücken kehre,
bleibt er hinter mir stehen.
Wenn sich etwas zwischen mich und ihn schiebt,
Mächte oder Gewalten, bleibt die Verbindung offen.
Wenn mich etwas aus meiner Vergangenheit belastet,
bleibt die Verbindung bestehen.
Keine Verletzung und keine Trauer werden mich von ihm trennen.
Auch nicht, was mich bedroht aus der Zukunft,
die Angst, die ich vor meinem weiteren Leben habe,
kappt die Verbindung, die Gott zu mir hat.
5. Und der Schmerz?
Aber all dies wird es geben.
Die Angst vor der Zukunft,
die Wunden der Vergangenheit,
die Verletzungen, die uns andere Menschen zufügen,
die Verletzungen, die wir anderen Menschen zufügen,
und die des grausamen Zufalls
und auch die, die wir uns selbst beibringen.
Es wird den Druck der Schuld geben,
die Sachen, die wir uns nicht verzeihen können,
es wird die schlaflosen Nächte geben,
die Atemnot und den Gelenkschmerz.
Es wird das ganze Leben geben,
mit seinen unkontrollierbaren Ausschlägen nach oben und nach unten.
Gott schützt uns weder vor uns selbst,
noch vor den anderen,
noch vor des Schicksals wütenden Attacken.
Und trotzdem gilt der eigenartige Satz:
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
...
Er klingt so kämpferisch,
als sei er auf einen Uniformkragen genäht
und schickte uns in den Kampf.
...
Aber er ist deswegen so radikal,
weil er im Affekt gesprochen ist:
- Nach den vielen Gedanken,
die Paulus sich in diesem Kapitel macht;
- nach den vielen vernünftigen Argumenten,
die er anführt, um uns klar zu machen,
dass wir uns Gott nicht als einen vorstellen sollen,
der Forderungen an uns stellt;
- nach den klaren Sätzen,
die uns einschärfen, dass wir mit Gott keinen Vertrag schließen,
der uns bei korrekter Einhaltung Glück und Wohlstand bringt;
- nach allen Worten, die uns klar machen sollen,
dass es auf die Beziehung ankommt, den Glauben;
- nach all' diesen Worten bricht es aus ihm heraus:
Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?
All' die Leiden, all' der Schmerz können es nicht.
Sie verdunkeln unsere Sinne und unsere Stimmung.
Sie lassen uns für eine Zeit taub und blind sein für Gott.
Aber sie ändern nichts daran,
dass er unseres Leides leiser Zweiter ist.
...
6. Der Schmerz ist das Wasser Gottes.
„Der Schmerz ist der Fels des Atheismus!“
Das ist die These.
Ich behaupte, der Schmerz ist das Wasser Gottes.
Es schwemmt weg, was uns von ihm trennt.
...
Für jemand der Gott denkt,
der über seine Vollkommenheit und seine Eigenschaften sinniert,
über seine Vereinbarkeit mit der Welt, wie wir sie kennen,
ist der Schmerz schwer integrierbar.
Der Schmerz zeigt, dass etwas falsch ist in der Rechnung.
Für jemand der Gott fühlt,
der erlebt gerade dann,
wenn ihm etwas zustößt,
dass er gehalten ist
oder besser, dass er sich von Gott halten lassen kann.
Es sind häufig Krisensituationen,
die uns näher zu Gott bringen.
Wenn wir in der Patsche sitzen,
denken wir nach, was in unserem Leben gelten soll
oder besser gesagt, finden wir etwas,
womit wir weiter leben können.
...
Ich finde, die Losung des kommenden Jahres sagt nichts anderes.
sie spricht diesen Gedanken nur anders aus:
Gott spricht: Ich will euch trösten,
wie einen seine Mutter tröstet.
[Jesaja 66,13]
Zärtlich ist Gott,
und so wie wir uns eine Mutter wünschen, immer da -
und so vertraut wie nichts sonst in unserem Leben.
Was auch passiert im neuen Jahr,
Gott nimmt Sie in den Arm,
gerade, wenn es Ihnen schlecht geht.
Das ist das einzige, was vollkommen sicher ist
in seiner unvollkommenen Welt.
Amen.
...
Und der Friede Gottes,
der weiter ist als unsere menschliche Vernunft
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Perikope
31.12.2015