So viele Fremde! Predigt zum internationalen protestantischen Soldatentreffen

So viele Fremde! Predigt zum internationalen protestantischen Soldatentreffen

So viele Fremde!

Überall in unseren Ländern: So viele Menschen, die aus ihrer Heimat aufgebrochen sind ‒ aus Afrika, aus Syrien, dem Irak und Afghanistan ‒ um bei uns Zuflucht zu finden, ein sicheres Dach über dem Kopf, ein neues Zuhause.

So viele Fremde!

Menschen auf der Flucht, Menschen, die vor Krieg oder Hunger fliehen; Menschen, die ihr Land verlassen, weil sie einfach nicht mehr dort bleiben und wohnen können:

Das gibt es schon seit Menschengedenken!

Schon in der Bibel können wir davon lesen:

Die Israeliten, die vor dem Hunger nach Ägypten fliehen, an die "Fleischtöpfe Ägyptens", wie es ausdrücklich heißt. Und dann ihr langer Weg durch die Wüste, auf der Suche nach dem "gelobten Land", in dem "Milch und Honig fließen".

Weil das Volk Israel so lange unterwegs war, wundert es auch nicht, dass die Bibel ausdrücklich zum verantwortungsbewussten, ja: liebevollen Umgang mit den Fremden mahnt (3. Mose 19,33‒34):

"33 Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. 34 Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott."

"Erinnere dich!", so lesen wir hier, "erinnere dich, dass du selber auch einmal ein Fremdling warst: vor langer Zeit machten sich deine Vorfahren auf den Weg, um ein neues Land, eine neue Heimat zu gewinnen! Und darum: Behandle den Fremdling ordentlich, denn du warst selber einmal einer!"

Wenn wir heute, in dieser Gemeinschaft, Gottesdienst miteinander feiern, dann sind Menschen vieler unterschiedlicher Nationen als Gemeinde zusammen. Nationen, die gewachsen sind, im Laufe der Zeit, oft in wechselvoller Geschichte. Nationen, die sogar gegeneinander standen, sich befehdeten, und die lange brauchten, um zum versöhnten Miteinander zu finden.

Vor allem aber kommen wir alle aus Nationen, die erst wachsen mussten: aus Völkern, Sippen und Stämmen, in Völkerwanderungen, die sich nicht nur über Jahrhunderte hinzogen, sondern die uns auch in vielerlei Hinsicht zu Verwandten gemacht haben:

Schon immer waren in Europa Menschen unterwegs, von Ost nach West, von Nord nach Süd – und umgekehrt. Schon immer haben Menschen nach einem neuen Ort gesucht, an dem sie leben können. Und stets haben wir einander dabei bereichert.

Ich selber, zum Beispiel, lebe mit meiner Familie seit anderthalb Jahren in Berlin. Geboren bin ich in Frankfurt, gearbeitet habe ich lange Zeit im Südwesten Deutschlands, in Süd-Nassau. Nun sind wir nach Berlin gezogen.

Berlin: Mir scheint, diese Stadt ist wie kaum eine andere in Deutschland ein Sinnbild für das Zusammenwachsen von Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Und das, was heute das Besondere an Berlin ist: seine Gelassenheit und seine Offenheit im Umgang mit Menschen – ja, mit dem Leben überhaupt –, verdankt die Stadt dem Zusammenwachsen von so vielen unterschiedlichen Menschen, die über die Jahrhunderte in die Stadt kamen.

Als Beispiel dafür möchte ich an die Hugenotten erinnern, weil es hier, an diesem Ort, ganz besonders ins Auge fällt.

Die Hugenotten, wie man die französischen Calvinisten nannte, waren im katholisch geprägten Frankreich des 16. und 17. Jahrhundert zahlreichen Ressentiments ausgesetzt, die unter Ludwig XIV. durch sein Edikt von Fontainebleau (18. Oktober 1685) ab 1685 einen Höhepunkt erreichten und eine Fluchtwelle von etwa einer Viertelmillion Hugenotten in die protestantisch dominierten Gebiete in Europa und Übersee auslösten.

Auch in meiner hessischen Heimat ließen sich Hugenotten nieder und bauten dort, unter anderem, die Hanauer Neustadt.

Mit dem Edikt von Potsdam (29. Oktober 1685), mit dem der "Große Kurfürst" Friedrich Wilhelm ihnen besondere Privilegien gewährte, zogen 20.000 Hugenotten nach Brandenburg-Preußen. Der Transport nach Brandenburg war gut organisiert, und die französischen Protestanten siedelten sich vorwiegend in Orten in einem Umkreis von etwa 150 km um Berlin an, die größte französische Kolonie entstand in der Hauptstadt selbst. Dort gehörte im Jahre 1700 von insgesamt 28.500 Einwohnern etwa jeder fünfte zu den geflüchteten Franzosen.

Es liegt auf der Hand, dass es – bei allem Wohlwollen, das man ihnen entgegen brachte – nicht immer einfach für die Flüchtlinge war, sich in Berlin heimisch zu fühlen. Sie stießen auch auf Ablehnung. Ihr Aussehen war ungewohnt, ihre Sprache unverständlich, die Religionsausübung fremd. Mit ihrem Eintreffen wurden Wohnraum und Lebensmittel knapp, Preissteigerungen waren die Folge. Wichtiger noch: Man neidete den Zugereisten ihre Privilegien. Hier und da gab es sogar offene Auseinandersetzungen.

Doch trotz dieser Schwierigkeiten wurden die Hugenotten heimisch. Ihre allmähliche Integration wurde möglich durch ihre Wirtschaftskraft, und durch die neuen Ideen, die sie mitbrachten, im Wirtschaftsleben ebenso wie in Kultur, Religion und Lebensgewohnheiten. Sie befruchteten und beförderten Berlin und, darüber hinaus, ganz Preußen. Ohne die französischen Protestanten wäre Berlin nicht die multikulturelle Stadt geworden, die sie ist.

Und um auch dies noch zu erwähnen:

Für die Hugenotten hatte Preußen als Zufluchtsort durchaus biblische Dimensionen. Die französischen Glaubensflüchtlinge nannten ihren neuen Wohnsitz in Anlehnung an das Alte Testament "terre de Moab", denn sie fanden hier ebenso Zuflucht wie die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten im Land der Moabiter, bevor ihnen der Einzug ins Land Kanaan gestattet wurde. Heute ist dieser Ort ein Bezirk in Berlin und heißt "Moabit".

Und schließlich verbindet sich gerade auch für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr so mancher Familienname hugenottischer Abstimmung mit ihrem Dienst, zum Beispiel "De Maiziere" oder "Baudissin".

Dieses Beispiel von Flucht und Integration, vom Verlassen der alten Heimat und dem Sesshaftwerden in einer neuen, und vom dem Reichtum, den die neue Heimat damit gewinnen kann, wirtschaftlich, religiös und kulturell, ist deshalb so interessant, weil es uns in unserer jetzigen Situation die Augen öffnen kann:

Wir stehen heute in Europa vor ähnlich großen und umwälzenden Herausforderungen, die dadurch entstehen, dass Menschen ihre angestammte Heimat verlassen mussten, und bei uns eine neue Heimat suchen.

Darum ist diese Erinnerung aus dem Alten Testament so hilfreich: "Ihr seid auch [einmal] Fremdlinge gewesen!": "Vergesst darum nicht, wie es ist, wenn man sich auf den Weg machen muss, um ein neues Leben zu finden, für sich und seine Familie."

Für das Alte Testament ergibt sich daraus eine klare Forderung, ohne Wenn und Aber: "Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken! Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst!"

Vor diese Aufgabe sind auch wir gestellt: Uns den Fremden nicht zu verschließen, sondern alles zu tun, was möglich ist, und was nötig ist, um Integration zu ermöglichen.

Damals, bei den Hugenotten, wie heute gibt es natürlich auch die Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten: die Angst, die Fremden könnten einem nehmen, was man selber gerade mit Mühe erreicht hat.

Deswegen folgt der Forderung des Alten Testaments auch unmittelbar eine Zusage: "Ich bin der HERR, euer Gott", "der euch aus Ägyptenland geführt hat, in eine neue Heimat".

Gott ist bei uns, wenn wir seine Hilfe brauchen, wie er bei unseren Vorfahren war. Wir sind geborgen bei ihm, und wir finden in dieser Geborgenheit die Kraft, auch große Aufgaben zu bewältigen.

Wir gehören zu Gott. Wir sind nicht zuerst Bürger unserer Nationen, sondern zuerst Bürger in seinem Reich. Wir dürfen darauf vertrauen: Gott nimmt sich aller Menschen an! Gott nimmt sich auch unserer Ängste an!

Das Maß an Integration, das die große Zahl der Flüchtlinge, der "Fremdlinge" unserer Tage, erforderlich macht, wird uns vor große Herausforderungen stellen. Aber im Glauben finden wir die Kraft, unseren Teil daran zu leisten, dass diese Integration gelingen kann.

So spricht der Herr: "Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid" (2. Mose 23,9). Und: "Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan" (Matthäus 25,35b.40b).

Amen.

Perikope
Datum 17.06.2016