1 Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. 2 Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.
Liebe Universitätsgemeinde,
vordergründig betrachtet hat unser Predigttext nichts mit Weihnachten zu tun. Und doch berührt er weihnachtlichen Erfahrungen. Diese haben mit dem Kindsein zu tun – dem neugeborenen Jesus, unserem eigenen Kindsein und dem Kind-Gottes-Sein. Darüber will ich mit Ihnen zusammen nachdenken.
„Seht!“ Mit dieser Mahnung beginnt der Text. Eindringlich fordert uns Johannes auf, genau hinzusehen und nicht blind durch die Gegend zu laufen. Seht hin! Seid nicht blind für das, was an Weihnachten geschieht! Macht nicht einfach weiter im alten Trott, sondern merkt auf, seht, nehmt wahr! Gott kommt in diese Welt, Gott will dieser Welt helfen, die in diesen Pandemie-Zeiten so bedroht und dunkel wirkt. Gott will die Welt zu einem Ort der Liebe und des Lichtes machen. Und er setzt alles dafür ein – Gott besucht uns und kommt uns nahe.
Weihnachten erzählt vom Kommen Gottes in die Welt. An Weihnachten steht nicht ein König oder Kanzler und schon gar kein Professor im Mittelpunkt, sondern ein Neugeborenes, ein schwaches verletzliches Kind. Es ist die Geburt dieses Kindes, das die Nacht in Bethlehem erhellt und Himmel und Erde in Bewegung bringt.
Warum zwingt diese Geburt die Welt dazu, neu aufzumerken? Ich denke, jede Geburt ist etwas Wundersames. Ein Neugeborenes beansprucht die Aufmerksamkeit seiner Eltern ganz und gar. Es fragt nicht danach, ob es passend oder unpassend kommt, es ist einfach da. Es will nicht gefallen und kennt noch keine Erfolgsstrategie – es ist einfach da, vollkommene Präsenz.
Durch dieses „ganz in der Welt sein“ helfen uns Kinder, unsere üblichen Verhaltensmuster zu durchbrechen. Wir lachen mit einem Kind, machen Faxen, um es zum Lachen zu bringen, wir lassen uns verzaubern vom Lächeln eines Kindes, wir werden offen für Dinge, die wir im Alltag leicht übersehen. Ein Kind fordert uns heraus und lässt uns unsere eigene Lebendigkeit spüren.
Deshalb: Seht das Kind in der Krippe, seht, was an Weihnachten geschieht. Gott überlässt uns nicht uns selbst, sondern berührt unsere Herzen, dass sie sich öffnen für das Kind in der Krippe, für das Lachen, für den Neuanfang, für die Hoffnung, die sich mit diesem Kind verbindet.
Mein zweiter Gedanke schließt daran an. „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!“
Wir sind Gottes Kinder. Nicht nur der kleine Jesus ist ein Kind Gottes. Auch wir sind Kinder Gottes. Wir haben uns so an diese Bezeichnung gewöhnt, dass wir gar nicht mehr bemerken, was in ihr steckt: Kind Gottes sein, mit Gott verwandt sein, Gott ähnlich sein – eine unglaubliche Wertschätzung und Achtung steckt in dieser Bezeichnung.
Wissen Sie noch, wie es war, Kind zu sein? Für viele von uns ist das schon lange her. Manche denken sehnsuchtsvoll an ihre Kindheit zurück, andere sind vielleicht froh, dass sie ihre Kindheit gut überstanden und hinter sich gebracht haben. Wir bleiben Kinder, auch als Erwachsene, jedenfalls solange die Eltern leben. Als meine Eltern starben, empfand ich das als tiefgreifenden Einschnitt: Jetzt bin ich nicht mehr Kind, dachte ich. Eine Freundin sagte damals zu mir: Jetzt bis Du Waise. Eigentlich sagt man das nicht mehr bei längst Erwachsenen, aber tatsächlich empfand ich das ein wenig so. Es brach etwas Grundlegendes in meinem Leben weg. Ich fühlte mich meinen Eltern immer eng verbunden, habe ihnen immer gern erzählt, was passiert, und war dankbar zu wissen, dass sie an mich denken, für mich beten und Anteil daran nehmen, was in meinem Leben geschieht. Deshalb fehlt es mir bis heute, dass ich nicht mehr das Telefon in die Hand nehmen, sie anrufen und ihnen erzählen kann.
Weihnachten heißt: Wir sind Gottes Kinder. Wir dürfen auch als Erwachsene Kind sein und das Kind in uns wahrnehmen. Jesus sagt: Werdet wie die Kinder. Habt dieses Vertrauen, diese Unbekümmertheit, diese Präsenz, die Kindern eigen ist.
Johannes weiß, dass es uns schwer fällt, zu glauben. Wir müssen nicht nur sorgenvolle Erwachsene sein, sondern dürfen auch Kinder sein, Kinder Gottes allzumal – deshalb schiebt er der Rede von den Kindern Gottes noch eine etwas pathetische klingende Bestätigung hinterher: „und wir sind es auch!“ Ja, wir sind es auch. Auch wenn es uns nicht leichtfällt, darauf zu vertrauen: Wir werden von Gott begleitet und behütet, wir werden geliebt, wahrgenommen, geachtet und mit Freude angeschaut. Wir werden getröstet in Traurigkeit, getragen, wenn wir nicht mehr weiterwissen, mit Kraft beschenkt, wenn uns Schwäche niederdrückt und uns Zweifel quälen. In aller Dunkelheit und Gebrochenheit der Welt sagt uns Weihnachten: Du bist Gottes geliebtes Kind!
Mein dritter Gedanke: Gott kommt im Jesuskind nicht nur im Stall von Bethlehem zur Welt, sondern auch in uns. Meister Eckart, der große Mystiker aus dem 14. Jahrhundert, hat diesen Gedanken entfaltet. Meister Eckart verstand Weihnachten weniger als historisches Ereignis, sondern als einen Prozess, der sich immerfort ereignet. Es geht an Weihnachten nicht nur um die Geburt des Sohnes Gottes, sondern auch und vor allem um die Geburt Gottes in meiner Seele. Meister Eckart fragt: „Was hilft es mir, dass diese Geburt immerfort geschehe und doch nicht in mir geschieht? Dass sie aber in mir geschehe, daran ist alles gelegen.“ Eckart spricht davon, dass der Geist Gottes in uns aufblüht und uns zum Leuchten bringt. Dieser Geist Gottes hebt unsere Seele empor. Bei Eckart hat das nichts Angestrengtes und Bemühtes. Erfahre ich mich als Kind Gottes, dann bin ich daheim, dann erfahre ich mich gehalten in einem letzten Grund.
Die Geburt Gottes ist für Eckart ein Prozess, in dem wir uns nicht nur als geliebte Kinder Gottes erfahren. Vielmehr macht es uns selbst zu Liebenden und Schenkenden. Aus dem Gehaltensein wächst die Hoffnung, die Welt verändern zu können, aus dem unerschütterlichen Vertrauen in das Gute resultiert die Zuversicht, dass vieles wieder heil werden kann. So strahlt die Erfahrung der Gottesgegenwart auf unser Leben aus. An Weihnachten wird Gott geboren – auch in mir.
Mein letzter Gedanke: Weihnachten ist Weltunterbrechung, so formuliert es Armin Nassehi. An Weihnachten feiern wir Gottes Gegenwart, indem wir Kerzen anzünden, Lieder singen, indem wir uns beschenken, in fröhliche Kinderaugen blicken, festliche Musik hören, indem wir zusammen essen und trinken. Weihnachten ist Weltunterbrechung. Am 24. Dezember abends findet die sonst so umtriebige Gesellschaft einen einzigartigen Ruhepunkt. Für kurze Zeit werden fast alle Systeme runtergefahren, wird alles langsamer und ereignisloser. Darin ist Weihnachten geradezu subversiv. Die Routinen und Alltäglichkeiten werden in Frage gestellt. Der Hochmut der großen Sprecher und Mächtigen wird wenigstens zeitweise leiser, wenn er nicht ganz verstummt. Um auf ein Kind zu hören, um uns selbst als Kind Gottes zu erfahren, um Gottes Gegenwart zu feiern und uns zu öffnen für das Aufblühen des Geistes Gottes in unserer Seele. Genießen wir diese Weltunterbrechung. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt wird kurz vor Weihnachten im Universitätsgottesdienst der Ruhr-Universität gehalten. Die Pandemie ist prägend, zugleich ist gerade vor diesem dunklen und irritierenden Hintergrund die Sehnsucht nach Geborgenheit wie Kinder sie erleben und einem Weihnachtsfest als Weltunterbrechung groß.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Meister Eckart und das Nachdenken über das eigene Kindsein und zugleich Kind Gottes zu sein.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Weihnachten ist Weltunterbrechung. Und: Gott kommt in meiner Seele zur Welt, die dadurch aufblüht.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Für mich war in der Überarbeitung besonders wichtig, dass ich den recht abstrakten und schwierigen Predigttext mit weihnachtlichen Erfahrungen in Verbindung bringe und die Predigt klar in vier „moves“ gliedere. Den Hinweis auf Meister Eckart – und damit auf ein prozesshaftes Weihnachtsverständnis von der Geburt Gottes in meiner Seele – verdanke ich einem kritischer Leser, der mich auf diesen faszinierenden mystischen Gedanken hinwies.