Weißt du noch? - Predigt zum 1. Johannesbrief 4,7-12 von Claudia Bruweleit
4,7-12

„Weißt Du noch? – So viele ‚Weißt-Du-noch‘ gibt es in Eurem Leben“. So beginnt eine erwachsene Tochter ihre Festrede auf der Goldenen Hochzeit ihrer Eltern. „Weißt du noch, wie es war, als du sie das erste Mal geküsst hast, fragt sie. „Weißt du noch, wie ihr dieses Haus gebaut habt und eingezogen seid, als noch gar nicht alles fertig war? Weißt du noch, wie wir in die Ferien fuhren und dann ging das Auto kaputt und es musste in die Werkstatt und wir kamen erst einen Tag später los und es wurden doch ganz wunderbare Ferien.”

Sie erzählt von schönen Momenten und von traurigen. Vom Lachen und Weinen, das ihre Eltern und sie und ihre Geschwister miteinander geteilt haben. Nach und nach entsteht so ein Bild von der Liebe, die diese Menschen verbindet. Sie ist lebendig und schön, das kann man hören und sehen an diesem Tag. Sie zeigt sich als romantische Liebe in den ersten Begegnungen der jungen Brautleute und dann scheint sie hindurch als tätige Liebe im Miteinander der Familie, rettet den verpatzten Ferienbeginn, weil sie es alle mit Humor miteinander ertragen, weil sie einander unterstützen. Sie scheint auf in den Erzählungen von Festen mit den Nachbarn. Das Paar, die Kinder, die Freunde feiern das Leben. Und die Gäste freuen sich mit dem Jubelpaar. Sie seufzen und verdrücken ein paar Tränen der Rührung und denken an ihre eigenen Geschichten von Liebe und Zärtlichkeit, von Ehe und Partnerschaft – sie denken an die Menschen, die sie lieben oder die sie einmal geliebt haben.

Menschen können gut leben, wenn sie spüren, dass sie geliebt werden. Es wird dann selbstverständlicher für sie, andere zu lieben, mit anderen mitzufühlen und zu helfen.

Wie kann man Liebe finden, die trägt? Und was hat das mit Gott zu tun?

„Liebe ist das Einzige, was wächst, indem wir es verschwenden“ hat die Dichterin Ricarda Huch gesagt – und damit vielleicht das gemeint, dass Liebe immer das Erste ist. Etwas, das wir geschenkt bekommen, das da ist, zu Beginn unseres Lebens, in den Augen, in den Armen der Mutter, des Vaters. Wir schöpfen daraus ein Leben lang, geben es weiter, teilen es aus – und lassen es wachsen, ein Leben lang. Wo Liebe wächst, gelingt das Leben. Das hat mit Gott zu tun, sagt Johannes. Denn Gott ist die Liebe. Gottes Liebe kommt uns in anderen Menschen entgegen und geht auf andere über, wenn wir sie annehmen und verschwenden.

Vielleicht ist es ein Fest, auf dem er diese Rede erstmals hält. Vermutlich ist es aber eher eine Krise in der Beziehung dieses Gemeindeleiters Johannes zu seinen Leuten. Denn in der Gemeinde dieses Briefschreibers knirscht es zwischen zwei Gruppen. Es gibt Rivalitäten. Und die ersten Christinnen und Christen werden kritisch beäugt oder offen angefeindet von anderen Gruppen in ihrer Gesellschaft: Von den herrschenden Römern, deren Kaiser sie nicht als Gott verehren wollen und von den Juden, die auf den Messias warteten und es als grundsätzliche Kritik verstehen, dass diese Gemeinden den Auferstandenen als Messias verehren.

In dieser schwierigen Situation macht Johannes die Liebe zu einem Markenzeichen seiner Gemeinde. An der Liebe ist Gott zu erkennen. Ja, Gott ist Liebe – mehr als alles andere ist er Liebe. So sieht es Johannes. Zwar ist Gott auch heilig. Zwar ist Gott auch allmächtig. Zwar ist er auch allwissend. Zwar ist er auch furchteinflößend – denn wir verstehen nicht immer, was er tut. Aber vor allem ist er Liebe – und gibt sich in Jesus von Nazareth den Menschen zu erkennen.[1] Seine anderen Eigenschaften lassen ihn fremd und unnahbar erscheinen. Martin Luther hat gesagt, dass Gott darin verborgen ist. Er ist Gott, aber wir sehen ihn nicht. Er ist da, aber wir verstehen ihn nicht. In Jesus von Nazareth, seinem Sohn, den er in die Welt geschickt hat, hat er sich zu erkennen gegeben als einer, der uns Menschen unendlich liebt. Er wollte und er will uns Menschen ganz nah sein. Er hat sich selbst liebenswert und verwundbar gemacht – er selbst starb in Jesus und erweckte ihn zu neuem Leben – damit wir Menschen spüren und wissen sollen, dass Gott uns liebt. Darum, empfiehlt Luther, sollen wir uns immer an den liebenden Gott halten, wenn wir an Gott denken. Denn: „Gott teilt sein Wesen nicht nur als Liebe mit, sondern Liebe ist die einzige Eigenschaft, die an die Stelle des Ausdrucks ‚Gott‘ treten kann“.[2] Nur darin ist er zweifelsfrei zu erkennen. Grenzenlos ist diese Liebe. Sie endet selbst im Tod nicht.

Darum ist die Liebe zu einem Erkennungszeichen der Christen geworden. Wer Liebe erfahren hat und die Verbindung zu Gott gezogen hat, der versteht sich selbst eingebettet in Gottes Handeln in dieser Welt.
Menschen lassen sich verändern durch Gottes Liebe. Sie sagen und zeigen: Gott ist es, den wir in dieser Kraft erleben. Er ist uns nahe, wenn wir Liebe spüren. Nicht nur die romantische Liebe, sondern auch die mitfühlende Liebe. Die helfende Liebe. Die, die vom anderen her denkt und hilft, dass einer sich selbst überwindet und für einen anderen, eine andere da ist. Gottes Liebe wird sichtbar da, wo solches geschieht. Sie wird sichtbar, wenn Menschen rücksichtsvoll und liebevoll miteinander umgehen. Sie wird sichtbar, wenn Menschen Fremden ohne Vorbehalte entgegen treten und sie einladen. Wo beides zusammenkommt, Liebe und liebevolles Handeln.

Johannes macht seinen Gemeindegliedern Mut, die Liebe zu zeigen, die in ihnen ist. Und sie als ein Markenzeichen zu verstehen. Johannes appelliert an ihren Verstand – sie sollen das, was sie glauben, bewusst tun: liebevoll mit anderen umgehen. Man kann daran ihren Glauben erkennen. Lieben ist nicht nur Geschenk, es ist für Johannes eine Aufgabe, eine lebenswichtige Aufgabe seiner Gemeinde. Denn Gott wird sichtbar, wo Menschen ihn wirken lassen.

Weißt du noch – könnte er sie erinnern. Weißt du noch, wie ich euch von Jesus Christus erzählt habe und du hast gespürt, dass es hier auch um dich geht. Du hast dein Leben besser verstanden. Und nun fang an und setze es um. Wenn du spürst, dass Gott dich liebt, dann lässt es dich nicht kalt, ob in unserer Gemeinde jemand ist, der krank liegt und sich nicht selbst versorgen kann. Dann wirst du einen Weg finden, ihm zu helfen. Das hat dann sehr viel mit Gott zu tun.

Johannes hat davon in seinen Briefen mit großer Begeisterung geschrieben. Er hat nicht von einzelnen Begegnungen erzählt, von Lebensgeschichten, die uns heute hineinnehmen könnten in diese Begeisterung. Weißt du noch – das ist eine sehr persönliche Frage. Für jeden ist sie anders. Johannes versuchte, das herauszufiltern, was für alle gilt.

„Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns.“

Über dieses Wunder können wir heute für uns nachdenken, und uns fragen: Weißt du noch?

Dann würde ich sagen: Ja, ich weiß noch, wie ich am Sterbebett der alten Frau mit ihrem Mann stand und den Psalm gelesen habe, der anfängt: „Der Herr ist mein Hirte“ (Ps 23,1). Wir haben das Vater Unser gebetet. Ganz ruhig und gelöst wurde die Sterbende dabei. Ja, ich weiß es noch, dass sie danach tief ausatmete und starb. Es hat mich sehr berührt. Und ich spürte, es war gut so, da war viel Liebe um sie herum. Liebe zwischen diesen beiden Eheleuten, aber auch Liebe zwischen Gott und ihr. Eine Liebe, die ihr Vertrauen gab, sich auf den Weg über die Grenze des Lebens hinaus zu begeben.

Weißt du noch? Ja, ich weiß noch, wie wir einmal mit Frauen und Männern unserer Partnergemeinde in Afrika einen Familiengottesdienst feierten, und wie der schwarze Pastor und der weiße Pastor abwechselnd die Konfirmandinnen und Konfirmanden unserer Gemeinde tauften. Es war eine sehr fröhliche Stimmung. Und am Ende des Gottesdienstes hatten beide in kleinen Schalen etwas Taufwasser bei sich und zeichneten denen, die es wollten, ein Wasserkreuz in die Hand und segneten sie. Da habe ich gespürt, dass Gottes Liebe sehr unterschiedliche Menschen bewegt, uns auf geheimnisvolle Weise verbindet und das Leben schön macht.

So viele „Weißt-du-noch“ haben Menschen gesammelt über Liebe, die von Gott kommt und die wächst, wenn wir sie weitergeben. Die wächst, indem wir sie verschwenden. Unerschöpflich ist Gottes Liebe. Jeder einzelne Moment unseres Lebens hat diese Qualität, hat das Zeug dazu, ein „weißt-du-noch“-Moment zu werden, der von Liebe erzählt und von Gottes Weg mit uns. Denn Gott geht jeden Schritt mit.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie das spüren können und sich darüber freuen. Amen.

 

 

[1] Diesen Gedanken führt Arnulf von Scheliah in seinem Artikel „Wie der Mensch Gott erfährt. Zwischen Vernunft und Frömmigkeit. Schleiermachers Antwort auf die Gottesvorstellungen der Aufklärung“ aus. In: Gott neu vertrauen. EKD Das Magazin zum Reformationsjubiläum 2017, S. 32. Siehe auch: www.gott-neu-vertrauen.de

[2] Arnulf von Scheliah, ebd.

Perikope
21.08.2016
4,7-12