“Zwei Reiche” und Himmelfahrt – was beide miteinander zu tun haben
Liebe Gemeinde,
Gestern, am 4. Mai, galoppierte ein Trupp bewaffneter Reiter auf die Reisegruppe eines christlichen Geistlichen zu, ergriff diesen und verschwand im Busch so schnell, wie gekommen. Am 4. Mai. Vor 495 Jahren. Dr. Martinus, auf dem Heimweg vom Wormser Reichstag, blieb fortan monatelang verschollen. Erst 1522 kehrte er aus der Wartburg nach Wittenberg zurück. Hut ab vor dem sächsischen Kurfürsten, der sich gegen Reichsacht und Kaiser stellte und ihn als Junker Jörg versteckte. Respekt dem Mönchlein, der dem weltlichen Druck widerstand, seine Schriften auf dem Reichstag zu widerrufen. Er habe nicht Autoritäten, vielmehr seinem Gewissen zu folgen und sei weder durch Vernunft noch Schrift überzeugt worden.1 So hatte er in Worms getönt und prompt einen Maulkorb verpasst bekommen. Vogelfrei, nicht meinungsfrei. Vernunft und individuelles Gewissen, keine Autoritätshörigkeit, vielmehr das Hinhören auf die Schrift in vor Gott selbstverantworteter Lektüre. Hier glühte eine Lunte für Sprengstoff der folgenden Jahrhunderte. Für ein Befreien des Geistes! Kein weltlich Reich sollte Fragen des Glaubens, Denkens und Gewissens entscheiden. 1523 schrieb Luther: „Das weltliche Regiment hat Gesetze, die sich nicht weiter erstrecken als über Leib und Gut und was äußerlich auf Erden ist. Denn über die Seele kann und will Gott niemand regieren lassen als sich selbst allein.“2
Später, im 20. Jahrhundert, wurden solche und ähnliche Äußerungen der Reformatoren und ihrer Nachfahren unter dem Begriff der Zwei-Reiche-Lehre zusammengefasst. Ein Lehrkomplex – nicht einheitlich in der Entwicklung, oft missverstanden, doch in etlichen Aussagen aktuell. So räumte bereits die reformatorische Theologie des 16. Jahrhunderts ein, dass das weltliche Regiment auch von Nichtchristen ausgeübt werden könne und dann von Christen anzuerkennen sei. Die weltliche Gewalt werde nicht durch das geistliche Amt verliehen. Oder: Christliche Untertanen hätten zu widerstehen, wenn weltliche Gewalt gemeinsam geteilte Werte und Rechte verletze. Im Dritten Reich erinnerten die Stillschweiger sich selten daran. Oder: Ist die weltliche Obrigkeit christlich (bzw. religiös), habe sie sich einzusetzen für eine äußere Friedensordnung, die allen Geschöpfen zugute komme. Das können wir alles heute unterschreiben. Hoffentlich demnächst auch alle Europäer wieder – und die, die es werden wollen.
Am Himmelfahrtstag soll uns ein Aspekt näher beschäftigen: das verbreitete Missverstehen, die „Zwei-Reiche-Lehre“ bedeute, dass der Glaube sich auf das innerlich-private Gottesverhältnis zurückzuziehen habe. Im Gegenteil, der Zwei-Reiche-Lehre zufolge weiß eine Christin, dass sie zwar am Gemeinschaftsleben zweier Reiche teilnimmt – dem der christlichen Glaubensgemeinschaft und dem der Gemeinschaft aller Geschöpfe. Doch sie soll dabei einheitlich ausgerichtet sein in ihrem Leben, also auf der Basis ihrer Glaubensinhalte auch die gesamtgesellschaftliche Ordnung verantwortlich mitgestalten. Entsprechend vertreten heutige Kirchen eine öffentliche Theologie, melden sich zu gesamtgesellschaftlichen Fragen zu Wort und predigen auch politisch.3
Gibt es so etwas bereits in der Bibel? Blättern wir den Himmelfahrtstext auf – einen damals gegen Ende des ersten Jahrhunderts brisant politischen Text des Lukas. Uns heute wurde diese Erzählung fremd. Wir nehmen gerne den freien Arbeitstag mit, den Lukas uns bescherte. Aber was soll diese Auffahrt in den Himmel vierzig Tage nach Ostern, wo doch der Rest des Neuen Testaments die österliche Auferstehung als Erhöhung Jesu deutete?
Lukas 24: „Er führte sie hinaus nach Betanien, hob die Hände und segnete sie. Als er sie segnete, entfernte er sich von ihnen und wurde emporgehoben zum Himmel. Sie aber fielen anbetend vor ihm nieder, kehrten mit großer Freude zurück nach Jerusalem, waren allezeit im Tempel und priesen Gott.“ Amen.
Warum in aller Welt scherte Lukas mit dieser Erzählung aus dem Zeugnis des übrigen Neuen Testaments aus? Um der Welt willen. Um ein politisches Zeichen an das Ende seines Evangeliums zu setzen. Eines, das er zu Beginn der Apostelgeschichte wiederholte. Jesus wird als göttlicher Herr an die rechte Seite Gottes erhöht in einem Ereignis, das Lukas – gesondert von der Auferstehung4 – als Apotheose komponierte, hellenistischen Lesern vertraut. Ähnliches Entrücken Auserwählter aus dem Tod in den Himmel hinein wurde seit alters erzählt; im griechischen Mythos nicht zuletzt von Herakles, der auf dem Scheiterhaufen brannte. Erhöht in den Olymp, wandelte sich Herakles vom Heros zum Gott. Der römische Senat ehrte mit einer Apotheose den ermordeten Caesar und vier verstorbene römische Kaiser des ersten Jahrhunderts. Deren Bild stieg, so musste es jemand bezeugen, beim Verbrennen des Leichnams zum Himmel auf. Apotheosen wurden in der Kaiserzeit zum politischen Machtinstrument. Vom Senat beschlossen, signalisierten sie, was offiziell politisch akzeptabel – und was nicht. Der am Ende seiner Regentschaft verrufene Nero wurde nach seinem Tod nicht auf diese Weise geehrt, vielmehr schändlichem Vergessen anheim gegeben. Das Kaisertum politisierte die Apotheose, die Vergottung von Menschen.
Vor diesem Hintergrund schrieb Lukas. In seinem Text schwingt ein Stück Kritik am Vergöttlichen politischer Machthaber. Seinen Lesern zeigt die Himmelsfahrtgeschichte: Schaut her, hier ging der eigentliche Weltbeherrscher in die göttliche Sphäre ein – er heißt Jesus, unser Christus. Dieselbe unterschwellig politische Kritik ließ Lukas zu Beginn seines Evangeliums in seiner, ja, angeblich so harmlos idyllischen Weihnachtsgeschichte verspüren. Christus sei der eigentliche Friedensstifter, nicht der Kaiser mit seiner Pax Romana. Christus sei der eigentliche „Kyrios“ – was auch des Kaisers Titel war –, also der eigentliche „Herr“, dem göttliches Verehren gebühre. Bei seiner Auffahrt in den Himmel warfen die Jünger sich vor ihm auf den Boden und beteten ihn an. So wie das gemeine Volk, wenn der Kaiser eine Stadt besuchte. Mit derselben Proskynese (Anbetung).
Lukas markierte die Schmerzgrenze der christlichen Loyalität gegenüber dem kaiserzeitlichen Staat. Sie verlief dort, wo Potentaten sich in göttlichen Sphären wähnten, sich verehren ließen wie ein Domitian, der sich schon zu Lebzeiten als „Herr und Gott“ begrüßen ließ und auf Kritik an seiner Person dünnhäutig reagierte; sie als Majestätsbeleidigung strafrechtlich verfolgte. Lukas schrieb unter seinem Regime. Wenn immer Menschen gottähnlich verehrt werden, setzen lukanische Christen dagegen, dass allein Christus und Gott göttliche Ehre gebühre und – nach sokratischer Devise (Plato, Apol. 29d) – Gott mehr als den Menschen zu gehorchen sei (Apg 5,29; 4,19; auch Dan 17-18).
Lukanische Christen begreifen die christliche Glaubensgemeinschaft als eine Lebensform, die der Gesamtgesellschaft Alternativen anbietet. Lukas entwirft eine christliche Gemeinschaft, in der religiöse Auren weltlicher Potentaten entzaubert sein dürfen. Er entwirft darüber hinaus eine Christengemeinschaft, in der Eigentum sozial verpflichtet;5 heute steht dies im Grundgesetz (Art. 14.2). Heutige Christen probieren alternative Formen des Zusammenlebens der Generationen aus oder integrative Lebensformen mit Asylanten und stellen sich gegen Zukunftsangst. Es ist ein solch konstruktives Verhältnis von kirchlicher Gemeinschaft und Gesamtgesellschaft, das durch die Zwei-Reiche-Lehre gedeckt ist. „Suchet der Stadt Bestes“, so Jeremia (29,7). „Ihr seid das Salz der Erde“, so Matthäus (5,13).
Aber damit ist zur christlichen Verantwortung für die Gesamtgesellschaft noch nicht alles gesagt. Besinnen wir uns auf Himmelfahrt als das Fest des sich entziehenden Gottes, der Welt und ihrer Reichweite entschwindend! Weihnachten und Pfingsten feiern wir den Gott-mit-uns, den Immanuel, der sich in die Mitte unserer Niedrigkeit hinab begibt, uns dicht an die Seite tritt. Heute zur Himmelfahrt gedenken wir einer anderen Seite Gottes, einer ebenso wichtigen: des Entzogenseins. Himmelfahrt ist der Tag des ratlosen Hinterherschauens. Des nicht mehr Heranreichen-Könnens an einen Gott, der sich meinem Zugriff entzieht und so seine Souveränität mich spüren lässt.
Theologen wie Paulus waren sich bewusst, den von ihnen verkündeten Gott nie in Sätzen einfangen zu können, immer nur unter Vorbehalt zu formulieren und im tiefen Grunde theologisches Reden nur in Gebetssprache verantworten zu können – so wie Augustin in den Confessiones. Aber selbst in der Anredeform galt: „Sei nicht schnell mit dem Munde..., etwas vor Gott zu reden. Denn Gott ist im Himmel und du auf Erden. Darum lass deiner Worte wenige sein.“ „Wie du den Weg des Windes nicht kennst..., vermagst du Gottes Tun nicht zu überblicken“. So der Prediger Salomonis (5,1-2.11; 11,5; 8,8).6
Wenigstens latent waren Juden und Christen, auch der Islam seit jeher sich bewusst, mit ihren Gottesaussagen nicht den Anspruch zu erheben, dem göttlichen Gegenüber ein ähnliches Abbild abzuringen. Über der Schwelle der drei monotheistischen Religionen hängt das Abbild-Verbot. Stattdessen liegt bei allen dreien eine Schrift im Zentrum des gottesdienstlichen Raumes: Schrift vermag nur Zeichen zu sein, Hinweis, kein greifbares Kultbild. Als Ich-bin-der-ich-bin offenbart sich Gott, um sich auf diese Weise zugleich zu entziehen.
An Himmelfahrt blicken wir, unserer Grenzen bewusst, dem Entzogenen hinterher. So hoch der Himmel über der Erde, so unerreichbar Gott. An Himmelfahrt machen wir uns dies bewusst – diese Rolle der Demut, die davor bewahrt, hochmütig sich zum Beispiel als Heilbringer für die Gesamtgesellschaft aufzuspielen, der die Wahrheit gepachtet hätte. Ihr seid Salz der Erde, Licht der Welt, weit sichtbare Stadt auf dem Berge (Matt 5,13f). Diese matthäischen Metaphern stimmen kein Triumphgeheul an. Das wäre lächerlich – nicht nur angesichts der geschwundenen gesellschaftlichen Bedeutung der Kirchen. Diese Metaphern wollen aber anspornen, Verantwortung für die gefährdete Welt zu schultern – konstruktive Verantwortung. Nicht zu spalten, auszugrenzen, ernst zu nehmende Ängste ins Irrationale zu steigern und dabei Kreuzesfahnen zu schwenken. Wir Christen haben am Gemeinwesen aller Geschöpfe teil – wie andere Gruppen auch. Nicht mehr und nicht weniger. Kirchlich-christliche Herrschaftsansprüche gehören der Geschichte.
Himmelfahrt – das Fest des sich souverän entziehenden Gottes, der uns verwehrt, die Wahrheit über Gott wie einen Besitz nach Hause zu tragen. So hoch der Himmel, so fern Gott.
Und doch gilt zugleich: „So hoch der Himmel über der Erde, so (unermessbar reichlich) lässt Gott seine Gnade walten“, wie uns vorhin der Psalm 103 zusprach. Freuen wir uns deshalb auf Pfingsten, wo wir uns der Nähe des fernen Gottes vergewissern dürfen.
Der Friede Gottes bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu. Amen.
1 Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe II, n. 80, 581f.
2 M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit – wieweit man ihr gehorsam schuldig sei, Kap. 2, 1523; WA 11, 262. Weise Landesherren wie der religiös tolerante Wittgensteiner Graf Casimir zu Beginn des 18. Jahrhunderts hielten sich daran (siehe z.B. J. Burkardt & B. Hey, Hg., Von Wittgenstein in die Welt: Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz, Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 35, Bielefeld: Luther Verlag, 2009). Im Jahre 1777 schrieb Thomas Jefferson Religionsfreiheit zum ersten Mal in einen staatlichen Verfassungsentwurf hinein, in die „Virginia Statute for Religious Freedom“ – noch vor der Verfassung der USA, noch vor den Toleranzedikten Kaiser Josephs II in Wien (ab 1781), noch vor der französischen Revolution (ab 1789). In Europa gehört seither die freie Religionsausübung – mitsamt ihrer großen Schwester, der Meinungsfreiheit – zu den Grundrechten. Und wer zu diesem Europa gehören will, hat sich an sie halten.
3 Siehe mit weiterführender Literatur z.B. den leicht zugänglichen Artikel E. Herms, Art. Zwei-Reiche-Lehre/Zwei-Regimenten-Lehre, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 8 (Tübingen: Mohr-Siebeck, 2005), 1936-1941.
4 Diese war nur von jüdischen Voraussetzungen her (Dan 12 u.v.ö.) verstehbar.
5 Siehe z.B. P. Lampe, Athen und Jerusalem: Antike Bildung in frühchristlich-lukanischen Erzählungen, Vorlesungsreihe uni auditorium: Alte Geschichte, München: Komplett- Media, 2010, bes. 7-8 (auch als DVD).
6 Paulus verantwortete theologisches Reden nur „mit Zagen und Zittern“, wie er schrieb (1 Kor 2,3), als etwas Fragmentarisches, als in situationsgebundene Briefe Zerstückeltes. Dem zentralen Evangeliumsinhalt, einem Gekreuzigten, entsprach ein von Vorläufigkeit, von Schwäche gezeichnetes Verkündigen (1 Kor 2,1-5). „Nicht dass ich es ergriffen hätte, ich jage ihm nach“ (Phil 3,12). Theologie stand für Paulus unter der richtenden Kraft eines Gottes, der als Gegenstand der Theologie dieselbe immer wieder in Frage stellt, wenn es denn sinnvoll bleiben soll, von einem souveränen Gott zu reden.