Gewächshaus Vertrauen - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Henning Kiene
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Gewächshaus Vertrauen - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Henning Kiene

I. „Wer weiß…“
Sie legt die Zeitung vor sich auf dem Tisch ab. „Wer weiß, was da richtig ist?“, sagt sie mit ruhiger Stimme, zieht den Frühstückskaffee zu sich. Sie hat einen Bericht über Aserbaidschan und über die Menschenrechte dort gelesen. Der Wirtschaftminister ist zu sehen, ein Staatschef war zu Gast. Jetzt liegt die Tageszeitung aufgeschlagen da, der Regionalteil ist zu sehen, es geht um die Flüchtlinge in der nahe gelegenen Kaserne, die Feuerwehr hatte einen Gewitter-Einsatz. Eine Zeitung, aufgeschlagen auf dem Tisch, abgelegt, das wirkt wie ein modernes Stillleben. Sie war zur Arbeit weg. Sie geht immer als Erste.

In diesem „Wer weiß…“ schwingt eine Portion Misstrauen mit, als würde mit der Zeitung möglicherweise etwas nicht stimmen. Sollte man alles, was da berichtet wird, sicherheitshalber noch einmal überprüfen? Ein unspezifisches Misstrauen bleibt zurück. Lässt man das erst mal an sich herankommen oder in sich eindringen, dann frisst es bald das Vertrauen an. Wird jemand skeptisch, ziehen Gefahren auf. Ehen geraten in Gefahr, Partnerschaften bröckeln, wenn da so eine Art „wer weiß?“ -Frage auftaucht.

II. unspezifischer Verdacht
Wem schenke ich ein so wertvolles Gut, wie das Vertrauen es darstellt? Ich kenne die Menschen, denen ich vertrauen kann: Meine Familie, die alten und neuen Freunde, viele Kolleginnen und Kollegen, die zuverlässig sind, auf die kann ich mich verlassen. Auch auf die gute alte Tagesschau verlasse ich mich, meine Zeitung, die ich schon lange lese, weiß ich zu schätzen. Aber bei Facebook, da vertraue eigentlich nur den Freunden, wenn sie etwas posten, bei anderen wird es schon eng. Stimmt das, was ich da lese, eigentlich wirklich, oder sitze ich schon in einer Werbeveranstaltung in der Menschen und Meinungen nicht echt sind?  „Wer weiß…?“ - wenn sich dieser Gedanke einschleicht, beginnen gedruckte Worte und das, was gesagt wird, an Kraft einzubüßen.

Irgendwann erleidet durch dieses „wer weiß…?“ auch der Glaube an das Wort Gottes Schaden. Die Unsicherheit, die beim Zeitunglesen aufkommt, könnte sich auf andere Bereiche übertragen und sich in den Glauben hinein ausbreiten. Aufkeimendes Misstrauen bringt dann am Ende alles durcheinander.Das Wort Gottes, dessen vertrauter Klang meiner Sprache und dem Denken eine Richtung verspricht, gerät in dieses Gewirr mit hinein. So eine Stimmung, in der jemand sagt: „wer weiß, was da wirklich stimmt…?“, schafft eine Atmosphäre, in der ein unspezifischer Verdacht aufkeimt, der sorgt für weitreichendere Folgen, weitreichender als möglicherweise beabsichtigt war.

III. „von ihnen bin ich der erste“
Die Reformation vor 500 Jahren kannte diesen krisenhaften Moment. Sie begann mit ihm. Es herrschte überall solche Unsicherheit. Die Frage nach der Kraft, die Gott einem verleiht, blieb für viele Menschen gefährlich ungestellt. Die Stimme des Apostels war für viele Ohren verklungen. „Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der erste“, ging an den Menschen vorbei. Vielleicht war das zu ehrlich, zu einfach, zu dicht dran. Wer gibt das schon zu: Ich habe es nötig, dass mich da einer herausholt ohne, dass ich selber etwas hinzugeben kann. Wer lässt sich - ohne Wiedestand zu leisten - retten?

Die Frauen und Männer, die die Reformation in Bewegung setzten, wussten: Es liegt so viel Angst in der Luft, dass einem der Atem knapp werden kann. Alle fühlen sich von Gottes Gnade eher verlassen und denken nicht daran, sich neu überraschen zu lassen. Von einem Beschenktsein ist schon lange keine Rede mehr. Nur Angst vor dem Heute, dem, was kommt, dem danach. Da war keine Gnade, nur Enge, der Seele geht die Luft aus. Schon das Knacken im Kamin weckte den Verdacht, der Teufel sei im Haus.

So ein kritisches „wer weiß…?“ wird schnell zu einem Gift, wenn es in kleiner Portion ausgeteilt wird, , es betäubt ganz allmählich das Vertrauen in Menschen, Meinungen, Informationen, die Liebe und die Netzwerke, die einen tragen. Es beschädigt kurz über lang den Glauben und die Seele. Denn ohne neues Vertrauen aufbauen zu können, verkümmert das Leben komplett.

IV. Gewächshaus
Was wir heute aus der Bibel hören, öffnet so etwas wie einen Raum, in dem das Vertrauen wachsen kann. Von dem „verlorenen Sohn“ aus dem Gleichnis haben wir gehört. Da ist dieser Vater, der seinen heimkehrenden Sohn mit offenen Armen aufnimmt, und wer diese Arme spürt, wird nicht misstrauisch „wer weiß…?“ fragen wollen. Dieser Vater baut - wider jede Erfahrung - Vertrauen zu seinem Sohn auf und schenkt es ihm, einfach so. Und unwillkürlich frage ich: Wer sollte denn sonst beginnen, den Anfang zu suchen und das Vertrauen wieder herzustellen, wenn nicht der Stärkere? Ich sehe niemanden, der das könnte als nur ihn. Wie sollte jemand neu anfangen, wenn man ihn nicht wieder in das Leben hinein holte? Es braucht diese erste Geste.

Solche Geschichten sind wie ein Gewächshaus, in dem das Vertrauen reift. Da ist der Apostel Paulus: Er, der Lästerer, der die Christinnen und Christen verhöhnt und verfolgt, genau dieser Mann wird von Gott mit Vertrauen überhäuft. Ausgerechnet der Skeptiker erlebt, wie übergroß die Gnade Gottes ist: Größer, als er es sich vorstellen kann. In diese Atmosphäre sind wir hineingeraten.

Das Wort „Vertrauen“ geht mit dem Verb „schenken“ einher. Hier schenkt nicht der Apostel sein Vertrauen. Hier schenkt Jesus Christus.
Nicht der Sohn, der reumütig heimkehrt, schenkt Vertrauen, der Vater bringt es ihm entgegen.
Nicht der Apostel beginnt mit dem Glauben an Jesus Christus, Christus schenkt ihm den Glauben und damit auch das Vertrauen.
Hier wird etwas korrigiert: Mein Vertrauen wächst dadurch, dass man es mir schenkt und ich es nicht besitze. Ich bleibe nicht in meinen kritischen Fragen hängen, diesem skeptischen „wer weiß, ob das wirklich so ist?“ Denn hier entsteht ein Klima, in dem Wachstum möglich ist.

V. Präsidentschaft war glücklich
Mittags liegt die Zeitung noch immer auf dem Tisch, einige Frühstückskrümel noch um sie herum. Jemand hat die Zeitung zugeschlagen. Nun ist sie von vorne zu sehen. Auf dem Titel ein Bild des Bundespräsidenten. „Warum diese Präsidentschaft so glücklich war?“ wird geschrieben: Diesem Mann schenken die Menschen ihr Vertrauen. Er trifft den richtigen Ton, er greift die wichtigen Themen auf, er spricht so, dass ihn alle verstehen können. Er hat ohne viel Aufwand zu betreiben Vertrauen möglich gemacht und es so seinem Volk geschenkt und unser Volk hat es ihm zurückgegeben.

Da nimmt sie die Zeitung wieder zur Hand, betrachtet das Bild des alternden Präsidenten, beginnt wieder in ihrer Zeitung zu lesen. Was sie jetzt liest, klingt so ganz anders als das, , was sie vor der Arbeit gelesen hat. Hier kehrt ihr das Vertrauen zurück. Ein Bürgerpräsident geht, der unbequem, unbestechlich, sachlich und doch emotional sei, liest sie. Sie bleibt sitzen, studiert aufmerksam Wort für Wort und bleibt bei einem Satz hängen. „Ich freue mich auf die kommenden Monate und darauf, das in mich gesetzte Vertrauen weiter zu erfüllen“, sagte er am Montag. Offenbar wusste dieser Präsident sich von einem Vertrauen getragen, dass nicht er selber beschafft hatte, sondern, dass er, der Politiker, von seinen Bürgerinnen und Bürgern geschenkt bekommen hat. Sie lässt die Zeitung wieder liegen, aber schreibt mit großer Schrift für ihren Mann und die Kinder darauf: „Das müsst Ihr alle lesen.“