Gott ist ein Gärtner - Predigt über Johannes 20,11-18 von Christoph Dinkel
20,11

Gott ist ein Gärtner - Predigt über Johannes 20,11-18 von Christoph Dinkel

Prof. Dr. Christoph Dinkel
  Pfarrer
  
Gott ist ein Gärtner
Predigt über Johannes 20,11-18
  Ostersonntag, 31.3.2013
Der Predigttext für das Osterfest steht in Johannes 20,11-18. Es ist die Erzählung von der Erscheinung des Auferstandenen vor Maria von Magdala. Voraus gehen aber zwei andere Episoden und diese sollen nicht unerwähnt bleiben. Denn nach dem Johannesevangelium beginnt der Ostermorgen so:
Am ersten Tag der Woche kommt Maria von Magdala früh, als es noch finster war, zum Grab und sieht, dass der Stein vom Grab weg war. Da läuft sie und kommt zu Simon Petrus und zu dem andern Jünger, den Jesus lieb hatte, und spricht zu ihnen: Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grab, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben. (Johannes 20,1-3)
Liebe Gemeinde!
Das Grab ist leer und die Verwirrung ist groß. Maria sucht am Tag nach dem Sabbat als erste von allen Anhängern Jesu das Grab auf. Sie zieht es zum Ort des Todes, will sich vergewissern, dass alles wahr ist, was eigentlich nicht wahr sein kann: Jesus ist tot, verurteilt im Namen der Thora von der Jerusalemer Tempelaristokratie, gefoltert und hingerichtet im Namen des römischen Rechts und des römischen Friedens, verlassen von allen Freunden, verraten und verleugnet. Nur Maria von Magdala, Salome und die Mutter von Jesus hatten bis zuletzt zu Jesus gehalten und waren ihm bis unter das Kreuz gefolgt. Von Maria soll Jesus sieben Geister ausgetrieben haben Sie verdankt ihm Gesundheit und Freiheit. Maria gehörte zu den Frauen, die Jesus begleiten. (vgl. Lukas 8,3). Und nun ist Maria von Magdala auch die erste, die es zum Grab zieht. Aber das Grab ist leer und Maria ratlos. Sie läuft zu Petrus und berichtet ihm vom leeren Grab. Petrus und ein zweiter Jünger machen sich auf den Weg und bestätigen ihren Bericht. Das Grab ist leer. Doch mehr geschieht nicht. Die Jünger gehen wieder heim.
Das Grab ist leer – doch was soll man von einem leeren Grab halten? Die Berichte der Bibel dokumentieren recht deutlich, dass ein leeres Grab zunächst einmal gar nichts beweist. Maria geht weg vom leeren Grab und ist verwirrt. Die Jünger gehen weg und wissen ebenfalls nicht, was los ist. Für das leere Grab können verschiedensten Gründe vorliegen:

  Leichenraub durch die Gegner Jesu, die verhindern wollen, dass das Grab zur Märtyrergedenkstätte wird,
  Leichenraub durch die Jünger Jesu, die ein Schändung der Leiche durch Gegner verhindern wollen – oder:
  Verwechslung der Grabstelle.

Und dann gibt es noch eine ganz andere Möglichkeit, das leere Grab zu deuten: Denn vom leeren Grab wird weder bei Paulus, noch in irgendeinem anderen neutestamentlichen Brief, noch in der Apostelgeschichte, noch in der Johannesoffenbarung berichtet. Nur ein schmaler Traditionsstrom kennt die Grabesgeschichte, während sämtliche neutestamentliche Zeugen die von der Grabestradition unabhängigen Traditionen von der Erscheinung des Auferstandenen kennt. Zahlreiche Forscher gehen deshalb davon aus, dass es sich bei der Grabestradition um eine Legende handelt, die erst später und als Rückschluss aus den Erscheinungen entwickelt wurde: Wenn Jesus als Lebendiger erscheint, dann kann er nicht im Grab geblieben sein. Für diese Überlegung spricht auch, dass Gekreuzigte oder das, was die Vögel von ihnen übrig ließen, allenfalls verscharrt, aber nie begraben wurden.
Wir können die Frage des leeren Grabes aber durchaus offen lassen. Denn das Johannesevangelium verwendet die Grabtradition auf so originelle Weise, dass das Ergebnis dasselbe ist: Auf das Grab und auf den Leichnam kommt es nicht an. Der Auferstehungsglaube ist davon unabhängig. Doch dazu später mehr.
Wenden wir uns wieder dem Bericht des Evangelisten Johannes zu. Die zwei Jünger haben das leere Grab inspiziert. Sie verstehen nichts und gehen wieder nach Hause. (Johannes 20,9f). Maria kehrt zum Grab zurück und dann geht es im Evangelium so weiter:
Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du?
  Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
  Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist.
  Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.
  Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!
  Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.
  Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.
Liebe Gemeinde!
Maria sucht den Leichnam. Sie kehrt ans Grab zurück, weil ihr das leere Grab keine Ruhe lässt. Sie hängt an den sterblichen Überresten des von ihr Verehrten. Und wer will ihr das verdenken? Wir suchen ja auch die Gräber unserer Lieben auf, weil wir uns dort, wo ihr Leichnam ruht, ihnen näher und enger verbunden fühlen. Körper sind wichtig. Am Körper hängt die Identität. Körper machen uns unverwechselbar und einmalig. Wie schlimm ist es für Angehörige, wenn sie keinen Ort haben, wo sie um einen Verstorbenen trauern können! Von vielen Gefallenen der Kriege gibt es keine Grabstätte. Damit es wenigstens einen Ort der Erinnerung gibt, hängt hinten in unserer Kirche eine Tafel mit ihren Namen. Bis heute, 68 Jahre nach Kriegsende, stehen dort oft Blumen in Erinnerung an die Gefallenen. Wenigstens hier soll ihrer gedacht werden, wenn schon ihr Grab unbekannt oder tausende Kilometer entfernt ist.
Michael Ende lässt in der Unendlichen Geschichte den Helden Bastian mit einem Schiff durch ein Nebelmeer fahren. Die Nebelschiffer beeindrucken ihn, sie sind eine enge Gemeinschaft, unablässig führen sie einen gemeinsamen Tanz und ein wortloses Lied auf. Die Nebelfischer streiten nicht, weil sich keiner als einzelner fühlt. Ganz mühelos herrscht Harmonie zwischen ihnen. Wie problematisch diese Harmonie ist, merkt Bastian erst, als eine Nebelkrähe einen der Nebelschiffer packt und davonträgt. Zwar erschrecken die Nebelfischer kurz, doch sobald der Vogel mit seiner Beute verschwunden ist, beginnen sie wieder ihren Tanz. Weil sie alle gleich sind, vermissen sie den Geraubten nicht. Bei den Nebelschiffern gibt es keine Individualität, es gibt keine Klage, es gibt keinen Ort der Trauer. Niemand erinnert sich.
(Michael Ende, Die unendliche Geschichte, München 1987, 428)
Erinnerungsorte sind wichtig, Gräber und Leichname sind wichtig. Unsere Toten sind Individuen, mit ihrer je eigenen Lebensgeschichte. Wie gut, dass wir uns der Toten erinnern! Maria sucht den Leichnam. Verzweifelt steht sie vor dem Grab und weint. Weinend schaut sie in das Grab und sieht zwei Engel, einen am Kopfende, einen am Fußende der inzwischen verschwundenen Leiche. Engel – das sind Signale der Transzendenz in der Immanenz. Engel ‑ das sind Formen der Gegenwart Gottes. Engel haben keine Substanz, sie sind Zeichen, Signale, Hinweise auf jene andere Wirklichkeit, die der sichtbaren Wirklichkeit zu Grunde liegt. Doch Maria versteht diese Hinweise nicht. Maria sucht weiter den Leichnam: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Maria sieht nur die Lücke, ihre Augen richtet sie auf das Fehlende. Das Leuchten der Engel, die göttliche Gegenwart am Ort des Todes übersieht sie. Maria sucht weiter den Leichnam.
Wie oft sehen wir nur die Lücke, wie häufig haben wir Augen nur für das Fehlende, merken nur was misslingt. Wer wirklich einen lieben Menschen verloren hat, wird lange brauchen, bis der Blick wieder frei wird das Leben wahrzunehmen. Das ist verständlich und wer trauert hat jedes Recht die entstandene Lücke zu beklagen. Aber oft haben ja auch jene, die nicht wirklich etwas verloren haben, den Blick nur auf das Fehlende und den Mangel gerichtet. Manchem verschließt die Depression den Blick aufs Leben, dann muss ihm ärztlich geholfen werden. Mancher aber ist weder depressiv noch trauernd. Mancher richtet sich einfach ein in seiner negativen Weltsicht. Wer nichts erwartet, wird nicht enttäuscht. Wer immer mit dem Schlimmsten rechnet, kann im Fall, dass es eintritt, wenigstens darauf verweisen, dass er es immer schon gewusst hat. Pessimismus und zynischer Skeptizismus sind höchst bequeme Lebenshaltungen. Aber der Heilige Geist ist kein Skeptiker – oder wie Martin Luther an Erasmus von Rotterdam schreibt: „Spiritus sanctus non est Scepticus“. (de servo arbitrio, WA 18;605). Und weil der Heilige Geist und weil Gott kein Zyniker und kein Skeptiker ist, geht die Geschichte mit Maria weiter.
Nachdem die zwei Engel keinen Erfolg haben, Maria von der Suche nach dem Leichnam abzubringen, sucht die Transzendenz nach anderen Mitteln mit ihrer Botschaft zu landen. Maria wendet sich ab vom Grab und sieht einen Gärtner. Das könnte nun reiner Zufall sein, weil Gräber damals eben in Gartenanlagen waren und weil einem auch heute auf Friedhöfen Gärtner begegnen. Aber beim Evangelisten Johannes geschieht selten etwas Zufälliges, zumal wenn es um eine Gottesbegegnung geht. Der Verdacht liegt nahe, dass im Gärtner der Gärtnergott aus Genesis 2 auftaucht, der den Garten Eden pflanzt. Der Gärtnergott bringt das Leben in die Welt, er haucht dem Tonklumpen in Menschengestalt das Leben ein und nennt ihn bei seinem Namen. Ein Gärtner am Ort des Todes – das ist ein starkes Signal für das Leben. Doch Maria nimmt das Signal nicht wahr. Sie sucht weiter nach dem Leichnam: Frau, was weinst du? wird Maria von der Gärtnergestalt gefragt. „Herr“, sagt Maria, „hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.“
Maria sucht weiter den Leichnam und jetzt wird die Suche fast kurios: Maria unterstellt, der Gärtner habe den Leichnam versteckt. Sie will gehen und ihn herholen. Man stelle sich vor, es wäre geschehen, was Maria plant: Sie allein schleppt und zerrt die Leiche aus dem Versteck. Und wo bringt sie sie dann hin? Man merkt: Der Evangelist Johannes spitzt die Erzählung auf ihren Wendepunkt hin zu. So kann es nicht weitergehen. Und so geht es nicht weiter.
Der vermeintliche Gärtner spricht Maria an. Er sagt ihren Namen und das ändert alles: „Maria“. Das eine Wort genügt. Maria erkennt den Auferstandenen. Sie wendet sich ihm zu und auch ihr genügt ein Wort: „Rabbuni“ – mein Meister. Die Suche nach dem Leichnam hat ein Ende. Der Bann des Todes ist gebrochen. Ihre Blindheit für alle Zeichen der Gegenwart Gottes ist weg. Maria sieht und erkennt den Auferstandenen. Sie vollzieht die Wende vom Tod zum Leben. Wie der Gärtnergott in Eden einst Adam den Lebensatem eingehaucht hat, so haucht nun am Todesort der Gärtnergott Maria das Leben neu ein, indem er sie bei ihrem Namen ruft. Maria – so will es der Evangelist Johannes – ist die erste Kreatur der Neuschöpfung Gottes. Maria, die bis zum bitteren Tod mit Jesus ausgeharrt hat, ist die erste, die sein neues Leben wahrnimmt und mit ihm ein neues Leben beginnt.
Eine kleine Krise kommt allerdings noch: Maria versucht Jesus anzufassen, doch der wehrt ab: „Fass mich nicht an!“ „Halte mich nicht fest!“ Noch einmal ist Maria auf der Suche nach dem Leichnam und seiner körperlichen Existenz. Diese körperliche Existenz meint sie im Auferstandenen wieder zu haben. Doch so ist es nicht. Der Auferstandene ist nicht in den Körper des Verstorbenen zurückgekehrt. Das – so bitter es ist – muss Maria begreifen. Sie bekommt Jesus nicht so wieder wie er vor der Kreuzigung war. Die Gegenwart des Auferstandenen ist etwas anderes, sie ist Neuschöpfung, neue Kreatur. Der Auferstandene gehört zur Welt Gottes, zu jener Sphäre, die unserer Wirklichkeit zu Grunde liegt. Maria lernt, dass es mit Ostern auf den Körper Jesu nicht mehr ankommt. Sie muss den Leichnam nicht mehr suchen, weil die lebendige Gegenwart des Auferstandenen etwas Neues geschaffen hat. Ob das Grab voll ist oder leer, interessiert angesichts der Gegenwart des Auferstandenen nicht mehr. Der Evangelist Johannes geht mit dem leeren Grab so um, dass unerheblich wird, ob der Legende ein historischer Kern zu Grunde liegt oder nicht. Der Auferstehungsglaube ist vom leeren Grab unabhängig.
Maria ist für den Evangelisten Johannes die erste Auferstehungszeugin – und nicht Petrus, wie es der Apostel Petrus und das Lukasevangelium überliefern. Ganz betont arbeitet Johannes das heraus. Maria wird von ihm bewusst als Antitypus zu Petrus gezeichnet. Petrus erfährt durch Maria von der Auferstehung. Vor Petrus begreift Maria auch, dass Jesus zur göttlichen Sphäre gehört und dass sie ihn nicht im Irdischen festhalten darf. Erst viel später, am See Genezareth, geht auch Petrus ein Licht auf. (Vgl. Joh 21,15-19, vgl. auch Joh 13,36-38, Joh 18,10). Maria ist für Johannes die erste Auferstehungszeugin. Der Kirchenvater Hippolyt von Rom nennt sie daher apostola apostolorum – die Apostelin der Apostel.
Gott ist kein Skeptiker. Gott ist ein Gärtner, der die Erde mit Leben erfüllt und dem unbelebten Tonklumpen den Lebensatem einhaucht. Auch den grausam am Kreuz zu Tode Gefolterten lässt Gott nicht im Stich. Mit Jesu Auferweckung widerspricht Gott jenen, die meinten, Gottes Gesandten vernichten zu können. Doch gerade am Ort der Vernichtung, gerade am Ort des Todes schafft Gott neues Leben. Statt des toten Leichnams findet Maria den lebendigen Jesus, der zu Gott auffährt und mit seinem Geist nun überall in der Welt wirkt. Wo seine Gegner meinten Jesus ein Ende gesetzt zu haben, setzt Gott den Anfang. Jesu Wort, Jesu Tat, Jesu Geist gelten nun universal. Überall, wo aus dem Tod Leben entsteht, überall, wo Skepsis überwunden wird, überall, wo Traurige wie Maria neuen Mut schöpfen, ist Gottes Geist am Werk. Gott ist kein Skeptiker. Gott ist ein Gärtner. Er schafft neues Leben. ‑ Halleluja!
 
(Anregungen verdanke ich der Predigtmeditation von Michael Gese in: Für Arbeit und Besinnung. Zeitschrift für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, 5/2013, sowie dem Kommentar von Christian Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes, Zürich 2001)