Innehalten - Predigt zu Lukas 2,1–20 von Jan Hermelink
2,1-20

Innehalten - Predigt zu Lukas 2,1–20 von Jan Hermelink

„Innehalten“

Lesungen: Jes 9, 1–6; Luk 2, 1–20

Lied vor der Predigt: EG 37, 1–4 [Ich steh an deiner Krippen hier]

Liebe Gemeinde,

eine große Kraft geht von dieser Geschichte aus,
die wir gerade wieder gehört haben.
Jedes Wort ist uns vertraut,
jeder Satz weckt Erinnerungen –
Szenen aus ganz anderen Zeiten steigen auf,
Töne und Bilder, Gerüche, Hoffnungsfetzen.[1]

Mit dieser Geschichte werden wir zurück versetzt –
in frühere Jahre, in die Räume der Kindheit,
zu Menschen, die längst nicht mehr da sind.

Diese Geschichte bringt uns zur Besinnung,
sie konzentriert uns; sie strahlt Ruhe aus.

Eigentlich ist das erstaunlich – denn diese Geschichte,
die Geschichte von der Geburt Jesu, wie sie der Evangelist Lukas erzählt,
sie ist ja eine Geschichte voller Unruhe, voller Bewegung,
mitunter freiwillig, oft auch unfreiwillig.

Das Gebot des Kaisers Augustus, der Erlass zur allgemeinen, weltweiten Steuerschätzung setzt „jedermann“ in Bewegung –
ich habe mir das immer wie eine Art Völkerwanderung vorgestellt:
ein gewaltiges Hin und Her auf den Fernstraßen,
alle Gefährte überfüllt, alle Gasthöfe ausgebucht.
Und mittendrin ein junges Paar, die Frau hochschwanger,
der Mann besorgt und verwirrt.

Auch in der nächsten Szene ist viel Bewegung:
der Engel, der urplötzlich bei den Hirten steht,
die himmlischen Geschwader, die herabkommen und wieder hinauffahren „gen Himmel“.

Und dann die Hirten selbst – „eilends“ brechen sie auf,
nach kurzer Beratung,
sie suchen und finden das Kind – und laufen alsbald wieder los,
werden zu Botschaftern der großen Freude – die ersten Evangelisten,
enorm ruhelos wie alle ihre Nachfolger.

Und dennoch, trotz aller Unruhe,
trotz des großen Aufgebots an Menschen und Engeln,
trotz gewaltiger Worte – „Heiland“, „Christus, der Herr“,
Frieden „in der Stadt Davids“ und „auf der ganzen Erde“ –
dennoch wird diese Geschichte – bis heute – zum Ruhepunkt.

Ich stelle mir vor, dass Sie jedenfalls auch deswegen heute hier sind,
in diesem Gottesdienst am Heiligen Abend:
um Ruhe zu finden – nach all den Tagen , die viel zu kurz sind
für die vielen Pläne und Erledigungen,
nach all’ der Organisation, wer wohin fährt und wer mit wem kommt
(oder nicht kommt).

Gewiss, es gab und gibt – das wünsche ich Ihnen jedenfalls –
auch andere Ruhepunkte,
Erfahrungen von Stille in dieser Vorweihnachtszeit:
Andachten, gemeinsame Feiern mit Freunden und Kollegen,
unerwarteter Besuch, oder ein lang geplantes Wiedersehen.

Aber heute, hier in der Kirche,
müssen Sie – müssen wir – nichts organisieren:
kein Essensvorbereitungen, keine Geschenke, kein Programm.
Der Baum ist geschmückt; die Lieder sind (einigermaßen) vertraut –
und erst recht diese Geschichte:
Sie ist uns vorgegeben, sie ist immer schon da –
wir hören sie, und es kann still werden.

Wo kommt diese Geschichte eigentlich selbst zur Ruhe,
habe ich mich gefragt; wo kommen die Bewegungen –
für einen Moment jedenfalls – zum Stillstand?[2]

„Und als sie dort waren“, in Bethlehem, „da kam die Zeit ihres Gebärens,
und sie gebar ihren Sohn, den ersten,
und sie wickelte ihn und legte ihn in eine Krippe –
denn sie hatten sonst keinen Ort in der Herberge.“

Nach der langen Reise, in aller Unruhe kommen die Wehen –
und mit einer großen, schmerzhaften Anstrengung wird das Kind geboren; das erste für Maria. Sie umsorgt und bettet es, so gut das geht –
und dann ist es – in der Geschichte jedenfalls – für einen Moment still.

Und einige Zeit später ist dies noch einmal der gleiche Ruhepunkt:
das Kind in der Krippe.
Die Hirten brechen auf, suchen nach dem angekündigten Zeichen, fragen sich durch, eilen sich – und „sie fanden beide, Maria und Josef, dazu“ –
wie nebenbei hört sich das an – „das Kind, in der Krippe liegend“.

Nur ein kurzer Moment ist das, bevor die Hirten aufgeregt erzählen,
was sie draußen, in der Nacht gehört haben,
und bevor sie – wiederum eilend (so scheint es mir) – wieder aufbrechen.

Nur Maria bleibt an der Krippe; sie wendet die Worte hin und her,
wie sie ihr weitergesagt wurden, wie sie sie selbst gehört hat.

„Ich steh’ an deiner Krippe hier“ – das ist der einzige Moment der Ruhe,
ein kurzer Augenblick des Friedens –
bevor das Kind zu schreien beginnt,
bevor sich die Stimmen überschlagen, aufgeregt und voller Freude,
bevor die Verheißungen zitiert werden –

„denn es ist uns ein Kind geboren, und ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht (ruht!) auf seiner Schulter“ (Jes 9,5).

Eine kurze Zeit des Friedens, ein knappes Innehalten
mitten im Durcheinander von Menschen und Engeln.
Selbst dem Evangelisten fällt es offenbar schwer,
diesen Moment zu würdigen.

Wie schwierig ist es, an der Krippe innezuhalten,
sich zu besinnen angesichts dieses Kindes –
so ganz alltäglich, so ganz besonders.

Wie zerbrechlich sind diese Momente des Friedens,
wie sehr ist die Ruhe bedroht –
durch Gebote von oben und Verbote von innen,
durch die Angst vor dem Morgen – oder durch die Erinnerung an das,
was man doch alles versäumt hat.

Je mehr mich diese Geschichte zur Ruhe bringt,
desto mehr spüre ich meine eigene Unruhe,
meine Sorge, auch meine Müdigkeit nach vielen Wochen des Semesters:
mit immer kürzeren Tagen, immer drängenderen Terminen.

Versuche auch ich, stehen zu bleiben vor der Krippe,
versuche ich die Erzählung des Lukas genau zu hören, nachzuspüren –
dann kommen alsbald die Einwände,
ja sie stürzen auf mich ein:

Wo ist denn der Frieden, den dieses Kind bringen sollte?
Wo ist die Erlösung, die mit Christus beginnen sollte –
für das Volk Davids, das – bis heute – immer neu im Finstern wandelt,
und für alle Völker, die sich ebenso sehnen nach Gerechtigkeit und Frieden?

Ich merke, angesichts der großen Worte,
die dieses Kind umgeben wie einen Strahlenkranz:
Gegenüber solchen großen Worten bin ich misstrauisch geworden:
„Arabischer Frühling“ – „Orangene Revolution“ –
ein Neuanfang in Brüssel, in Berlin
oder zwischen Washington und Havanna –
ich kann das alles nicht mehr so recht glauben.

Zu verschlissen scheinen die großen Ankündigungen;
zu rasch ist die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden wieder zerstoben,
immer und immer wieder.

Und dieses Misstrauen, dieses Gefühl einer tiefen Erschöpfung,
durchzieht ja auch das persönliche Leben,
ebenso unfassbar wie allgegenwärtig,
und besonders vielleicht in diesen Wochen.

Wo immer etwas geschafft ist, allein oder mit anderen zusammen,
wo immer sich Konflikte – wenn nicht zu lösen, doch – zu entspannen scheinen, wo eine gemeinsame Basis (wieder) sichtbar wird –

da bleibe ich dennoch immer mehr misstrauisch
gegenüber der nächsten Wendung,
ängstlich vor dem nächsten falschen, unbedachten Wort,
auf der Hut vor einer Kränkung, die niemand wollte – und die doch da ist.

Es gibt kurze Momente der Ruhe inmitten allen Durcheinanders;
für eine Weile, für Stunden oder Tage herrscht Frieden.
Aber „Friede auf Erden“? Lauter Jubel? Grenzenloses Vertrauen?

Noch einmal höre ich auf die Weihnachtsgeschichte.
Der Moment der Ruhe nach der Geburt,
das konzentrierte Innehalten an der Krippe,
erwartungsvoll, gespannt.

Es sind unscheinbare, rasch verflogene Momente –
und doch sind sie voller Erinnerung – und voller Hoffnung.

Die kleine Stadt Bethlehem – aber aus ihr, so steht es geschrieben,
aus ihr soll der Fürst, der große Hirte Israels kommen.
Das Haus Davids – verblasste, verlorene Herrlichkeit,
und doch glänzt dieser Name bis heute: kraftvoll, verheißungsvoll.
Und schließlich, aber nicht zuletzt: Die Geburt des Gesalbten, des Christus, des Messias – am Rande zwar, mitten im Gedränge –
und doch ein großes Hoffnungszeichen, lange ersehnt:
so wie jede Geburt ein Zeichen der Hoffnung ist,
ein Moment des Neubeginns.

Dieser Augenblick, an der Krippe, vor dem Kind –
er führt zurück in die Anfänge;
er konzentriert unendlich viel Erwartung –
und er öffnet den Blick für das Kommende.

„Frieden auf Erden“ – das ist dann keine unwirkliche Behauptung,
auch kein leeres Versprechen –
sondern das ist ein einziger, ein verheißungsvoller Moment,
ein Augenblick der Konzentration, der uns das Neue sehen lässt.

So einen Moment haben wir, so denke ich, vor wenigen Tagen erlebt:
das Ende der Eiszeit zwischen Kuba und den USA,
den Moment, als die jahrzehntelange Erstarrung sich löste,
als das große, das gewaltsame Schweigen plötzlich gebrochen wurde.

Man kann angesichts dieser Wendung vorsichtig sein, auch misstrauisch,
vielleicht mit guten Gründen –
oder man lässt sich anstecken von der großen Freude,
von der Erleichterung nach so langer Zeit, die man aus Havanna hörte.
In diesen Tagen geschieht etwas Neues – 
und im Licht der Weihnachtsgeschichte ist dieser Moment,
diese kleine große Wendung ein Zeichen der Hoffnung.

Auf der Suche nach solchen Momenten der Hoffnung,
nach Erfahrungen einer verheißungsvollen Ruhe können wir nun
noch einmal zurückblicken auf die vergangenen Wochen und Monate,
auf den langen Herbst, auf das Wintersemester.

Auch da hat es – für die meisten von uns, denke ich –
solche Augenblicke des Innehaltens gegeben,
solche Momente, in denen sich Erinnerung und Zukunft verbanden.

Das mag der Abschluss einer Seminararbeit oder eines ganzen Buches sein,
eine Prüfung oder die Bewilligung eines Projekts.
Ein Vertrag ist endlich abgeschlossen; eine Stelle neu eingerichtet.

An der Universität, in der Neues gelernt, und Neues erforscht werden soll,
hier sind solche Momente vielleicht besonders häufig –
Momente, in denen sich das Warten erfüllt,
und die zugleich einen Ausblick eröffnen auf künftige Einsichten,
auf neue Entwicklungen, auch künftige Karrieren.
An der Universität kann man – so gesehen – einüben, was das heißt:
„Ich steh’ an deiner Krippe hier“ –
staunend, erleichtert, erwartungsvoll.

Auch an der Universität allerdings sind solche Momente
des Innehaltens, der Erleichterung und des Ausblicks flüchtig,
auch, ja gerade hier geht es meistens rasch weiter:
die frohe Kunde wird verbreitet; die nächste Station angepeilt.    

Umso wichtiger scheint es mir, auch im Umfeld der Universität
eben diese Geschichte zu hören –
mit ihrer Unruhe, ihrem Durcheinander im Himmel und auf Erden –
und mit den Momenten einer großen Ruhe,
in der alles und alle an dem Ort sind, an den sie gehören.

Ein letzter Gedanke, etwas bescheidener vielleicht,
auch etwas handlicher:

Mir hat sich im Nachdenken über jenen weihnachtlichen Moment des Innehaltens auch der Sinn des Schenkens neu eröffnet, oder besser:
der Sinn des Beschenktwerdens.

Auch das sind – leider – oft sehr flüchtige Momente;
eingeklemmt zwischen dichten Gesprächen und dem gemeinsamen Essen, auch zwischen dem vorigen und dem nächsten Päckchen.
Und doch geschieht hier eben das,
was den Kern des Weihnachtsfestes ausmacht:
Meine diffuse, vielleicht ganz vorsichtige, skeptische Erwartung
gegenüber dem Nächsten erfüllt sich doch –
ich bekomme etwas von Dir, was ich nicht voraussehen konnte –
und damit verbindet sich ein großes Versprechen:
Zwischen uns wird es weitergehen.

Beschenktwerden – das ist ein Signal, ein Ausblick auf die Zukunft.
„Und das habt zum Zeichen“: Wir werden in Verbindung bleiben;
wir bleiben – auf die eine oder andere Weise – beieinander.

Ich wünsche Ihnen in den kommenden Stunden und Tagen
solche Momente des Beschenktwerdens,
solche Augenblicke des Innehaltens und der Verheißung.

Denn uns ist heute der Heiland geboren,
das Kind, in Windeln gewickelt, in der Krippe.
Es wartet auf uns.

Amen.
 

Lied nach der Predigt:  EG 55 [O Bethlehem, du kleine Stadt]
 

[1] Einige Formulierungen aus diesem und den folgenden Abschnitten verdanke ich der Predigtstudie von Thorsten Moos, in: PrSt 2014/15, Bd. I, Freiburg i.Br. 2014, S, 42–45.

[2] Diese Überlegung ist angestoßen durch die Predigtmeditation von Thorsten Latzel, Sieben erste Worte, in: GPM 69 (2014), S. 36f.